Rezensions-Blog 128: Die Seele des Mörders

Posted September 6th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

also, schnallt euch besser an, wenn ihr die unten stehende Rezension lest, die ich vor fast 15 Jahren geschrieben habe… heute geht es um ziemlich harten Stoff, den ich aber nach wie vor für sehr wichtig und unbedingt lesenswert hal­te. Vermutlich wird mir jeder Krimischriftsteller, der das Buch als Berufslektüre kennen dürfte, darin beipflichten. Vielleicht nicht in meinen individuellen Wer­tungen – ich gehe durchaus nicht mit allem konform, was der Verfasser schreibt. Aber in vielerlei Hinsicht konzediere ich, dass er auf dem richtigen Weg ist.

Vermutlich gibt es bei dem vorliegenden gesamtgesellschaftlichen Problem kei­ne Art von Patentlösung. Es werden immer Verluste bleiben, Ungerechtigkeiten womöglich, Opfer ganz sicher. Aber die hier gemachten Vorschläge zur Präventi­on, um eine bessere Zukunft zu ermöglichen, scheinen mir doch wenigstens be­denkenswert.

Folgt mir also, wenn ihr den Mut dazu habt, in die Lektüre eines schaurigen Sachbuches aus dem Bereich der Kriminalistik der Gegenwart:

Die Seele des Mörders

von John Douglas & Mark Olshaker

Orbis-Verlag 2002

452 Seiten, geb.

(Ohne Übersetzerangabe)

Antiquariatspreis: 5.00 Euro

Was muss das für ein Mensch sein, der so etwas tut?

Gibt es ein Kriminalitäts-Gen?

Sieht man Personen an, ob sie Verbrecher sind?

Wie kann man Serienmorde rechtzeitig verhindern?

Das sind Fragen, die in Medien und in der Öffentlichkeit oftmals diskutiert wer­den, wenn es darum geht, im Kielwasser spektakulärer Mordfälle die aufge­brachte Bevölkerung wieder in Sicherheit zu wiegen, zu besänftigen. Denn so bitter das auch sein mag – wo Menschen leben, kommt es beinahe unwillkür­lich zu Morden, und manche von ihnen haben ein dermaßen grausiges Gesicht, dass die meisten Zeitgenossen lieber nicht die Details hören wollen. Und dann doch.

Es gibt eine Ambivalenz in den Seelen vieler „Davongekommener“, eine Art von wohligem Grusel, so schrecklich es klingen mag. Und neben der Erleichterung, den Mörder dingfest gemacht zu haben, ist die Emotion, nicht selbst betroffen gewesen zu sein und gewissermaßen „ohne Gefahr“ Einzelheiten der grausigen Tat erfahren zu können, nie zu unterschätzen. Menschen, die solcherart struktu­riert sind, werden dieses Buch zweifellos genießen können.

Es gibt aber auch noch jene anderen Personen, die das Gegenteil empfinden: eine Art von heiliger Mission, zu verstehen, zu begreifen und künftige Verbre­chen zu verhindern. Dies sind Polizisten, Psychologen, Mediziner und Analytiker, die weltweit in Polizeitrainingseinheiten tätig sind und beispielsweise mit dem amerikanischen FBI zusammenarbeiten oder Teil davon sind.

John Douglas ist 25 Jahre lang FBI-Beamter gewesen und maßgeblich daran be­teiligt, die moderne Verbrechensbekämpfung, die man heute Profiling nennt, in den Vereinigten Staaten zu etablieren. Er erzählt in diesem Buch seine Lebens­geschichte und davon, wie er eigentlich zum FBI kam und dazu, den wohl furchterregendsten Job dieser Welt zu ergreifen. Niemand wird zum Profiler ge­boren.

John Douglas stammt aus Brooklyn, New York. Er wächst als Sohn eines einfa­chen Druckers auf und sein Ziel besteht eigentlich darin, Tierarzt zu werden. Aber im Grunde genommen ist der nicht untalentierte Douglas eher etwas ziel­los. Das zeigt sich auch in seiner Jugend- und Collegezeit. Überall ist er eher mit­telmäßig. Aber er hat ein Talent zum Erzählen von Geschichten, er ist sportlich.

Letztgenanntes Talent führt ihn zu Jobs als Türsteher bei Clubs und schließlich in die Air Force. Hier bringt ihn sein intuitives Geschick, Menschen zu erkennen, in die Personalprüfstelle der Army. Das Ziel des Tierarztes rückt weiter weg denn je, und er empfindet es bald als sehr faszinierend, mit Menschen umzugehen, ihnen zu helfen… und ehe er sich versieht, findet er einen krisenfesten Job, der ihn aus Vietnam fernhält und seinen Neigungen entspricht – beim FBI.

Jedenfalls denkt er das.

Doch das FBI steht Anfang der 70er Jahre noch immer unter dem erdrückenden Schatten von J. Edgar Hoover, die mentale Entwicklung der Gesetzeshüter ist in den 30er Jahren steckengeblieben, und die Zahl der Straftaten im ganzen Land steigt scheinbar unaufhaltsam. John Douglas merkt auch bald, woran das liegt, aber jahrelang ist er fast unfähig, etwas daran zu ändern.

Man versteht den „Feind“ nicht.

Die FBI-Beamten setzen auf die altbewährten Strategien, die Bevölkerung denkt sich, sie können den Bundesbeamten alles überlassen und sich behaglich zu­rücklehnen. Doch das ist falsch. Denn der „Feind“ entwickelt sich weiter.

Douglas stellt in seinem Buch anhand seiner eigenen Karriere die Veränderun­gen im Verhalten der Polizeibehörden gegenüber kriminellen Tätern dar und er­läutert den wohl folgenreichsten Schritt, der dabei je getan wurde: während er mit seiner Einheit auf Reisen durch die Staaten ist und den Dienststellen moder­ne Verhaltenswissenschaften näherbringt, schlägt er vor, doch dabei nicht nur die Fälle wiederzukäuen, die erfolgreich beendet worden sind, sondern auch die Täter in den Gefängnissen zu besuchen.

Oberflächlich betrachtet scheinen es normale Menschen zu sein. Harmlose, manchmal freundliche, friedfertige Personen, doch sie sitzen ein, weil sie Ange­hörige und Fremde entführt, gefoltert und ermordet, sie verstümmelt oder zer­stückelt oder verzehrt haben. Sie sind Ritualmörder, Serienkiller, Massenver­gewaltiger ohne Gewissen, für manch einen die Ausgeburt der Hölle schlecht­hin.

Und auch John Douglas fragt sich: Was sind das für Menschen, die solche Taten begehen? Wie sind sie dazu fähig? Was denken sie sich dabei?

Dies sind Fragen, die die FBI-Beamten bislang allenfalls am Rande interessiert haben, es sind Fragen, die von ihnen kaum beachtet werden. Ein weitgehendes, fast arrogant zu nennendes Desinteresse an den Verbrechern herrscht vor, das letzten Endes auch die Gesellschaft selbst bedroht. John Douglas und seine Männer beginnen aber rasch zu verstehen, dass sie es hier mit einer lebens­wichtigen Frage zu tun haben.

Wer die Mörder nicht versteht, wer nicht imstande ist, in sie hineinzuschlüpfen und mit ihrem Verstand zu denken, der wird sie weder verstehen, noch wird er zukünftige Verbrechen verhindern können.

Denn die Mörder lernen.

Wenn jemand, um nur ein Beispiel zu nennen, seinen ersten Mord aus Affekt – etwa in einem Nationalpark – begeht und ungestraft davonkommt, mag ihn das anfangs niederdrücken. Bald aber wird er daraus Befriedigung ziehen, der de­struktive Trieb wird immer stärker die Oberhand gewinnen, und er zieht erneut aus, um zu morden. Bleibt er auch beim zweiten und dritten Mal „siegreich“, dann lernt er ständig dazu. Mörder perfektionieren ihre tödliche Begabung. Und es wird immer schwieriger, sie aufzuhalten. Zugleich schreitet die Deforma­tion ihrer Persönlichkeit unaufhaltsam fort.

Intelligente Mörder lesen Zeitung. Sie sehen sich Kriminalsendungen im Fernse­hen an, hören Radio, sie halten sich auf dem Laufenden über die Ermittlungen der Beamten. Manchmal sind sie so dreist und bieten den Polizisten ihre Mithil­fe an. Etwas, womit die altgedienten FBI-Männer nie im Leben gerechnet hät­ten. Was muss etwa im Kopf eines Mörders vorgehen, der mit frischen Leichen im Wagen auf dem Highway von der Polizei angehalten wird und freundlich mit den Beamten plaudert, um dann weiterzufahren? Muss er sich nicht für un­glaublich überlegen halten?

John Douglas und seine Spezialeinheit, die bald aufgrund spektakulärer Erfolge dauerhaft eingerichtet werden kann, beginnt damit, basierend auf den Inter­views mit inhaftierten Mördern und zahlreichen Fallstudien, Profile der Mörder zu erstellen. Allmählich kristallisiert sich heraus, dass „Verbrechen“ keineswegs das diffuse Phänomen ist, für das es lange Zeit gehalten wurde. Die Seele des Mörders wird klarer, immer durchsichtiger für John Douglas, bis er imstande ist, sich anhand von Tatortfotos und Obduktionsprotokollen ein Bild von dem Täter zu machen: „Männlich, weiß, zwischen 20 und 30, wahrscheinlich geschieden, Probleme in der Kindheit, Schwierigkeiten mit Frauen, vermutlich recht unan­sehnlich gekleidet. Ich vermute, der Täter hat einen Sprechfehler und fährt einen gebrauchten Volkswagen, drei bis fünf Jahre alt…“

Solcherart sind die Profile, die Douglas erstellt und die ihn in den Ruf bringen, ein Hexer zu sein. Denn oftmals treffen solche Profile bis in kleinste Details mit gespenstischer Genauigkeit ins Zentrum, nur sehr selten weichen sie gravierend davon ab.

Zauberei? Nein, angewandte Kriminalpsychologie. Aber es ist ein langer, steini­ger Weg, bis diese Erkenntnisse so ausgereift sind, dass sie wirklich Menschen­leben retten können. Und dieser Weg ist gepflastert mit Leichen, mit Toten aller Lebensstufen, die manchmal auf bestialischste Weise ins Jenseits befördert worden sind.

Der Leser lernt eine Menge über die Defekte einer zerstörten Kindheit, über kaputte Familien, dominante Mütter, über Menschen, die von klein auf den Un­terschied zwischen Gut und Böse nicht richtig vermittelt bekommen, über Ob­sessionen, Fetischismus, über die Verschärfung harmlos wirkender Anfänge, an deren Ende oft ein zügelloser Blutrausch steht.

Und immer wieder kommt die Lektion zum Vorschein: Unterschätze den Gegner niemals! Denn jeder Fehler in diesem unerklärten Krieg der Gesetzeshüter ge­gen diejenigen, die meinen, sie selbst seien Richter über Leben und Tod – also die Mörder – führt zu schrecklichen Tragödien.

Und manchmal, das muss auch John Douglas zugeben, manchmal gewinnt der Drache. Es gibt Verbrechensserien, die anfangen und trotz intensivster Aufklä­rung keine Lösung erhalten. Es gibt viele Möglichkeiten, woran es liegen kann, dass Mordserien plötzlich abreißen, ohne dass der Täter gefasst worden ist. Douglas nennt einige: Selbstmord etwa (bei Serientätern aber eher unwahr­scheinlich), der Mörder kann wegen geringerer Vergehen verurteilt worden sein und in Haft sitzen. Wegzug in andere Bundesstaaten oder in Länder außerhalb der USA.

Die Mörder jedoch, die noch immer auf dem Bundesgebiet leben und morden und jene, in deren Geist die Bombe tickt, die sie eines Tages zu Mördern ma­chen wird, sie können im wesentlichen mit Hilfe des Profiling aufgespürt wer­den. Leider erst, wenn sie schon Menschenleben vernichtet haben. Doch ohne solche Aufklärungsinstrumente in den Händen psychologisch versierter Polizis­ten wäre die Gesellschaft dem Verbrechen viel wehrloser ausgeliefert…

Das Buch ist ein beeindruckendes Plädoyer für eine psychologische Durchdrin­gung der Strafverfolgungsbehörden, ein Werk, das seinen unschätzbaren Wert dadurch gewinnt, dass der Leser durch John Douglas´ Augen einen Blick wirft in die Seele des Mörders, in den Abgrund der Finsternis, in dem man nur unstruk­turiertes Böses vermutet, vor dem man sich ängstigt. Er zeigt auch, dass zwar Vorsicht angebracht ist, dass ein solch diffuses Urteil aber gänzlich falsch ist.

Nicht, dass es die Sache besser machen würde. Manchmal gehen die Details, die er beschreibt, wirklich an die Nieren, und ich musste das Buch gelegentlich aus der Hand legen, weil es sich nicht mehr ertragen ließ (etwa in diesem furchtbaren Kapitel um die Atlanta-Kids). Weil er den Opfern ihre Identität zu­rückgibt. Jeder von ihnen wird mit Namen genannt, bei vielen erfährt man, wie alt sie waren, aus welchen Elternhäusern sie kamen, wie die Familien auf den Verlust reagieren, und in welchem Zustand die Opfer waren, als sie dann end­lich gefunden wurden. Ja, und bei den meisten sieht man sich auch dem Täter gegenüber, schlüpft durch Douglas in das Opfer während der Gefangenschaft, Folterung und Ermordung… und in den Kopf des Mörders.

Natürlich würden die meisten Menschen davon gerne nichts wissen. Für viele sind Mörder einfach Ungeheuer, zumal dann, wenn es sich um Kinderschänder oder Sexualmörder handelt. Aber solche Simplifizierung, die auch in bundes­deutschen Medien gerne aufgegriffen wird, weil sie die Dinge so erleichtert, ist schlicht falsch. Nehmen wir nur die gerne gestellte Forderung nach Kastrierung von Vergewaltigern. Was hält Douglas davon, nach 25 Jahren Dienst, in denen er Tausende von Mordopfern kennengelernt hat? Ja, man muss kennengelernt sagen. Die furchtbar verstümmelten Toten sind Teil seiner Familie geworden.

Also, er sagt, „dass es nichts bringt, einen Serienvergewaltiger zu kastrieren – so verlockend die Idee manchem von uns auch erscheinen mag. Das Problem ist, dass es sie nicht aufhält, weder physisch noch emotional. Vergewaltigung ist definitiv ein Verbrechen aus Wut. Schneidet man einem Mann die Eier ab, hat man einen wirklich wütenden Mann.“

Will heißen: es geht nicht um Sex. Es geht um Gewalt gegen Frauen. Nimmt man einem Vergewaltiger die Fähigkeit zur Ausübung des Sex, so hat er noch immer Hände, um zu morden, und dann wird er es gewiss tun.

Unangenehme Wahrheit? Vermutlich aber zutreffend.

Ebenso ging mir Douglas letztendliches Plädoyer für die Todesstrafe gehörig auf die Nerven, das will ich gar nicht bestreiten. Dass er sie damit flankiert, man solle die Gesellschaft zugleich zu einem besseren Erziehungsstil bewegen und die Nachbarn dazu bringen, dass sie aufmerksamer ihre Nachbarschaft beob­achten, um etwa brutale Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder zu misshandeln (was viele von ihnen später zu Verbrechern macht, weil ihre Persönlichkeit da­mit geschädigt wird), macht die Sache nicht erträglicher. In meinen Augen ist die Todesstrafe nach wie vor keine sinnvolle Strafe, weil das, was man gerne als Argument für sie ins Feld führt – Abschreckungswirkung – eigentlich nicht vor­handen ist. Diejenigen, die man hinrichtet, kann man nicht mehr abschrecken. Und den Rest potenzieller Gewalttäter brutalisiert man auf diese Weise höchs­tens.

Das Dumme an diesem Plädoyer für die Todesstrafe (oder dauernde Gefängnis­verwahrung) für Serienvergewaltiger und Serienmörder ist…, dass ich ihm psychologisch nicht widersprechen kann. Ich habe leider kein Gegenkonzept, das tragfähig ist. Lobotomie oder dauerhafte Gehirnwäsche widerspricht zwei­fellos den Menschenrechten in demokratischen Gesellschaften.

Dem Leser wird also für den Gewinn an Information hier eine Menge an Nerven und Seelenruhe abverlangt. Und es werden ihm Fragen gestellt, die unange­nehm an der eigenen Seele nagen. Dennoch, ungeachtet der Tatsache, dass ich manches in dem Buch einfach moralisch nicht akzeptieren kann, ungeachtet dieser Tatsache halte ich Die Seele des Mörders für außerordentlich wichtig.

Verbrechen ist nun einmal Bestandteil der menschlichen Gesellschaft, und je mehr Menschen den Globus bevölkern, desto wahrscheinlicher ist es, dass man mit Verbrechen im nächsten Umfeld, vielleicht innerhalb der eigenen Familie, konfrontiert wird. Natürlich wird das immer schockieren. Aber dieses Buch könnte helfen, zu verstehen, wie es dazu kommt. Und vielleicht Eltern davor be­wahren, ihre Kinder so zu behandeln, dass sie die Mörder von morgen werden.

Das ist es wert, unsere eigene Seele mit diesem Wissen zu belasten.

Tut es, eurer Zukunft wegen.

© 2003 by Uwe Lammers

Ja, ich sagte ja eingangs, das ist harter Stoff, und manch einer von euch – fürch­te ich – hat diesen Text nicht fertig lesen können, weil es ihn so schauderte. Ihr seid in guter Gesellschaft. Ich bemerkte ebenfalls oben, dass ich Douglas/Olsha­ker nicht in einem Rutsch lesen konnte… und das dürfte euch wohl, wenn ihr das Buch gefunden habt und zu schmökern beginnt, sehr ähnlich gehen.

In der kommenden Woche bleiben wir bei Sachbüchern, kümmern uns aber um unser Lieblingsgenre – die Science Fiction. Diesmal aus der Feder eines Autors, den ich persönlich kennen lernte, als er noch Mitglied im Science Fiction-Club Baden-Württemberg (SFCBW) war.

Neugierig geworden? Gut so. Dann sehen wir uns in sieben Tagen an dieser Stelle.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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