Rezensions-Blog 15: Sternenträume / Drachenfeuer

Posted Juli 8th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

mit älteren Rezensionen ist das so eine Sache… die unten stehende hat mehr als 10 Jahre auf dem Buckel, und aus der Gegenwart betrachtet möchte ich doch einige Positionen darin als etwas… sagen wir, voreilig ansehen. Beispiels­weise die Schlussposition, in der ich Hamilton auf der Grundlage meines dama­ligen Lesehorizontes einstufte und ihm, wenig schmeichelhaft, eine gewisse „Geschwätzigkeit“ attestierte.

Peter F. Hamilton ist ohne Frage ein Autor der Langform, das ist unbestreitbar. Aber meine anfängliche Skepsis, die sich unten noch äußert, ist inzwischen voll­kommen verdampft. Und man merkt ja auch deutlich, dass ich schon bei die­sem ersten Roman, den ich von ihm las, Feuer und Flamme war. Gewisse Ein­schränkungen bleiben selbstverständlich, die meisten würde ich heute aber so krass nicht mehr gewichten.

Da dieser im Deutschen in zwei Bänden erschienene Roman zu keinem von Ha­miltons konzeptionellen Zyklen gehört (also nicht zu „Mindstar“, „Armageddon“ oder „Commonwealth“ – dazu kommen wir beizeiten noch), eignet sich das Buch schön zum Einstieg in seine Prosa. Und hierum geht es im Detail:

Sternenträume / Drachenfeuer

(OT: Fallen Dragon)

von Peter F. Hamilton

Bastei 23254 und 23256

560 und 624 Seiten, TB

November 2002 und Januar 2003

jeweils 8.90 Euro

Übersetzt von Axel Merz

Lawrence Newton kommt zu spät und wird vom Leben bestraft. So sieht er es wenigstens, als er im Jahre 2310 auf dem Kolonialplaneten Amethi geboren wird, einer tristen, von einem planetaren Gletscher dominierten, froststarren Welt. Im Jahre 2098 von der MacArthur Corporation entdeckt, wird dieser Pla­net seit über hundert Jahren allmählich daran „gewöhnt“, wie die Erde zu funk­tionieren. Es ist ein zäher, langwieriger Prozess, und die Welt verwandelt sich zunächst einmal in ein sibirisches Schlammbad, einige Jahrzehnte lang.

Lawrence, Sohn begüterter Eltern, die im Dienste der Corporation im die ge­samte Entwicklung auf Amethi regieren, sehnt sich schon bald danach, andere Welten zu sehen, er möchte Raumfahrtkapitän werden, Entdecker anderer Wel­ten. Doch sein Vater verhindert dies und lenkt den Ehrgeiz seines Sohnes in an­dere Bahnen. Schließlich lernt er auch noch ein Mädchen kennen und lieben, al­les scheint in bester Ordnung…

Doch der Wunsch seiner Jugend lässt sich nicht langfristig unterdrücken. Schließlich befreit sich Lawrence und schafft es, Amethi zu entkommen und zur Erde zu gelangen. Hier tritt er in die Dienste des Industriegiganten Zantiu-Braun, der noch Kolonien per Sternenportal zu gründen versucht. Um die hor­renden Kosten, die das verursacht, wieder hereinzubekommen, hat Zantiu-Braun eine perfide Strategie ersonnen, zu deren Teil auch Lawrence wird: der Konzern bildet Elitekrieger mit organischen Panzerungen aus und überfällt schon etablierte, abgenabelte Kolonialsysteme, um sogenannte „Gewinnreali­sierungskampagnen“ durchzuführen. Konkret heißt das: sie überfallen die Pla­neten, erpressen die Bevölkerung, sie mit Gütern zu beliefern, die sie mit hoher Gewinnspanne auf der Erde absetzen können. Dann wird das System wieder in Ruhe gelassen.

Lange Zeit geht das relativ gut. Bis Zantiu-Braun sich entschließt, den Planeten Thallspring anzufliegen. Denn Thallspring, eine Welt mit mehreren Millionen Kolonisten und ohne Orbitalverteidigung, besitzt einige Eigenheiten, und eine davon ist höchst unangenehm: eine hocheffiziente Guerilla-Organisation, die sich seit der letzten Gewinnrealisierungskampagne gegründet hat und lange un­terschätzt wird. So lange, bis auf Thallspring eine Seuche ausbricht, die offenbar von den Invasoren stammt – und bis die Sabotage und der Volkszorn überhand nehmen.

Parallel dazu läuft ein zweiter Handlungsstrang, der Lawrence Newtons Vergan­genheit zeigt und in konterkarierenden Blenden bis zur Gegenwart führt. In die­ser Gegenwart (etwa im Jahr 2350) ist Newton der Kampagnen und Desaster – das prominenteste ist „Santa Chico“, wo die Company eine blutige Niederlage erlebt – absolut überdrüssig und hat beschlossen, auf eigene Rechnung zu arbeiten.

Während die Guerillas immer furchtbarere Attacken gegen die gelandeten Trup­pen durchführen und der Geheimdienst von Zantiu-Braun Gegenangriffe initi­iert, nutzt Lawrence eine ideale Chance, um sich abzusetzen. Er war bereits ein­mal vor zehn Jahren auf Thallspring und meinte zu diesem Zeitpunkt, einen Schatzhort entdeckt zu haben. Es ist auch wirklich einer, allerdings wird der Schatz von tödlichen Gegnern bewacht; und es handelt sich auch um eine völlig andere Art von Schatz, als er sich vorzustellen wagte – um einen leibhaftigen außerirdischen Drachen, der den Schlüssel zu den Sternen in sich birgt…

Fangen wir mit den positiven Aspekten des Zyklus „Der Drachentempel“ an: auf fast 1200 Seiten entwirft Hamilton mit breiten Strichen ein lebendiges Portrait fremder Welten und faszinierender Lebensformen, wie man sie sich unter­schiedlicher nur schwer vorstellen kann. Der Autor versteht es auch immer wie­der, den Leser zu überrumpeln und solche Dinge wie Datenkryptografie, Hacking, Vergewaltigung, Gegenspionage, virtual reality und dergleichen in die Handlung einzufügen.

Die Darstellung der Fronten ist geschickt, keine der beiden Seiten wird als über­mäßig „dumm“ dargestellt, wie es oft leicht passiert, und in die ideologische Falle geht Hamilton erst relativ spät. Die Übersetzung des Romans – denn es ist ein einziger, der aus Gründen des Umfangs in zwei Teile zerlegt wurde – ist flüs­sig gelungen, man kommt ohne Schwierigkeiten 200-300 Seiten weit je Tag und muss sich manchmal als Leser zwingen, aufzuhören. Was ein gutes Zeichen ist.

Soviel zur positiven Seite. Es ist gutes Lesefutter, unterhaltsam und manchmal zum Nachdenken anregend. Aber es gibt auch Schwächen, die nicht verschwie­gen werden sollten.

Die erste davon ist für geübte Leser rasch zu finden. Man stolpert unwillkürlich darüber, wenn man von Kapitel 1 zu Kapitel 2 wechselt und sich auf einmal un­vermittelt auf der Welt Thallspring wiederfindet. Schauplatzblende, ist noch okay, denkt man und schaut auf Seite 66 nach, um wieder in die Ursprungs­handlung zurückzutauchen. Fehlanzeige: auf einmal befindet man sich zwanzig Jahre in der Handlungsvergangenheit!

Der Grund wird rasch deutlich: Kapitel 3 behandelt Lawrence Newtons Kindheit und soll seinen Hintergrund klar machen. Ein Hintergrund, der, sagen wir es freundlich, nicht gerade vom Hocker reißt. Ich schätze, der Verlag sagte dem Autor, er solle ein „Action“-Kapitel an den Anfang stellen (weswegen dann auch gleich vorne eine Schießerei stattfindet und Tote zu beklagen sind), damit sich das Buch besser verkauft.

Die Konsequenz davon ist indes, dass – mit einigen weiteren Blenden – die ei­gentliche Haupthandlung des Buches erst nach Seite 200 beginnt. Was, mit Ver­laub, bei allen intelligenten und informativen Details, die der Roman zuvor bie­tet, für ein Buch doch etwas sehr spät ist.

Man merkt also, dass Hamilton ähnlich Diana Gabaldon in epischer Breite er­zählt, ohne im Mindesten ihre Unterhaltsamkeit zu erreichen. Das liegt an dem kaum vorhandenen Humor, freilich auch an der fehlenden Ich-Perspektive und der leider daraus resultierenden Eindimensionalität der meisten Charaktere. Bei vielen wird das Statistendasein sehr rasch erkennbar.

Von den intellektuellen „Fronten“ des Romans betrachtet, ist die Geschichte hingegen äußerst interessant. Wir treffen auf „Globalisierer“, auf „Umwelt­schützer“, eine Art „Zurück-zur-Natur“ und „Anti-Konzern-Gruppierung“, auf ebenso fanatische „genetische Weltverbesserer“ und auf die altruistischen Dra­chen, die mir eigentlich am besten gefallen haben.

Hier wird Hamiltons Weltsicht am klarsten und am schlüssigsten, während sie sonst überall da, wo sie mit der menschlichen Gesellschaft zu tun hat, gewisse zwanghafte Züge trägt. Er versucht sie zu umschiffen, entkommt den ideologi­schen Untiefen nicht so recht. Es wird besonders klar erkennbar gegen Ende des zweiten Bandes, wo in einer Diskussion zwischen einem Zantiu-Braun-Vertreter und einer Rebellin letztere unterstellt, der Konzern huldige einer „faschistischen Ideologie“.

Das ist zwar richtig, aber ich dachte da: hm, du hast nicht überlegt, Hamilton. Es ist doch höchst unwahrscheinlich, dass rund 400 Jahre nach dem Ende des Na­tionalsozialismus eine Umweltaktivistin, die nicht auf der Erde geboren ist und noch niemals im Weltraum war, jemals von den Nazis gehört und das Wort „Fa­schismus“ verinnerlicht hat.

Ähnlich ist es mit der Technik, wo er zwar beeindruckende Beschlagenheit an den Tag legt, aber ungeniert mit „Tokamak-Reaktoren“ seine Raumschiffe an­treibt. Die Tokamak-Fusionsreaktoren gibt es nämlich wirklich, sie befinden sich gegenwärtig aber noch im Experimentalstadium. Doch selbst wenn sie im 21. Jahrhundert funktionsfähig werden sollten, ist schwer vorstellbar, dass sich die­se Technologie in 200 und mehr Jahren nicht mehr verändert. Der Autor hätte darum wohl besser daran getan, einen genialen Erfinder des 22. Jahrhunderts zu postulieren und den Reaktoren seinen Namen zu geben.

Am Ende des Zyklus merkt der aufmerksame Leser leichte Ermüdungserschei­nungen. Hamilton begradigt die Handlung, was im wesentlichen auf eine Bruta­lisierung hinausläuft, die in vielen Fällen hätte vermieden oder subtiler darge­stellt werden können. Viele Charaktere werden einfach per Exitus aus der Hand­lung geräumt, ganze Handlungsstränge vernachlässigt. Da wird gebogen, dass sich sinnbildlich die Balken biegen. Vermutlich musste er das machen, um nicht NOCH einen Band zu schreiben (was ihm schätzungsweise keine Probleme be­reitet hätte).

Hamilton vertritt eine Reihe von sehr sympathischen Positionen und versucht recht ausgewogen, Dingen wie Dogmatismus, Fremdenhass, Elitebewusstsein und dergleichen entgegenzutreten. Er kann gut erzählen und schlüssige außerir­dische Welten beschreiben, z. T. bis in die funktionellen Einzelheiten hinein. Technik ist definitiv seine Sache, ähnlich wie bei Stephen Baxter (letzterer be­kommt aber die Kosmologie besser in den Griff). Das alles verpackt er indes in eine Storyline, die sich relativ knapp zusammenfassen ließe und für die er mei­ner Ansicht nach nicht annähernd soviel Platz bräuchte. Man sollte ihn also als geschickten SF-Autor einschätzen mit enormer Phantasie und Begabung, aber als überragend würde ich ihn wegen eines Hanges zur Geschwätzigkeit nicht einstufen. Dennoch, es gibt weitaus schlechtere Unterhaltung als dieses.

Fazit: empfehlenswert.

© by Uwe Lammers, 2004

Ich denke, man kann deutlich spüren, dass ich ungeachtet meiner kritischen Einwände durchaus pro-Autor argumentierte, und es fiel mir auch vergleichs­weise leicht, dann bald danach seinen „Armageddon-Zyklus“ zu verschlingen (demnächst in diesem Kino, versprochen!). Heutzutage schätze ich ihn als einen höchst lesenswerten Science Fiction-Autor, der seine Bekanntheit wirklich verdient. Er lohnt unbedingt eine Entdeckung, falls ihr ihn noch nicht kennen solltet und der Ansicht seid, die klassische Space Opera sei in den heutigen Buchhandlungen eher unterbelichtet (was leider immer noch zutreffend ist).

Macht euch auf die Jagd, Freunde! Ansonsten – wir sehen uns an dieser Stelle wieder in der kommenden Woche mit einer frischen Leseempfehlung.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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