Rezensions-Blog 186: Höllenjagd

Posted Oktober 16th, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wer den Namen Clive Cussler über all die Jahrzehnte nur und nahezu aus­schließlich mit Dirk Pitt, Albert Giordino und der NUMA in Verbindung brachte – oder neuerdings dann eben auch mit Kurt Austin und Joe Zavala (ebenfalls von der NUMA) bzw. Juan Cabrillo und der OREGON1, der wird von diesem Roman so überrascht werden, wie ich es wurde, und zwar, so denke ich, ausschließlich positiv.

Wir befinden uns im Jahre 1906, also im sehr frühen 20. Jahrhundert, und eine Serie von Banküberfällen hält die Vereinigten Staaten in Atem. Die Kriminalistik befindet sich nach wie vor in den Kinderschuhen, so etwas wie Serienverbre­cher sind weitgehend unbekannt, Fahndung über die Grenzen der Bundesstaa­ten sind… sagen wir… wenigstens schwierig. Ganz besonders in den USA. Da versuchen die lokalen Behörden natürlich alles, um sich selbst zu profilieren, und der Verbrecher, der so genannte „Schlächter“, trickst sie konsequent stän­dig aus.

Schließlich schlägt also die Stunde der privaten Van-Dorn-Agency und ihres bes­ten Ermittlers, des jungen, temperamentvollen und technikversessenen Isaac Bell. Hier lernen wir ihn erstmals kennen – ihn und einen gnadenlosen Feind, der keine Skrupel kennt.

Auf in dieses Abenteuer, Freunde:

Höllenjagd

(OT: The Chase)

Von Clive Cussler

Blanvalet 37057

448 Seiten, TB

ISBN 978-3-442-37057-3

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kempen

Man nennt ihn den Schlächter – einen skrupellosen Verbrecher ohne Gesicht, der im Jahre 1905 immer wieder Banken ausraubt und jeden umbringt, den er dabei antrifft. Anschließend löst er sich offensichtlich wie ein Geist in Luft auf, und weder von dem Verbrecher noch von seiner Beute findet man jemals wie­der eine Spur. Der Überfall auf die Bank in Bisbee, Arizona, ist sein fünfzehntes oder sechzehntes Verbrechen, und er bringt dabei zwei Bankangestellte und eine Passantin um.

Dies ist der Moment, als die Regierung der Vereinigten Staaten endlich be­schließt, dass die Jagd auf das Ungeheuer eröffnet werden muss. Sie beauftragt die Van-Dorn-Detective-Agency damit, den Schlächter zu jagen und zur Strecke zu bringen. Detektei-Gründer Joseph Van Dorn betraut damit seinen besten Mann, Isaac Bell.

Bell, ein rastloser, attraktiver Junggeselle Anfang Dreißig, unterscheidet sich von den üblichen Detektiven in wesentlichen Punkten. Entscheidend ist, dass er es eigentlich gar nicht nötig hätte, diesen Job zu tun. Er ist Spross einer Bankiersfa­milie und hätte im Grunde genommen Karriere in der elterlichen Bank machen können. Doch Bell zieht es hin zum Abenteuer. Er ist erfüllt von einem starken Gerechtigkeitsgefühl, liebt die intellektuelle Herausforderung, raffinierte Ver­brecher zur Strecke zu bringen und dabei die Spesen selbst zu tragen, schließ­lich ist er vermögend genug. Außerdem gehört er zu den handwerklich versier­ten Technikern und Bastlern, die sich neue Errungenschaften der Technik gern aneignen und benutzen, beispielsweise moderne Automobile. Und wie das bei Cussler stets so ist, spielen natürlich die technischen Gimmicks immer eine ganz besondere Rolle, auch in diesem Roman.2

Gleichwohl: als Bell seine Zentrale in Denver, Colorado, aufschlägt, um hier mit Hilfe einer kleinen Gruppe von Van Dorn-Agenten die Fährte des Schlächters zu verfolgen, ist es zunächst, als stochere man im Nebel. Niemand weiß, wie der Verbrecher aussieht, da er nie Zeugen lebend zurücklässt. Alle Sheriffs und Marshals, die nach den Banküberfällen ermittelt haben, tappten gleichfalls im Dunkeln. Isaac Bell merkt, dass die intellektuelle Herausforderung diesmal un­gleich höher ist als bei allen anderen Kriminellen, die er bereits gefasst hat.

Er sucht die Schauplätze der letzten Verbrechen auf und ist relativ bald über­zeugt davon, dass ein paar Fakten klar zutage liegen – der Schlächter ist ein hochintelligenter, sehr berechnender Mann, der als Einzeltäter arbeitet und of­fenkundig seine Ziele in Verkleidung vorher sorgfältig ausspäht.

Ein wenig wie Sherlock Holmes vorgehend – was einen wesentlichen Reiz des Romans ausmacht, wie ich fand – , versucht sich Bell in den Kopf des Verbre­chers hineinzuversetzen und kleinste Details zu einem Puzzle der feindlichen Persönlichkeit zusammenzubauen. Man bedenke allerdings, dass das alles zu ei­ner Zeit geschieht, als Fingerabdrücke noch fast eine fremde Wissenschaft dar­stellen. So etwas wie Fahndungskarteien existieren nicht, das Modernste an Kommunikationstechnik ist das Telegrafennetz. Flugzeuge und zumeist auch Au­tomobile sind quasi nicht vorhanden, und es grenzt an Zufall, wenn eine Bank einmal die Nummern ihrer Banknoten aufschreibt.

Doch in der Selbstüberschätzung begeht der Schlächter Fehler, winzige zumeist, und jeder würde sie übersehen. Isaac Bell, der selbst durchaus nicht fehlerlos ist, bemüht sich aber, jeden davon zu finden und den intellektuell Furcht erre­gend überlegen scheinenden Gegner in die Enge zu treiben. Dabei stößt er auf eine aufregende, rothaarige Schönheit, die sich Rose Manteca nennt und an­geblich eine Farmerstochter aus Los Angeles ist (eine Identität, die sich als falsch herausstellt und Bell misstrauisch werden lässt), die ihn schon recht gut zu kennen scheint. Und dann entdeckt er, wer der Schlächter ist, was ihn freilich fast das Leben kostet – und es ist ein Mann mit einem absolut untadeligen Ruf, der in seiner Heimatstadt vollkommen unangreifbar ist, in San Francisco.

Jedenfalls gilt das bis zum 18. April 1906 um 5.12 Uhr morgens… denn dann geht für die Bewohner der Stadt buchstäblich die Stadt unter – im verheerends­ten Erdbeben des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.3 Aber das ist nur der Start­schuss für den Showdown…

Clive Cussler hat mit Isaac Bell einmal mehr ein alter Ego von sich geschaffen, wie weiland mit Dirk Pitt von der NUMA. Mit dem der Van-Dorn-Agency schuf er zudem gleich eine fiktive Detektiv-Agentur, die er nach dem Vorbild der rea­len Agentur Pinkerton gestaltete. Und er konnte in dieser Zeit und diesem Meti­er endlich einmal aus dem Vollen schöpfen und seine Begeisterung für die Früh­zeit des amerikanischen Traumes ausbreiten. Oldtimer fahren als hochmoderne Fahrzeuge auf Amerikas Straßen, uralte Motorräder knattern als neumodische Errungenschaften durch die Städte, und ansonsten erlebt man Kutschen, Pfer­defuhrwerke, in San Francisco die Straßenbahnen, Elektrifizierung ist etwas sen­sationell Neues. Jack London und Enrico Caruso laufen dem Leser über den Weg, und die ganze Welt des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts erwacht auf faszinierende Weise wieder zu neuem Leben.

Ich schätze, Cussler hat es wirklich großes Vergnügen gemacht, den Roman zu schreiben. Er liest sich – wie in meinem Fall – mühelos in vier Tagen, so packend und durchaus raffiniert ist er gemacht. Manche Winkelzüge lassen sich zwar ohne weiteres voraussehen, aber dann wieder kommt man nicht umhin, wech­selweise vor der Raffinesse des Detektivs UND seines Widersachers den Hut zu ziehen.

Während man rasch mit Isaac Bell und seinem lässigen Lebensstil warm wird, fasziniert auf der anderen Seite die menschenverachtende Kaltblütigkeit und die berechnende Seelenruhe des Verbrechers, der sich unbesiegbar glaubt und zugleich offenkundig süchtig nach dem „Kick“ ist, den er erlebt, wenn er wieder Geld raubt und nach und nach mehr als 40 Menschen umbringt. Das Ende ist denn auch schrecklich und irrational – nicht zuletzt, weil ihn ein Element um den Sieg betrügt, mit dem er nicht gerechnet hat. Was genau das ist, soll nicht verraten werden. Tatsache ist jedenfalls, dass der Roman hohe Unterhaltungs­qualität aufweist.

Allerdings schätze ich, dass er ursprünglich als Einzelband konzipiert wurde – das beweist der irritierende Prolog, der nämlich am 15. April 1950 (!) spielt, also lange NACH der Haupthandlung. Üblicherweise spielen ja alle von Cusslers Prologen um Jahre, Jahrzehnte oder sogar Jahrtausende VOR der Haupthand­lung. Zu dumm ist es deshalb, dass es noch zwei weitere Isaac-Bell-Romane gibt, von denen „Sabotage“ sogar schon in deutscher Übersetzung vorliegt.4

Ihr ahnt es sicherlich schon – auch zu diesem Werk wird es in absehbarer Zeit einen Lesekommentar geben. Ich bin schon mal sehr neugierig auf das Buch. Also, Isaac Bell, wir sehen uns wieder…

© 2012 by Uwe Lammers

Doch, wenn man sich mal gedanklich Clive Cussler von der NUMA oder auch den Schatzsuchern, dem Ehepaar Sam und Remi Fargo, gelöst hat und mit voller Absicht in diese Zeit eintaucht, dann landet man in einer sehr faszinierenden Epoche, die mit dem Ersten Weltkrieg unwiderruflich untergegangen ist. Einen kleinen, verstörenden Vorgeschmack des grässlichen 20. Jahrhunderts bekom­men Bell und Co. ja schon beim verheerenden Erdbeben von San Francisco in diesem Band.

Außerdem lernt man als Leser allerdings noch ganz andere Dinge kennen: tech­nische Alternativentwicklungen etwa wie das Elektroauto. Oder berühmte bzw. berühmt werdende Zeitgenossen, die hier mal tragende Rollen haben, mal nur als „Sidekicks“ eingeführt werden, um die Story aufreizend zu illuminieren. Man spürt sehr deutlich, wie genussvoll sich Cussler in diese Welt und Zeit eingear­beitet hat, was es ihm für ein enormes Vergnügen bereitete, auf viele der mo­dernen Hilfsinstrumente zu verzichten, die für heutige Ermittler zur Verfügung stehen. DNS-Abgleiche? Internet-Bilddatenbanken der Verbrecher? Super­schnelle Rechenleistung für Verknüpfung komplexer Sachverhalte? Na, da muss man mal downgraden auf Karteikarten, Handschrift, Telegramme und Botenjun­gen. Das sorgt gelegentlich für haarsträubende, aber durchaus plausible Verzö­gerungen im Handlungsablauf und damit für eine erstaunlich wirksame Ver­schärfung der Dramatik.

Doch, das nächste Bell-Abenteuer kommt unbedingt, aber davon berichte ich dann erst im Jahr 2019. Zwischendurch gibt es noch jede Menge anderer inter­essanter Romane, auch von Cussler und seinen Kompagnons, die vorher zu be­schreiben sein werden. Aber wer von Isaac Bell nicht genug bekommen kann… googelt ihn, Freunde. Da ist schon viel erschienen.

In der nächsten Woche stelle ich euch mal eine wirklich alte Rezension vor, in der ich zwei Endzeit-Romane verglichen habe. Welche? Nun, das wird hier und jetzt noch nicht verraten, dazu komme ich in sieben Tagen.

Bis dann, meine Freunde, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Und es sollte vielleicht angemerkt werden, dass der Blanvalet-Verlag immer noch nicht gelernt hat, die ver­schiedenen Settings Clive Cusslers zu unterscheiden. Mit einer stumpfsinnigen Einfallslosigkeit werden die Juan Cabrillo-Abenteuer in der Werbung jedes Buches dauerhaft falsch unter die „Helden der NUMA“ rubri­ziert, mit denen er wirklich so gut wie überhaupt nichts zu tun hat. Der Verlag sollte das wirklich endlich mal lernen und die Werbung abändern, er blamiert sich wirklich permanent damit – und das im direkten Umfeld eines Autors, der sich bei ihnen schließlich sehr gut verkauft. Ziemlich peinlich…

2 Cussler selbst hat übrigens in diesem Roman selbst keinen seiner üblichen „Gastauftritte“… wenn man von einer Erwähnung eines früheren Falls von Bell absieht, wo er angeblich einen Verbrecher namens „Big Foot Cussler“ zur Strecke gebracht haben soll. Und im Prolog stößt man auf den vermutlich fast unvermeidlichen Leigh Hunt, einen früheren Freund Cusslers, den er gern in vielen seiner Romane an prominenter Stelle un­tergebracht hat. An manchen Stellen geriet ich allerdings ins Schleudern, so bei der Erwähnung eines Elek­troautos (!) im Jahre 1905, was nicht unmöglich sein mag, aber doch zumindest die meisten Leser so verdut­zen wird wie mich. Schließlich hält man Elektrofahrzeuge ja doch eher für einen Trend aus dem Ende des 20. Jahrhunderts. Es mag freilich sein, dass es diesen Trend als technologische Sackgasse schon 1905 gab (wie halt auch Edison und seine qualvollen Versuche, elektrischen Gleichstrom nutzbar zu machen und Nikola Teslas Wechselstrom zu diffamieren – was den Siegeszug des Wechselstroms nicht aufgehalten hat).

3 Es empfiehlt sich übrigens, als ergänzende Lektüre zu diesem Buch (oder als Vorbereitung) ein packendes Sachbuch zu lesen, nämlich Simon Winchester: Ein Riss durch die Welt. Amerika und das Erdbeben von San Francisco 1906, München 2006. Ich nehme an, da die Originalausgabe von Winchesters Buch 2005 erschie­nen ist und Cusslers Roman auf Amerikanisch im Jahre 2006, dass hier ein direkt inspirativer Zusammenhang besteht.

4 Nachtrag vom 12. Mai 2018: Das ist natürlich eine längst veraltete Information aus dem Gestern. Inzwischen gibt es schon rund ein Dutzend Bell-Abenteuer, da sich der Van-Dorn-Agent und das historische Setting als sehr gut verkäuflich erwiesen haben. Die Romane werden nach und nach gelesen und dann ebenfalls hier rezensiert werden.

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