Rezensions-Blog 176: Kein König von Geburt (3)

Posted August 8th, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

selbst raffiniert gestrickte Zyklen mit faszinierenden Personenschicksalen und Einflechtung vielfältiger Formen parapsychischer Begabungen erreichen, wenn sie die Schwelle von mehr als tausend Seiten überschreiten, offenkundig Belas­tungspunkte, denen sie nur bedingt gewachsen sind. In einem anderen Fall habe ich so etwas schon einmal diskutiert, nämlich damals, als Peter F. Hamil­tons „Armageddon-Zyklus“ am Ende in die Unglaubwürdigkeit absank. Hier ist es etwas anders gelagert.

Wir erinnern uns, dass das Zeitportal von Madame Guderian an einen singulä­ren Punkt im Pliozän des Planeten Erde führt und ein irreversibles Portal dar­stellt. Man kann in die eine Richtung hindurch, aber nicht wieder zurück. High-Tech-Gerätschaften dürfen in die Vergangenheit nicht mitgenommen werden… nun, in diesem Teil des Zyklus verstößt Julian May leider gegen diese Regelung, und wie ich unten näher ausführe, hätte dies eigentlich die sofortige Schließung des Portals bedeuten müssen. Was aber nicht geschah. Das lässt leider nur die Schlussfolgerung zu, dass die Autorin diese Volte der Handlung nicht von Anbe­ginn des Zyklus im Blick hatte, sondern nachträglich installierte, um die Hand­lung zu „strecken“.

Das tut der Gesamtgeschichte leider nicht wirklich gut, sondern wirkt etwas un­angenehm aufgepfropft. Mein Fazit des dritten Bandes des Pliozän-Zyklus fiel darum vor sechzehn Jahren etwas durchwachsen aus.

Wie das ausschaut? Seht es euch einfach an:

Kein König von Geburt

(OT: The Nonborn King)

von Julian May

Heyne 4302

576 Seiten, TB

Übersetzt von Rosemarie Hundertmarck

Die Flucht zivilisationsmüder Menschen aus dem galaktischen Milieu des 22. Jahrhunderts, zurück in das rund sechs Millionen Jahre in der Erdvergangenheit liegende Pliozän-Zeitalter, hat sich als Weg in eine Diktatur erwiesen. Denn die Erdvergangenheit steht unter dem Bann der eingewanderten, metapsychisch begabten Außerirdischen Tanu, die die Menschen versklavt haben.

Als die „Gruppe Grün“ das Zeitportal durchschreitet, ahnt niemand, dass die Teilnehmer dieser Gruppe das „vielfarbene Land“ von Grund auf umkrempeln werden, am wenigsten sie selbst. Und doch geschieht genau das:

Während der eine Teil der Gruppe, in der sich die bald dominierenden Personen der einstigen Metapsychikerin Elizabeth Orme und des jugendlichen Verbre­chers Aiken Drum befinden, mehr oder weniger gut in die Strukturen der Tanu-Hauptstadt Muriah integriert, versucht insbesondere die ebenfalls parapsy­chisch begabte, aber verhaltensgestörte Sportlerin Felice Landry im zweiten Teil der Gruppe, mit Hilfe menschlicher Rebellen ebendiese Sklavengesellschaft zu zerstören. Sie wollen dabei besonders die Ringfabrik zerstören, die in Muriah besteht und den Außerirdischen die fortdauernde Herrschaft über die Mensch­heit sichert. Madame Guderian, die Frau des Erfinders des Zeitportals, hat sich die Schließung des Portals auf die Fahnen geschrieben. Dieser Teil des Planes gelingt.

Die Chance zur Sabotage der Ringfabrik ergibt sich, als der „Große Wettstreit“ zwischen den dimorphen Stämmen der Tanu und Firvulag ausgetragen wird. In diesem Ringen, das auf der Aven-Halbinsel im noch weitgehend trockenen Mit­telmeerbecken ausgetragen wird, kämpfen die Außerirdischen und menschli­chen Kämpfer gegeneinander um die Vormachtstellung im vielfarbenen Land. Diesmal jedoch wird der Wettstreit – nach der Vereitelung des Anschlages auf die Fabrik – durch eine beispiellose Katastrophe vorzeitig unterbrochen, bevor Aiken Drum den amtierenden designierten Thronfolger, Lord Nodonn, heraus­fordern kann: der Felsendamm von Gibraltar birst und Milliarden Tonnen Meer­wasser ertränken Tausende von Tanu-Recken und zahllose Menschen, die Hauptstadt der Außerirdischen versinkt in Chaos und Schlamm. Die Ordnung bricht vollkommen zusammen.

Erst etwas später wird den Überlebenden klar, dass niemand Geringeres als die verrückte Felice Landry dafür verantwortlich war. Sie befand sich zwar in der Gewalt des Lordinquisitors Culluket, einem sadistisch veranlagten Tanu, der das Mädchen missbrauchte und ihren Geist vergewaltigte und sie damit fast um­brachte (und ohne es zu ahnen auch voll operant machte, zur stärksten Meta­psychikerin im Exil!), wurde jedoch befreit und fortgebracht. Ihr wilder Hass auf die Tanu bestärkte sie aber darin, die Fremden unbedingt vernichten zu müssen und gab ihr diese „letzte Tat“ ein. Seit der Zerstörung des Dammes von Gibral­tar jedoch galt sie als tot, hinabgestürzt in die von ihr ausgelösten Fluten.

Noch länger blieb im Unklaren, wie Felice diese gewaltigen Kräfte hatte ansam­meln können. Dabei wussten die Tanu sehr gut Bescheid über Feinde auf der Pliozän-Erde: 27 Jahre vor dem Durchgang der entscheidenden „Gruppe Grün“ hatte es einen verheerenden Zwischenfall gegeben, der von den Herrschern später gründlich vertuscht worden war.

Eine Gruppe Menschen, die durch das Portal in die Vergangenheit kam, ent­sprach in keiner Weise den Erwartungen. Es handelte sich um einige Dutzend Metapsychiker höchsten Kalibers, die schwerstens bewaffnet waren und sich auf der Flucht befanden, Rebellen der so genannten Metapsychischen Rebellion unter ihrem skrupellosen Anführer Marc Remillard, ohne weiteres fähig, die Tanu einfach so hinwegzufegen… wenn sie mit diesem Widerstand gerechnet hätten und nicht zu Tode erschöpft gewesen wären.

Doch auch so hatten sie das Potenzial, Dutzende von Tanu in lallende Idioten zu verwandeln und viele weitere mit ihren überlegenen Energiewaffen schlicht zu atomisieren. Mit Müh und Not von den zahlenmäßig überlegenen Außerirdi­schen in die Enge getrieben, schafften sie es, bis zum Atlantik durchzubrechen und dort in See zu stechen. So verschwanden sie aus Europa und aus dem Blick­feld der Tanu. Doch die Rebellen waren „nur“ bis Amerika geflüchtet und hatten sich hier zur Ruhe gesetzt. 27 Jahre lang. Die Tanu und sie beachten einander nicht mehr, doch es gibt keinerlei Gewissheit, dass sie für immer ruhig sind, wenngleich alle das hoffen.

Als Felice auftauchte und gellend um Hilfe rief, um die „fremden Teufel“ (also die Tanu und Firvulag) zu vernichten, gaben ihr die Rebellen und deren eben­falls psionisch begabte Kinder, die auf der Pliozän-Erde geboren worden waren, jene Energie, die sie brauchte, um Gibraltar zu sprengen.

Der Untergang eines guten Teils der Tanu-Elite (samt Auslöschung des Königs der Tanu und großer Teile seines Hofstaates) krempelte die Verhältnisse im viel­farbenen Land komplett um und veränderte natürlich auch die Abhängigkeiten der einzelnen hier lebenden Rassen grundlegend.

Die kleingewachsenen Firvulag waren zahlenmäßig immer schon in der Über­zahl gewesen und hatten sich nur deshalb nicht durchsetzen können, weil ihre besser gestaltete Schwesterrasse über die bessere Technik und die Hilfe der Menschen verfügte. Sie sannen aber stets danach, die Tanu zu besiegen, gege­benenfalls weitgehend auszurotten. Den Menschen, besonders den rebelli­schen, die sie „die Geringen“ nannten, brachten sie gleichfalls mehrheitlich Ver­achtung entgegen.

Die Tanu hielten sich in der nun in den nächsten Monaten um sich greifenden Verwirrung und Verzweiflung immer stärker an jene Persönlichkeit, die schon im Vorfeld des Turniers hervorgetreten war: an Aiken Drum, der das Chaos ebenso überlebt hatte wie die menschliche Lady-Kreatorin Mercy-Rosmar, Her­rin von Goriah in der Bretagne und zugleich Gefährtin des Schlachtenmeisters Nodonn der Tanu (der vermisst wurde). Aiken maßte sich, an, auf dem nächsten Maifest Herr des vielfarbenen Landes zu werden, was seinen parapsychischen Fähigkeiten zufolge kein Problem darstellte.

Doch die konservative Tanu-Elite, zum Teil Jahrhunderte alt, konnte sich mit die­sem massiven Bruch der Tradition nicht anfreunden, weswegen es langwieriger und intensiver „Public Relations-Touren“ des Herrschers in spe bedurfte, um die Zustimmung zu erwirken.

In der Zwischenzeit begannen die Firvulag mit ihren Angriffen auf Tanu-Siedlun­gen und die Dörfer tanutreuer Menschen. Und dies, obgleich ein Waffenstill­stands- und Freundschaftsvertrag mit den neuen Monarchen Sharn-Mes und Ayfa von den Firvulag geschlossen worden war. Die kleinwüchsigen Gestalt­wandler schoben diese Überfälle schamlos ihren unbotmäßigen Untertanen, den so genannten „Heulern“ in die Schuhe und behaupteten, selbst von nichts zu wissen. Jedem war natürlich klar, dass es sich hierbei um eine eindeutige Lüge handelte. Diese Lüge geriet in Gefahr, als die „Heuler“ auf einmal Anstal­ten machten, eine Völkerwanderung durchzuführen, die die Firvulag-Monar­chen vor eminente Probleme stellte, vor allen Dingen die vielen tausend Jung­frauen!

Zu allem Überfluss machten sich die „Geringen“, die menschlichen Rebellen, die schon über Eisenerz verfügten, das Tanu zu töten vermochte, daran, weiterge­hende Pläne zu schmieden, um die Außerirdischen weiter nachhaltig zu be­kämpfen. Die Katastrophe von Gibraltar war, so verheerend und ungeplant sie auch über alle hereingebrochen sein mochte, nur ein guter Auftakt zu größeren Taten.

Eine groß angelegte Expedition zum Nördlinger Ries, wo einstmals das Raum­schiff der Tanu und Firvulag vor Jahrtausenden eingeschlagen war, ermöglichte die Restauration und Evakuierung einer Reihe von Tanu-Beibooten, von denen nur zwei in zugänglicher Nähe der Menschen verborgen wurden, die anderen brachten die Rebellen in ein sicheres Versteck im Hochgebirge.

Und dann gab es noch andere, sehr verstörende Neuigkeiten: Elizabeth, die sich in eine neutrale Klausur zurückgezogen hatte und von einigen hochrangigen, friedensliebenden Tanu unterstützt wurde, informierte Aiken Drum darüber, dass jener große schwarze Rabe, der an den Rändern des Mittelmeeres gesich­tet wurde und goldene Halsreife raubte, niemand Geringeres war als die nun­mehr völlig wahnsinnige und unberechenbare Felice Landry, ausgestattet mit metapsychischen Kräften, die jeden Para im Pliozän überfordern würden. Und Felice suchte mit verzehrender Leidenschaft, in der sich Sadismus und Liebe mischten, ihren einstigen Folterer und „Geliebten“ Culluket, um ihm für seine „Wohltaten“ zu danken.

Culluket, wahnsinnig vor Angst und genau wissend, dass er Felices „Liebe“ nicht überleben würde, hatte die Flut überstanden und wurde nun von Aiken ge­schützt. Und der künftige König des vielfarbenen Landes suchte händeringend goldene Halsreife, die mentalen Verstärker, die die Tanu besonders talentierten und verdienten Menschen stets als Zeichen ihrer Gunst verliehen hatten. Felice sammelte jeden einzelnen davon, selbst von Leuten, die noch am Leben waren. In solchen Fällen tötete sie die Träger.

Felice selbst erhielt während all dieser Geschehnisse plötzlich Kontakt mit scheinbar Fremden, die sie Teufel nannte und die ihr bei der Gibraltar-Spren­gung geholfen hatten: mit jenen Psionikern, die sich in Florida aufhielten und nun aufbrachen, um ihr zu helfen, die Reste des Tanu-Reiches wegzuwaschen. Jedenfalls behaupteten sie das, während die Rebellen eigentlich nichts Geringe­res wollten, als Felice in ihre Sklavin zu verwandeln…

Und dann stellte sich auch noch heraus, dass der tot geglaubte Geliebte von Mercy-Rosmar, die inzwischen Aikens Frau und Königin des vielfarbenen Landes geworden war, nämlich niemand anderes als Nodonn Schlachtenmeister, entge­gen allen Erwartungen doch noch am Leben war. Und dass ER die Absicht hatte, den Usurpator des Tanu-Throns herauszufordern…

In Julian Mays drittem Pliozän-Roman wird, wie oben erwähnt, das soziologi­sche Profil der Pliozän-Gesellschaft völlig auf den Kopf gestellt, was höchst reiz­volle Konsequenzen hat. Doppelspiele, vergnügliche (und manchmal tödliche) Intrigen, die hohe Kunst der Diplomatie mit gleichzeitig erfolgenden hinterhälti­gen Schachzügen, all das ist überaus lesbar geschrieben und anhand des um­fangreichen Einleitungsteils, der die Vergangenheit referiert, durchaus verständ­lich.

Die Personenvielzahl ist hin und wieder hinderlich, da sich die Leute manchmal selbst im Weg stehen, um ein eigenes, hinreichendes Profil zu entwickeln. Im Großen und Ganzen aber gelingt es May hier aber, die Geschichte konsequent weiterzuerzählen.

Hinderlich schien es mir nur, dass sie anfangs auf die Flüchtlinge der Metapsy­chischen Rebellion zurückgreifen musste, um plötzlich auftauchende High-Tech-Inflation zu erklären. Ebenso kommt es dem kritischen Leser einfach lästig vor, wenn in Band 1 akribisch dargestellt wird, wie präzise und genau die Kontrollen am Tor sind (wo selbst stählerne Messer zurückzubleiben haben!), aber auf ein­mal Hochenergiewaffen, energetische Schutzschildprojektoren und ähnliches von den Tanu gehortet werden (angeblich Schmuggelware der Menschen! Glaubwürdigkeit gleich null).

Noch schlimmer erging es mir am Anfang des Romans, wo die Flucht von Marc Remillard und seinen schwer bewaffneten Getreuen in die Vergangenheit ge­schildert wurde: es mag ja sein, dass die Rebellen auf der Erde der Gegenwart und im Pliozän die Torwachen überwältigt haben und durchgedrungen sind. Aber… wenn die ERDREGIERUNG der Gegenwart daraufhin IMMER NOCH DEN DURCHSTROM VON TAUSENDEN VON ARGLOSEN REISENDEN ERMÖGLICHT, dann sollte man sie doch wenigstens skrupellos nennen, denn sie müssen ohne Zweifel glauben, dass diese Leute konsequent in die Gefangenschaft der Rebel­len gelangen.

Kein Wort davon.

Die einzig konsequente Handlung wäre (in meinen Augen) die gewesen, das Tor in der Gegenwart sofort und für immer zu versiegeln. Aber das passiert nicht. Eine Erklärung wird nicht gegeben. Na ja… vielleicht im vierten Band.

Selten war eine Lösung für High-Tech-Waffen so künstlich. Es ist KLAR, dass jetzt auf einmal Waffen des galaktischen Milieus auftauchen müssen, weil nämlich auch die hochgerüsteten Rebellen und deren Kinder wieder eine nachhaltige Rolle zu spielen beginnen. Und das wäre doch eine äußerst unsportliche Ange­legenheit, wenn man – sinnbildlich gesprochen – mit einer Maschinenpistole gegen einen halbnackten Muskelprotz antritt, hm? Mir stand da die Szene aus INDIANA JONES I vor Augen, wo Indy einen arabischen Schwertschwinger ein­fach erschießt. Es scheint so zu sein, dass sich allmähliche Ermüdungserschei­nungen bei der extensiven Verwendung metapsychischer Fähigkeiten bei der Autorin einschleichen.

In jedem Fall steuert die Handlung des Zyklus auf einen bombastischen Höhe­punkt hin, der in dem Roman „Der Widersacher“ kulminiert.

© 2002 by Uwe Lammers

Nächste Woche kehren wir wieder in die Gegenwart zurück oder vielleicht auch in die nahe Zukunft, tauchen aber zugleich in ein weitgehend unbekanntes Reich ab, das unglaubliche Überraschungen bereithält wie auch unheimliche Schrecken. Was das für ein Reich ist? Na, da lasst euch mal überraschen, Freun­de.

Bis in sieben Tagen.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>