Rezensions-Blog 18: Die unbekannte Macht (1)

Posted Juli 29th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute mache ich euch mal mit einem echten Abenteuer vertraut, das mir eine liebe Brieffreundin vor über zehn Jahren zugänglich machte… nicht, dass ich diese Romane nicht gekannt hätte. Das hatte ich schon, aber Peter F. Hamilton war mir, als die Bücher herauskamen, eben einfach kein Begriff, und da ich noch reichlich Lesestoff besaß, sah ich keine Veranlassung, mir einen neuen Autor „ans Bein zu binden“, wie ich das damals dachte, der offensichtlich ausschließ­lich Bücher im Umfang von 600-800 Seiten aufwärts schreiben konnte.

Ach, was habe ich doch versäumt. Wer meinen Rezensions-Blog 15 gelesen hat, wird ein damaliges Vorurteil schon entdeckt haben. Spätestens dann, als meine liebe Freundin mir einen Band nach dem nächsten vom „Armageddon-Zyklus“ zu schenken begann und ich mich in ihn regelrecht hineinverbiss, wurde mir klar, dass ich hier eine Menge spannende Unterhaltung verschenkt hatte – et­was, was ich in den folgenden Jahren bis zur Gegenwart dann schleunigst auf­holte. Inzwischen habe ich nahezu alles, was Hamilton geschrieben hat, ver­schlungen und rezensiert… und ich bin schon schrecklich neugierig auf den Herbst 2015, wenn der neue Hamilton-Roman herauskommt, diesmal bei Piper, unter dem schönen Titel „Der Abgrund jenseits der Träume“ (womit der Origi­naltitel „The Abyss beyond dreams“ hervorragend 1:1 übersetzt wird, womit ich im Traum nicht rechnete.

Aber schaut heute erst mal in den Lesestoff dieser Rezensionsrunde. Auf ins 26. Jahrhundert der Menschheit und in ein spektakuläres Abenteuer, das wirklich apokalyptische Ausmaße annimmt, selbst wenn das anfangs noch nicht zu se­hen ist. Hamilton gilt seit diesem Romanzyklus – eigentlich eine Trilogie, wenn man genau ist – als einer der Erneuerer der Space Opera. Ich würde sagen: ab­solut mit Recht.

Auf ins Abenteuer:

Die unbekannte Macht

(The Reality Dysfunction, Part I)

Armageddon-Zyklus, 1. Roman

von Peter F. Hamilton

Bastei 23221

864 Seiten, TB

Februar 2000, 9.90 Euro

Übersetzt von Axel Merz

Wo fängt man in diesem Fall wohl am besten an? Bei der Romanhandlung? Bei der Vorgeschichte? Mit einer umfangreichen Einleitung in das komplexe Univer­sum, das Hamilton hier ersonnen und konstruiert hat? Schwer zu sagen. Versu­chen wir es mal so:

Das späte 26. Jahrhundert irdischer Zeitrechnung ist ein Ort divergierender, ri­valisierender menschlicher Gemeinschaften, die auf Kolonialwelten und speziell für diesen Zweck geschaffenen („germinierten“) Habitaten den Weltraum besie­delt haben. Wie das so oft der Fall war, wenn sich eine Nation aufspaltete und neue Länder besiedelte, hat es auch hier die üblichen Diversifikationsprozesse gegeben. Im wesentlichen aber spaltet sich die Menschheit in zwei große, in­nerlich sehr heterogen gestaltete Gemeinschaften auf.

Da stehen auf der einen Seite die sogenannten Adamisten. Ihre endgültige Prä­gung erhielten sie etwa im Jahre 2090, als die Päpstin Eleanor alle Christen mit dem so genannten Affinitätsgen exkommunizierte. Vorangegangen war die Gründung des BiTek-Habitats (also biotechnisch geschaffenen Habitats) Eden im Orbit um den Jupiter.

Die aus diesem Habitat hervorgehenden, genetisch stark modifizierten Men­schen nannten sich fortan Edeniten – die zweite Menschenfraktion, von der die Rede war – und begannen eigene Welten zu besiedeln. Sie entwickelten auch eigene biologische, hochintelligente Raumschiffe, die sogenannten Voidhawks, mit denen sie eine enge, lebenslange Symbiose eingingen. Außerdem entstand im Rahmen der Symbiose der Edeniten mit ihren germinierten BiTek-Habitaten ein Nachleben nach dem Tode, indem die Seelen sterbender Edeniten in deren Neuralnetzen gespeichert wurde, was die ohnehin langlebigen Edeniten einer Form der Quasi-Unsterblichkeit nahe brachte.

Beide Menschengruppen, sowohl die Adamisten wie auch die Edeniten, koope­rieren inzwischen recht gut miteinander, u. a. in der Konföderierten Navy, ob­wohl es auf beiden Seiten natürlich Extremisten gibt. Die irdische Menschheit, die nach wie vor auf Technik setzt, führt immer noch ehrgeizige Kolonisations­programme durch, unter anderem – seit 2582 – auf der Dschungelwelt Lalonde.

Und was ist mit außerirdischen Rassen, mag man sich fragen? Wie kann die Menschheit Hunderte von Lichtjahren in die Galaxis vordringen, ohne „Xenos“ zu treffen, wie sie hier genannt werden? Oh, sie wurden schon gefunden, aber sehr wenige, meist harmlose Völker wie die Tyrathca oder die friedfertigen, rie­senhaften Kiint.

Und dann sind da die Laymil. Nun, man muss sagen: da waren die Laymil.

Im Jahre 2420 entdeckt ein Raumschiff des edenitischen Königreichs Kulu den Ruinenring, ein siebzig Kilometer breites Band aus technischen Artefakten, das in stabilem Orbit einen Planeten am Rande der menschlichen Einflusssphäre umkreist. Siebzigtausend außerirdische Habitate, durchaus edenitischen Habita­ten nicht unähnlich, allesamt seit Jahrhunderten zerstört. Sie sind das große Rätsel der Menschheit, und das Habitat Tranquility wurde eigens geschaffen, um diesen Ring zu erforschen.

In diesem von Menschen dominierten Sternenreich gibt es ständig irgendwel­che Reibereien, viele von ihnen wirtschaftlich initiiert. Ein solcher Konflikt bricht eines Tages zwischen den Sonnensystemen Omuta und Garissa aus. Als schließ­lich die garissanische Physikerin Alkad Mzu eine spektakuläre Entdeckung macht, die man leider auch als furchtbare Waffe gebrauchen kann, entschließen sich die Omutaner im Jahre 2581 dazu, das Problem endgültig zu bereinigen. Sie bombardieren Garissa mit den verbotenen Antimateriebomben und bringen 95 Millionen Menschen um. Dafür wird eine dreißigjährige Quarantäne über das omutanische System verhängt, nachdem die Staatsführung durch die Militärs der Konföderation exekutiert wurde. Dr. Alkad Mzu und ihre Waffe, der „Alchi­mist“, verschwinden spurlos.

So wenigstens scheint es.

Vor diesem Hintergrund setzt die Handlung des Zyklus ein.

Im Ruinenring macht der junge, aufstrebende Raumpilot Joshua Calvert, dessen Potenz wirklich sagenhaft ist, den Fund seines Lebens: einen Datenspeicher der Laymil, der nach wie vor erhalten ist und Aufklärung über den rätselhaften Tod der extraterrestrischen Rasse verspricht. Durch dieses Ereignis plötzlich reich geworden, gewinnt er das Herz der rätselhaften Ione, die sich als Lady Ruin her­ausstellt, die heimliche Regentin des Habitats Tranquility.

Und auf einmal tritt auch eine unscheinbare Schwarze auf ihn zu, die ihn fragt, ob Joshuas Raumschiff, die Lady Macbeth zu chartern sei. Ihr Name, so erklärt sie, sei Dr. Alkad Mzu. Und sie weilt seit 26 Jahren auf Tranquility, beschattet von jedem namhaften Geheimdienst, den man sich vorstellen kann. Sie arbeitet an Tranquilitys Laymil-Projekt mit.

Während Joshuas Karriere als freier Raumpilot beginnt, die ihn schnell in Schwierigkeiten bringt, verfolgt Hamilton in anderen Kapiteln die zahlreichen Lebensstränge einer Kolonistengruppe auf der Dschungelwelt Lalonde, wo sich seltsame Dinge abzuspielen scheinen. Der Kolonistengruppe Sieben, die hier flussaufwärts in die Region des Schuster County gesandt wird, wird eine Gruppe sogenannter Zettdees zugeteilt, „Zwangsdeportierte“, die 10 Jahre lang Zwangs­arbeit verrichten sollen, bevor sie die Erde wiedersehen können. Das ist schon schwierig genug, aber schlimm wird die Lage, weil die herausragende Person unter den Zettdees von Gruppe Sieben Quinn Dexter ist.

Der junge, absolut gewissenlose Dexter ist ein Mann ohne Moral und Skrupel, und er fiel auf der Erde auf, weil er in einem satanistisch orientierten Geheim­bund tätig war. Sein Hauptziel besteht darin, zur Erde zurückzukehren und sich an seiner dortigen Herrin des Geheimbundes zu rächen. Dafür ist ihm jedes Mittel recht. Folter, Mord und Vertuschung sind nur einige der Dinge, die er im Repertoire hat, und als die Gruppe Schuster County erreicht, wird alles nur noch schlimmer.

Dennoch – Quinn Dexter ist eigentlich die kleinere Gefahr. Im Urwald von La­londe lauert etwas, das lange auf Entfesselung gewartet hat. Und als die Siedler in seine Nähe gelangen und eine Welle der Gewalt eskaliert, kommen mehrere begünstigende Umstände hinzu, Umstände, die eine Woge purer Fremdheit es­kalieren lassen, die sich schnell und immer schneller über die Siedlerwelt auszu­breiten beginnt…

Es mag Leser geben, die 13 Seiten Personenregister und 5 Seiten Chronologie am Ende des Bandes abschreckend finden, weil sie meinen, den Überblick rasch zu verlieren.

Lasst euch beruhigen, meine Freunde, ich glaubte das anfangs auch ein wenig und zauderte, doch wenn man erst einmal in der Handlung steckt (und das ist spätestens im dritten Kapitel der Fall), dann gräbt man sich mit wahrer Wonne durch die Seiten dieses dicken, aber – natürlich – zu kurzen Buches, mitunter dreihundert Seiten am Tag. Die meisten Personen des Registers kommen übri­gens auch in diesem Buch noch gar nicht vor, sondern sind für den zweiten Band gedacht, der die abschließenden zwölf Kapitel des voluminösen Romans enthält. Außerdem hat man ja als Leser Finger und kann immer geschwind bei den schön nach Handlungsorten aufgeschlüsselten Personen nachblättern, wer nun eigentlich wer ist, falls man doch mal durcheinanderkommt (zugegeben, bei Joshua Calverts ehemaligen Gespielinnen, seiner Geliebten und seinen ge­genwärtigen Gespielinnen kann man schon mal ins Schleudern kommen…).

Doch wenn man sich erst einmal an die Termini gewöhnt hat und an die grobe Skizzierung der Geschichte, dann taucht man mit Wonne ein in ein farbenpräch­tiges Universum, in dem wirklich jeder Handlungsschauplatz mit Liebe zur Akri­bie geschildert wird, was zum Teil bis zu den Moosen an den Wänden und der Form der Fenster und Türen geht, der Maserung der Baumaterialien und den di­versen Vor- und Nachteilen einzelner Planeten.

Es ist ein wenig schade, dass der Roman so schnell endet, gewissermaßen mit­ten auf dem wirklich üblen Höhepunkt des Geschehens. Die Fragen, die auf dem Rücken des zweiten Bandes stehen, sind außerordentlich sinnvoll, denn das sind wirklich die, die dem Leser auf der Zunge liegen, wenn er diesen ersten Band des Armageddon-Zyklus schließt.

Wer also spannendes, farbenprächtiges Garn und einfach gut, abwechslungs­reich, meist humorvoll und mit viel Liebe zum Detail dargestellte Welten und Personen schätzen lernt und bei Stephen Baxter nun wirklich meint, im Eisfach gelandet zu sein, der kann hier wieder auftauen, wie ich es gerade tue. Und um die Protagonisten bangen, denen vermutlich noch ziemlich üble Sachen bevor­stehen.

Oftmals sind dicke Bücher ja Geschwafel, aber ich kann versichern, kürzer hätte Hamilton sich nicht fassen können. Genießt das Buch und greift nach dem nächsten. Denn nach dem ersten Band könnt ihr nicht mehr aufhören…

© by Uwe Lammers, 2004

Neugierig geworden? Oder vielleicht dazu inspiriert, die dicken Hamilton-Bü­cher mal wieder aus dem Regel zu ziehen und von neuem durchzuknabbern, falls draußen nicht Sonnenschein angesagt ist, sondern überraschend finstere Regenwolken aufziehen? Nun, es könnte schlimmer kommen. Und übrigens: ich habe den Zyklus im Abstand von vier Jahren auch zweimal gelesen… und wer weiß, in der nahen Zukunft greife ich vielleicht ein weiteres Mal dazu.

Klare Leseempfehlung!

Macht es gut bis zur nächsten Woche, dann werden wir uns wieder einem his­torischen Buch zuwenden. Welchem? Nun, schaut einfach rein…

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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