Liebe Freunde des OSM,

ja, im Jahre 2005 war für mich der Harry Potter-Hype noch recht neu, und ich stieß ja auch eher durch einen Zufall auf den Schuber mit den ersten vier Ausgaben. In gewisser Weise besaß ich darum einen Lesevorsprung vor jenen, die sukzessive seit dem Erscheinen des ersten Bandes an das Phänomen herange­führt worden waren. Ich muss sagen – das war äußerst nützlich. Und ihr er­kennt unten in meiner sehr wohlwollenden Rezension, dass ich zu diesem Zeit­punkt dem Phänomen Harry Potter noch sehr aufgeschlossen gegenüberstand… ein paar einschränkende Kommentare gab es indes schon. Der geringe Seiten­umfang ist eine Sache. 352 Seiten, dazu noch sehr großzügig mit Text bedruckt, ist einfach wirklich zu wenig. Da war ich textlich doch schon ganz andere Kaliber gewohnt.

Ein anderer, der sich hier langsam, sehr langsam abzeichnete, war Rowlings Schwierigkeit, tödliche Konflikte in einem Kinder- und Jugendbuch auszutragen. Ihr werdet erleben, dass ich das zunehmend für eine ernste Schwierigkeit hielt. In diesem zweiten Roman, dessen Storyline ebenfalls noch vergleichsweise sim­pel daherkommt, ist das noch nicht so deutlich zu spüren, weswegen ich ihn für Heranwachsende absolut empfehlen kann.

Aber für die unter euch, die noch nicht informiert sind… was genau geschah wohl in Harrys zweitem Schuljahr an der Zaubererschule von Hogwarts? Wer neugierig ist, lese weiter:

Harry Potter und die Kammer des Schreckens

(Harry Potter and the Chamber of Secrets)

von Joanne K. Rowling

Carlsen-Verlag, 1999

352 Seiten, TB

Übersetzt von Klaus Fritz

Harry Potter ist kein gewöhnlicher Junge, soviel war ja schon nach dem ersten Buch klar: als Waisenkind bei seinem Onkel und seiner Tante, Vernon und Petunia Dursley im Ligusterweg 4 aufgewachsen, ist Harry inzwischen knapp zwölf Jahre alt, und es geht ihm dort nach wie vor recht bescheiden. Onkel Ver­non ignoriert ihn tunlichst, seine Tante Petunia triezt ihn weiterhin, und der leibliche Sohn der Dursleys, der feiste Dudley, hat nach wie vor wenig Respekt vor Harry.

Dabei sollte er den haben.

Denn Harry geht inzwischen auf die Zaubererschule Hogwarts, und nichts sehnt er sich mehr herbei als den Beginn der Schulzeit (sehr zum Widerspruch sonsti­ger Schüler). Denn dann ist er zusammen mit seinen besten Freunden, Ron Weasley und Hermine Granger, dem riesenhaften Wildhüter von Hogwarts, Hagrid, und er kann dort das tun, was ihm in der „Muggelwelt“, also in unserer Menschenwelt, strikt untersagt ist: Zaubern. Und natürlich Quidditch spielen, einen abenteuerlichen Wettkampf der vier Schulhäuser gegeneinander, der auf fliegenden Besen gespielt wird.

Nichts davon ist in der Muggelwelt bekannt.

Als Harrys zwölfter Geburtstag schließlich anbricht, den die Dursleys meist schmählich geringschätzen, wendet sich sein Glück. Es scheint so, als habe ihn die ganze Welt vergessen. All die Wochen daheim kam kein Brief, kein Anruf, nichts… All seine Freunde scheinen ihn, ungeachtet ihrer Versprechen am Ende des letzten Schuljahres, völlig vergessen zu haben. Harry ist schon ganz geknickt – bis er auf einmal die Bekanntschaft mit Dobby, einem hinterhältigen Hausel­fen schließt. Denn der hat seine ganze Post abgefangen, und nun bemüht er sich nach allen Kräften, Harry von Hogwarts fernzuhalten, angeblich zu seinem eigenen Besten, denn „schlimme Dinge“ geschähen dort.

Auf spektakuläre Weise gelangt es der junge Zauberer mit Hilfe seiner Freunde dennoch dorthin, und wahrhaftig, …schreckliche Dinge geschehen in Hogwarts. Eine Hauskatze versteinert, bedrohliche Schriften stehen an den Schlossmau­ern, eine wispernde, zischende Stimme, die eigentümlicherweise nur Harry al­leine hören kann, erklärt, die „Kammer des Schreckens“ sei geöffnet worden und der „Erbe von Slytherin“ (eines der vier Häuser von Hogwarts) schicke sich an, die Schule von allem unreinen Blut reinzuwaschen.

Unreines Blut, darunter versteht dieses unheimliche, für alle unfassbare Wesen Menschen oder Mischlinge, die sich anschicken, die Zauberei zu erlernen – wie Harrys beste Freundin Hermine, die ein vollwertiger „Muggel“ ist. Als die ersten Schüler von dem unheimlichen Versteinerungsfluch getroffen werden, schließ­lich sogar ein Geist versteinert und zudem die Schließung der Schule droht, wird Harry und seinen Freunden klar, dass sie etwas tun müssen. Vergessen sind ver­patzte Quidditch-Turniere, vergessen die ständigen Sticheleien des gehässigen Mitschülers Draco Malfoy aus dem Hause Slytherin. Und wen interessiert noch, warum sich die kleine Ginny Weasley und ihr großer Bruder Percy, der Vertrau­ensschüler, so seltsam benehmen? Das scheint unwichtig zu sein, wenn man Hagrid als Verbrecher ins Zauberergefängnis von Askaban abführt und Angst und Schrecken in Hogwarts umgehen.

Wenn sie die Schule und die Zauberwelt retten wollen, müssen Harry und seine engsten Freunde – denn die meisten anderen halten ausgerechnet IHN für den „Erben von Slytherin“! – beherzt handeln und die unentdeckte „Kammer des Schreckens“ finden, bevor der größte Alptraum wahr wird… der Alptraum näm­lich, dass der Mörder von Harry Potters Eltern, der finstere Lord Voldemort, die Macht in Hogwarts von neuem ergreift…

Der zweite Harry-Potter-Roman spinnt geschickt die Handlungslinien des wie ein Prolog scheinenden ersten Buches „Harry Potter und der Stein der Weisen“ fort. Der Titel wurde für die deutsche Übersetzung deutlich ein wenig dramati­siert, denn von „Schrecken“ ist im Original nichts zu finden. Einerlei. Es gibt ein aufregendes, wunderbares Wiedersehen mit den liebgewonnenen Charakteren des ersten Romans, und diesmal sogar ein paar Ausweitungen: so lernt man als Leser staunend das Heim der Familie Weasley kennen (köstlich: der Vater, der im Zaubereiministerium arbeitet und einerseits für das Konfiszieren magisch behandelter „Muggelgüter“ verantwortlich ist, selbst aber in seiner Garage bei­spielsweise „magisch erweiterte“ Automobile der Muggel aufbewahrt, sehr zum Unwillen seiner Frau), die seltsamen Lebensformen im „Verbotenen Wald“ und eine Reihe neuer Zauberer und Fächer, die in Harrys zweitem Schuljahr an­stehen.

Man macht auch schnell die ziemlich unangenehme Begegnung mit dem Schön­ling Gilderoy Lockhart, auf den alle Frauen stehen, inklusive bald darauf auch Hermine Granger – er bleibt sehr lange ein penetranter Gast des Buches, denn er tritt die Stelle des verstorbenen Professor Quirrell an, der die Verteidigungs-künste gegen Schwarze Magie vertrat. Harry muss sich mit aufdringlichen Fans herumschlagen (worin man wohl unschwer auch Rowlings eigene Probleme mit dem Berühmtsein wiedererkennen mag), und eine Reihe weiterer Schichten von Harrys und Hogwarts´ rätselhafter Vergangenheit werden freigelegt. Nicht zuletzt bekommt man einige Einblicke in das Leben des Schulleiters Dumbledore und des Finsterlings Lord Voldemort. Geschickt aufgebaute Verdachtsmomente verschleiern sehr lange, wer hinter allem steckt und wie genau die Intrigen diesmal beschaffen sind.

Der zweite Harry Potter-Roman ist deshalb erkennbar geschickter, durchdachter und raffinierter gestrickt als der erste, und der Leser gewinnt den Eindruck, dass Rowling stufenweise, der Intelligenz ihrer Leser angepasst, schreibt. Auch wer­den nach und nach die Personen und ihre Charaktere entwickelt und reifen. Das ist ein schöner Anblick, der dem Zuschauen einer sich im Zeitraffer öffnenden Blüte ähnelt. Natürlich ist die „Blüte“ in diesem Band noch nicht ganz offen, aber man kann doch schon faszinierende Dinge sehen.

An einer Stelle, ziemlich zum Schluss des Buches, verplappert sich die Autorin dann auch durch den Mund von Hermine Granger beinahe, aber eben nur bei­nahe. Leserinnen werden das wohl sogleich seufzend begreifen, männliche Le­ser vielleicht darüber hinwegschauen oder die Tiefe des Kommentars gering­schätzen. Auch hier hat sich die Blüte noch nicht zur Gänze geöffnet…

Alles in allem bedauert man auch hier, dass das Buch so rasch ausgelesen ist (der Rezensent brauchte wieder einmal nur zweieinhalb Tage. Seufz. Diese Bü­cher sind einfach zu KURZ!).

Auch wenn sonst der Harry Potter-Rummel selbst an mir weitgehend abprallt, muss konstatiert werden, dass der Suchtfaktor des Buches, zumal für Kinder und Jugendliche, nicht unterschätzt werden sollte. Nicht umsonst hat sich das Buch Millionen Male verkauft. Und nicht alles, was sich so oft verkauft, ist per se schlecht. Diesmal ist vielleicht ein bisschen zu viel Sport-Huldigung drin, mit der ich wenig anfangen konnte, aber sonst…

Auf weitere Abenteuer darf man sehr neugierig sein.

© 2005 by Uwe Lammers

Soviel für heute aus dem Reich der Zauberei. In ein paar Wochen werden wir hierhin wieder aufbrechen.

Nächstes Mal gibt es wieder völlige Wechselkost, diesmal ganz und gar diessei­tige und recht abenteuerliche Lesekost, möchte ich sagen… nennen wir es ein didaktisches Leseexperiment, und das ist jetzt nichts, was abschrecken müsste. Wer gern das Lesen auch mit hübschen Bildern verbindet, ist hier durchaus am Platze (wir sind ja nicht bei Alice im Wunderland, die sich fragt, „wozu sind Bü­cher ohne Bilder gut?“ Diese Perspektive ist doch ein wenig eng). Auf der Web­seite gibt es die Bilder zwar nicht zu bestaunen, aber den einen oder anderen mag die Lektüre meiner Rezension zu einer Internet-Suchaktion verleiten.

Mehr in sieben Tagen an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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