Rezensions-Blog 126: Die Zeitspirale

Posted August 23rd, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ja, es ist schon ein Kreuz mit der Unberechenbarkeit meiner Leseempfehlungen, ich weiß. Manch ein Freund, der den Rezensions-Blog rezipiert und konsultiert hat, machte mich schon darauf aufmerksam, dass gewisse Bücher kaum bis gar nicht mehr erhältlich sind. Dieses hier könnte vielleicht auch ein solcher Fall sein, aktuell kann ich das schwer beurteilen… nun, Online-Antiquariaten nach zu urteilen, ist „Die Zeitspirale“ wohl noch zu erschwinglichen und akzeptablen Preisen erhältlich. Lasst mich also fortfahren.

Es dauerte, wie ich unten darstellte, viele Jahre nach Erwerb, bis ich das vorlie­gende Werk lesen konnte. Aber das hat nichts mit seiner Qualität zu tun, son­dern deutlich mehr mit meiner gering ausgeprägten Fähigkeit, Lesepräferenzen festzulegen. Folglich können mich auch alte Werke in meinen Regalen noch regelmäßig überraschen. Das hier stellt eine schöne und durchaus unerwartete Überraschung dar.

Als ich mich in Vorbereitung auf diese Buchvorstellung ein wenig in den WIKIPE­DIA-Eintrag zu Cowper vertiefte, fand ich seine Vita rührend: 1926 als John Middleton Murry, Jr., geboren, Sohn eines britischen Philosophen, besuchte er eine Reformschule und schlug später selbst den Lehrerberuf ein. 1968 im Ruhe­stand begann er damit, Geschichten zu veröffentlichen, zumeist phantastischer Natur unter dem Pseudonym „Richard Cowper“. Ab 1986 wandte er sich von der Schriftstellerei dann ab und der Malerei und der Restaurierung von Antiqui­täten zu.

Als schließlich 2002 seine geliebte Frau starb, folgte er ihr vier Wochen später ins Grab, nach Aussage seiner Töchter starb er „an gebrochenem Herzen“… ich glaube, ihr solltet euch wirklich seine Geschichten, die in dem unten vorgestell­ten Band zu finden sind, besonders unter diesem Blickwinkel anschauen. Auch ich finde, wie es in seinem Nachruf in ALIEN CONTACT heißt, dass Cowper – bleiben wir bei dem Pseudonymnamen – die Menschen und ihre Schicksale zentral wichtig waren. Ich möchte ebenfalls bekräftigen, dass er interessante, ungewöhnliche Perspektiven in die Phantastik einbrachte. Und sein starkes In­teresse an Geschichte und gewissermaßen archaischen Schauplätzen und abge­schiedenen, klösterlichen Idyllen lässt sich ebenfalls nicht kleinreden, das findet man in der unten stehenden Storysammlung an mehreren Stellen. Wie ich betone: es ist ein sehr interessantes Buch, und auch der Autor selbst lohnt defi­nitiv eine Neuentdeckung.

Also, überzeugt euch selbst und lest weiter.

Die Zeitspirale

(OT: The Custodians)

von Richard Cowper

Goldmann Science Fiction 0244

München ca. 1976

160 Seiten, TB

Keine ISBN, nur noch antiquarisch zu erhalten

Aus dem Englischen von Tony Westermayr

Wenn ich ein rund 40 Jahre altes Buch bespreche, bedarf das selbst in Phantas­tenkreisen wie den unsrigen wohl einer Erklärung. Die kann ich relativ leicht ge­ben: das Buch stand bei mir seit dem 8. September 1991, als ich es auf dem Gif­horner Flohmarkt erstand, im Bücherregal, war aber rund zwanzig Jahre meinen Blicken entzogen, weil es sich in Gifhorn befand, ich selbst hingegen in Braun­schweig lebte. Dann wanderte es ungelesen hier in meine vier Wände und reiz­te mich von da ab tagtäglich dazu, es irgendwann einmal zu lesen.

Der Zeitpunkt war gekommen, als es mich direkt nach dem Tod meiner lieben Mutter am 5. Mai 2015 danach gelüstete, für die Fahrten nach Gifhorn Kurzge­schichtenlesestoff haben zu wollen, der zudem schon lange auf mein neugieri­ges Auge wartete. Diese Storysammlung enttäuschte meine Erwartungen nicht, ließen doch der Titel und der Klappentext auf Zeitreisegeschichten schließen. Durchaus mit Recht.

Der vorliegende Band enthält lediglich vier Geschichten sehr unterschiedlicher Länge. Die Titelstory „Zeitspirale“ (The Hertford Manuscript) ist in der Tat eine Zeitreisestory. Der Erzähler dieser Geschichte erbt von seiner Großtante Victoria ein altes Buch, das nach einem Begleitschreiben der Verstorbenen aus einem Posten von Kirchenregistern stammt, das seit über 130 Jahren unberührt ge­blieben sein soll… dummerweise enthält der Einband ein anderes Manuskript, das auf Papier geschrieben ist, das unleugbar aus dem 19. Jahrhundert stammt. Und es datiert auf das Jahr 1665. Noch verheerender – Großtante Victoria hat den Namen des Verfassers früher schon einmal erwähnt: Dr. Robert Pensley, be­freundet sowohl mit ihr als auch mit einem Schriftsteller namens Herbert Geor­ge Wells. Ein Mann, der eines Tages einfach so „verschwand“.

Wer also Wells´ Roman „Die Zeitmaschine“ gelesen hat und wissen möchte, wie sie weiterging, der sollte sich dieser Story zuwenden…

Endzeit-Propheten“ (The Custodians) ist die ursprüngliche Titelgeschichte der Storysammlung und, meiner Ansicht nach, die würdigere. Es ist in gewisser Wei­se eine biografische Spurensuche: Als im September des Jahres 1272 ein einsa­mer Wanderer an die Pforte eines abgelegenen französischen Klosters im Tale des Ix pocht und sich mit „Meister Sternwärts – Seher“ in das Besucherbuch einträgt, ahnt niemand, dass er damit Geschichte schreibt.

Siebenhundert Jahre später verfolgt ein traumatisierter englischer Geistes­wissenschaftler namens Marcus Spindrift den Fährten, die der rätselhafte Meis­ter Sternwärts hinterlassen hat. Sie enden in diesem Kloster, und Spindrift hat eigentlich im Mai 1923 vor, nur ein Weilchen hier zu bleiben. Aber das ist, ehe er das geheime Manuskript des Sternwärts zu sehen bekommt, die „Praemoni­tiones“. Diese Kenntnis, besonders aber der von Sternwärts geschaffene „Ocu­lus“, verändern seinen  Blick vollständig. Denn dieser Ort zeigt auserwählten Individuen einen Blick in die Zukunft, und wer ihn getan hat, vergisst ihn niemals – dummerweise ist das nur die hal­be Geschichte. Denn dann kündigt sich im Sommer 1981 auch noch ein M. S. Harland an, gleichfalls auf den Spuren des Meisters Sternwärts. Und dieser Be­such besiegelt… aber nein, das muss man selbst lesen.

Die moderne Technik ermöglicht die eigenartigsten Dinge, und weshalb soll das nicht in der Kunst ebenso sein? So ist es, dass in der Story „Anamorphose“ (Paradise Beach) ein genialer Künstler namens Igor Ketskoff eine neue Form von Videoinstallation erschafft, die direkt mit dem Bewusstsein des jeweiligen Betrachters interagiert. Und da Hugo Sherwood Bankier und geldbewusster Mensch ist, der weiß, dass moderne Kunst auch langfristige Geldanlage dar­stellt, ist er einer der ersten, der sich solch ein Anamorphose-Bildnis an die Wand hängt. Seine Frau Zephyr findet dieses Ding zunächst eigenartig, wenn­gleich auch sie sich dem Reiz nicht ganz entziehen kann. Immerhin wirkt es ganz so, als handele es sich um eine Art von Fenster auf einen tropischen Strand.

Ihre Freundin Margot Brierly ist davon nicht minder fasziniert. Aber sehr viel mehr Kopfzerbrechen bereiten ihr Zephs außereheliche Eskapaden, denn sie leistet sich einen Liebhaber nach dem nächsten und stößt damit ihren geschäf­tigen Gatten regelmäßig vor den Kopf. Hugo scheint das nicht zu bekümmern… aber dann geschehen seltsame Dinge: in seinem Bett findet Zeph weißen, tropi­schen Sand. Im Büro trockene Reste von etwas, das fatal nach Seetang aussieht. Und schließlich verriegelt ihr Mann den Raum, in dem das Anamorphose-Bild steht, was er noch nie getan hat. Ganz so, als wenn… ja, als wenn ihn damit ein ganz privates Geheimnis verbinde. Zephyr wird unweigerlich sowohl nervös als auch neugierig. Und dann…

Lange nach dem Untergang der ursprünglichen menschlichen Zivilisation, knapp vor dem Jahr 3000 nach Christus, spielt die letzte Story, „Morgendämmerung“ (Piper at the Gates of Dawn) betitelt. Es ist die Geschichte des jungen Tom und seines Mentors, dem Geschichtenerzähler Peter, der durch die in ein feudales Zeitalter zurückgefallenen Ländereien Englands rings um York reist und damit sein Geld verdient. Tom indes, ausgebildet von dem verstorbenen Morfedd, sei­nes Zeichens angeblich ein Zauberer und Meister esoterischen Wissens, besitzt die wunderliche Gabe, mit seiner Flöte die Geister der Menschen zu verwan­deln, Tiere zu besänftigen und Illusionen zu erschaffen. Und er soll in York eine kirchliche Laufbahn einschlagen.

Als der alte Peter dank Toms Spielkunst von einem Erfolgserlebnis zum nächs­ten reist, möchte er den talentierten Jungen nicht ziehen lassen, auch dann nicht, als er vom „Weißen Vogel“ zu erzählen beginnt. Angeblich habe er dem verstorbenen Morfedd versprochen, zu Weihnachten in York zu sein. Und die Bewegung des „Weißen Vogels“ wächst mehr und mehr zu einer menschlichen Lawine an, auf ein Wunder wartend, selbst wenn es vielleicht – der Legende zu­folge – ein entsetzliches werden wird…

Richard Cowper, heutzutage beinahe vergessen, schrieb diese Geschichten vor rund vierzig Jahren, aber selbst damals prognostizierte er bereits solche Dinge wie Nuklearkriege und Klimakatastrophen. Insofern wäre es durchaus nützlich, sich an seine Geschichten aktuell zu entsinnen. Manche seiner Ideen sind über­raschend frisch, gemessen an ihrem Alter. Ein wenig erinnerte er mich deshalb an den gleichfalls lange verstorbenen Philip K. Dick, dessen Geschichten auch erst lange nach seinem Ableben ihre wahre Wirkung zu zeigen begonnen haben, nicht zuletzt als Basis von Verfilmungen.

Sicherlich – Cowpers Stories eignen sich eher nicht für diese Form der Adapti­on, aber sie sind auf beeindruckende Weise in sich schlüssig und gut lesbar. Be­sonders dort, wo sie sich auf quasi-historische Weise in reale historische Kon­texte einfügen, beweist der Autor außerordentliches Geschick. Ein Leser, der Werke nicht nur nach ihrem Erscheinungsdatum beurteilt, sondern auch mal zu dem einen oder anderen älteren Werk greifen will, um sich von raffiniertem Stil und bittersüßer Melancholie einfangen zu lassen, die hier überall fühlbar ist, der dürfte mit dieser Storysammlung ganz richtig liegen.

Klare Leseempfehlung.

© 2015 by Uwe Lammers

So, und in der kommenden Woche bleiben wir zwar in der Chronologie der Er­scheinungsfolge von Clive Cussler-Romanen, aber zugleich lernt ihr ein Paar von neuen Protagonisten in seiner Welt der NUMA kennen. Und macht eine Stippvi­site auf einem legendären versunkenen Schiff – das lohnt sich, versprochen!

Bis nächste Woche, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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