Rezensions-Blog 190: Polarsturm

Posted November 14th, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

eigentlich mag ich Clive Cussler. Und im Grunde genommen tut es mir in der Seele weh, einem Roman ein schlechtes Zeugnis auszustellen, zumal dann, wenn ich den Verfasser im Kern sehr gut leiden kann. Aber wenn es nun einmal halbgares Unsinnsgarn ist, das spürbar lieblos daherkommt, dann kann ich an­dererseits bei meiner Rezensentenehre auch nicht anders, als zähneknirschend die Wahrheit einzugestehen.

Das heißt: der vorliegende Roman ist wirklich, abgesehen von ein paar Grund­ideen, nicht gut gelungen. Er ist Durchschnittskost, um es freundlich zu formu­lieren, zudem leider mit der heißen Nadel gestrickt und das an vielen Stellen einfach lieblos. Wer passionierter Vielleser ist und solch ein Werk in zwei Tagen verschlingt, um sich danach besseren Werken zuzuwenden, dem mag es halb­wegs gefallen. Aber wer sich als kritischer Leser versteht, der hat mit dieser Ge­schichte so seine Schwierigkeiten.

Ich zähle zu solchen Lesern. Und ja, ich lege unten mal schonungslos den Finger auf die wunden Stellen des Inhaltes. Mir scheint das fair gegenüber all jenen Leuten, die das Buch nicht kennen und sich vielleicht zu viel davon erwarten. Ir­gendwie hat Cussler grundsätzlich Probleme mit Romanen, die irgendwie mit der Arktis zu tun haben. Das hatten wir etwa schon bei „Akte Atlantis“ oder dem späteren Werk „Packeis“.1 Hier ist wieder so etwas.

So schlimm? Nun, das solltet ihr selbst entscheiden. Lauscht, worum es geht, und fällt selbst euer Urteil, ob dies in euren Augen ein lesenswertes Buch ist:

Polarsturm

(OT: Arctic Drift)

Von Clive Cussler & Dirk Cussler

Blanvalet 37469

512 Seiten, TB (2011 dt.)

ISBN 978-3-442-37469-4

Aus dem Amerikanischen von Oswald Olms2

Im Jahre 1848 ist die Arktis wenig kulant gegenüber den wagemutigen briti­schen Seeleuten unter Sir John Franklin, die schon seit Jahren versuchen, die le­gendäre Nordwest-Passage zwischen dem polaren Atlantik und dem polaren Pa­zifik zu finden und zu durchsegeln. Seit 1846 stecken die Segelschiffe „Terror“ und „Erebus“ im unerbittlichen Klammergriff des Eises fest. 1845 aufgebrochen, hat ihr bei Trafalgar ausgezeichneter Kommandant Franklin einkalkuliert, dass die Schiffe im Packeis eingeschlossen werden könnten. Aber er hat die Gewalt der Natur unterschätzt. Zunächst geht er selbst 1847 im ewigen Eis zugrunde, danach all seine Männer. Niemand wird jemals wieder entdeckt, abgesehen von wenigen Leichen, die viele Jahre später zusammen mit kärglichen Aufzeichnun­gen auf der King-William-Insel gefunden werden. Franklin und seine Schiffe sind vom Eis verschlungen worden, und mit ihnen ein unheimliches Rätsel…3

In der Gegenwart, im April 2011, ist die Welt aus vielerlei Gründen eine andere geworden, und selbst die so unwandelbar scheinende Arktis verändert sich drastisch. Grund dafür ist die globale Erwärmung. Die Menschheit heizt seit Jahrhunderten durch das Verfeuern fossiler Brennstoffe einerseits und das Ab­holzen von Regenwäldern andererseits das Weltklima an, und für die nahe Zu­kunft drohen Umweltkatastrophen ungeahnten Ausmaßes, Küstenlandstriche werden mitsamt ihren Städten im Meer versinken, Unruhen um Rohstoffe und Lebensraum, Wasser und sich verschiebende Territorialgrenzen entbrennen.

In dieser Zeit taut auch die legendäre Nordwest-Passage zunehmend ab. Per­mafrostgebiete erwärmen sich, Ressourcen, die dort lagern, werden zugänglich, und insbesondere der kanadische Tycoon Mitchell Goyette ist begierig dabei, sein Firmenimperium auszudehnen und sich unter den Nagel zu reißen, was er kann. Dabei ist er skrupellos genug, sich mit dem Mäntelchen des Wohltäters zu umhüllen. Mit seiner Firma „Terra Green“ hat er sich auf die Fahnen geschrieben, ökologische Methoden der Energiegewinnung auszuloten und sie im großen Maßstab zu realisieren. Eines dieser Verfahren ist dringlicher denn ja – die so genannte CCS-Technologie. Dabei wird das bei der Verbrennung bzw. Förderung fossiler Brennstoffe frei werdende Kohlendioxid, ein Treibhausgas, aufgefangen, verdichtet und verflüssigt und in unterirdische Lagerstätten hineingepresst und so dem Klimakreislauf entzogen. Auf diese Weise könnte es gelingen, die UN-Klimaschutzziele, die inzwischen verbindlich geltend gemacht worden sind (in Cusslers Roman!), einzuhalten.

Namentlich die USA und Kanada haben damit erhebliche Probleme. Die Kanadi­er setzen bei der umstrittenen Gewinnung von Ölsanden enorme Mengen CO² frei, die Nordamerikaner suchen ihren Energieengpass durch kanadisches Erd­gas zu umgehen. Goyette bietet beiden Fraktionen offensichtlich eine elegante Lösung für das Problem. Aber in Wahrheit laufen seine Pläne ganz anders. Er geht auf rücksichtslose Weise vor und lässt in großem Stil Politiker bestechen, Unterlagen fälschen und handelt zudem noch respektlos und ohne jede Geneh­migung mit den Chinesen, die er über die Nordwest-Passage mit eigenen Eis­brechern und Tankschiffen mit Ölsanden aus Kanada beliefert. Und wer seinen Plänen im Weg steht, für den arrangiert Goyette kurzerhand eine Begegnung mit einem angeheuerten Killer namens Clay Zak, der die „Hindernisse“ auf rüde Weise aus dem Weg schafft.

Außerdem beginnt der Tycoon damit, durch eine Reihe von verheerenden Zwi­schenfällen, die zahlreiche Menschenleben kosten, die USA und Kanada gegen­einander auszuspielen. Er möchte so die Amerikaner von potentiellen Erdgasfel­dern im Polarkreis verdrängen und sie selbst übernehmen.

Zu dumm ist nur, dass er durch seine Machenschaften die jungen NUMA-Wis­senschaftler Summer und Dirk Pitt argwöhnisch macht und ein Mordanschlag auf sie fehlschlägt. Und dann entdeckt eine junge US-Wissenschaftlerin überra­schend in den Staaten bei einem Experiment eine ungewöhnliche Eigenschaft des Minerals Ruthenium, die, wenn man hinreichende Mengen des Minerals zur Verfügung stellen könnte, dazu führen würde, dass die gesamte Energiever­sorgung der Welt und damit möglicherweise auch das Klimaproblem drastisch entschärft werden könnte. Die Konsequenz bestünde allerdings im erneuten Zufrieren der Nordwest-Passage und damit in Goyettes Ruin. Begreiflich, dass er, als er davon Kenntnis bekommt, alles daransetzt, diese Entwicklung schon im Ansatz abzuwürgen.

Ruthenium ist allerdings außerordentlich selten, und die einzigen Fördergebiete sind längst erschöpft. Es scheint also so zu sein, als wäre das Problem im Prinzip gar nicht so dramatisch… bis auf einmal herauskommt, dass es im hohen Nor­den offenkundig eine unbekannte Quelle für Ruthenium gibt. Denn die Proben, die zur Verfügung stehen, stammen von den Inuit, die sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Wesen bekommen haben sollen, die sie „schwarze Kobluna“ nennen… und die offenkundig in einem direkten Zusammenhang mit der ver­schollenen Franklin-Expedition stehen…

Man kann dieses Buch in drei Tagen lesen, wie ich es getan habe, und ich sage es mal vorsichtig: wer nicht viele Cussler-Romane kennt, wird es womöglich so­gar interessant finden. Als Kenner habe ich freilich einen sehr viel schärferen Blick darauf, man kann auch sagen: einen misstrauischeren, und leider gibt die­ses Buch insofern sehr viel Anlass zur Kritik.

Fangen wir mal mit den Rahmendetails an, um uns dann anschließend ein biss­chen in die Kernidee zu verbeißen und abschließend ein paar Worte zu den Protagonisten zu sagen:

Auf dem Titelbild sieht man einen Taucher über einem versunkenen Flugzeug­wrack. Dazu lässt sich nur sagen: frei phantasiert. Es gibt keine versunkenen Flugzeuge in diesem Buch. Taucher kommen natürlich vor (es geht ja um die NUMA, gell? Ein Buch über die NUMA ohne Taucher wäre etwa so logisch wie ein Buch über die Wüste ohne Sand).

Nehmen wir den Titel hinzu: „Polarsturm“ betrifft etwa nur 50-60 Seiten von mehr als 500. Das ist doch zumindest eine recht schiefe deutsche Titelgebung, die man ebenfalls vergessen sollte.

Hinzu kommen Karten: im Grunde etwas, was ich gerne mag. Wenn sie solide sind. Die hier sind es nicht. Die erste Karte zur Nordwest-Passage hat so etwas wie einen Maßstab (aber ohne Zahlenangabe!), die weiteren Karten ersparen sich Maßstäbe dann ganz. Unsolide und lieblos gemacht, muss ich konstatieren. Nicht jeder hat die Möglichkeit, sich historische oder gegenwärtige Karten von NATIONAL GEOGRAPHIC daneben zu legen, um die Route der Franklin-Expediti­on oder die von Dirk Pitt senior und seinen Gefährten, die sich auf die Jagd nach dem Ruthenium machen, genauer anzuschauen.

Kommen wir zur Kernidee: der Gedanke der in meinen Augen äußerst proble­matischen CCS-Technologie (über die ja auch in Deutschland als mögliche Alter­native zur Vermeidung eines drastischen weltweiten Temperaturanstiegs ernst­lich diskutiert wird) ist äußerst nachdenkenswert und hier auf eine Weise in die Tat umgesetzt, die durchaus geeignet ist, Skepsis zu schüren. Es werden hier mit Recht Argumente aufgebracht, die zeigen, dass Unfälle (oder absichtlich herbei­geführte Verdampfungen konzentrierten CO²s) erhebliche Risiken für die Tier- und Pflanzenwelt in sich bergen. Leider wird der Gedanke inhaltlich nicht allzu sehr vertieft und schließlich als eindimensionales Actionelement missbraucht. Schade.

Der damit verwobene Gedanke der Franklin-Expedition ist zwar interessant, aber er fußt auf einem eindeutig nachweisbaren Schnellschuss des Autorendu­os. Kurze Zeit vor Fertigstellung dieses Buches erschien Dan Simmons´ Roman „Terror“ (2007)4, der was zum Inhalt hatte? Das Schicksal der Franklin-Expediti­on! Wer hier keine direkten Inspirationslinien sieht, ist offenkundig blind. Cuss­ler sprang einfach munter auf den Zug auf, und entsprechend fällt dieser Teil der Geschichte dann eher etwas halbherzig aus. Er hätte wesentlich mehr dar­aus machen können, wenn er z. B. nicht nur einen Eisbären, sondern auch noch die Inuit in Person in die Geschichte integriert hatte. Sie wäre so länger, interes­santer und sicherlich auch um einiges glaubwürdiger geworden. Aber es sollte leider ein Schnellschuss werden und ist es auch geworden.

Der nächste Gedanke kam mir auch sehr vertraut vor: Jagen wir nach einem verschollenen Schiff bzw. einer verschollenen Expedition, um ein wertvolles Mi­neral zu finden, das es nur dort gibt und nirgendwo sonst. Und wenn wir das Ziel erreichen, stellen wir fest, dass alles völlig anders ist, als wir uns das so ge­dacht haben… woher, so dachte ich, kenne ich DEN Gedanken bloß? Ich brauch­te nicht lange zu suchen, um in meinem Bücherregal fündig zu werden. Der Quell dieser Idee heißt… Clive Cussler. Präzise gesagt: wir finden dieselbe Idee in seinem Buch „Hebt die TITANIC!“, 1977 auf Deutsch erschienen.5

Damals nannte sich das Mineral Byzanium, und es wurde benötigt, um ein stra­tegisches Abwehrsystem der USA im Kalten Krieg funktionsfähig zu machen. Of­fensichtlich war es mit der TITANIC auf den Meeresgrund gesunken, woraufhin die NUMA sich entschloss, die TITANIC zu finden und zu heben. Nach Hebung des Schiffes stellte man aber fest, dass das Byzanium dummerweise gar nicht an Bord war… und sehr ähnlich verhält es sich auch im vorliegenden Roman um Franklins Schiff „Erebus“.

Die Konsequenz lautete bei mir also: Gähn. Irgendwie alles schon bekannt. Das war nicht so richtig der große Hit, muss ich gestehen. Selbst wenn man zugeben muss, dass Cussler so langsam ob der sehr ähnlichen Handlungsideen die origi­nellen Gedanken ausgehen, muss es SO phantasielos dann doch nicht sein. Wer von sich selbst bereits abkupfert, befindet sich erkennbar in einer Notsituation (vermutlich musste das Buch rasch fertig werden…).

Aber die Personen, vielleicht gab es ja begeisternde Personen in der Story? Nun, das Hauptpersonal von der NUMA war grundsätzlich bekannt. Dirk Pitt, seine Frau Loren Smith, Pitts Kinder Dirk und Summer, die üblichen Statisten Julien Perlmutter, Al Giordino, Rudi Gunn, Jack Dahlgren usw. Auf der positiven Seite gab es eher nichts großartig zu entdecken. Das war auch schon mal peppi­ger in Aktion zu sehen…

Auf der Finsterling-Seite vielleicht? Mitchell Goyette ist eine Person, die nur aus „Gier, Gier, Gier, mache Geld, mache mehr Geld, schmiere noch mehr Politiker, betrüg die Leute, raff, raff“ zu bestehen scheint.6 Eindimensional bis zum Kli­schee. Wenn Cussler damit durchblicken lassen wollte, dass er alle reichen In­dustriellen für eingebildete Raffzähne hält, hat er hier ein wenig zu stark aufge­tragen.

Und sein Killer Zak? Überheblich, arrogant, selbstgefällig und ebenfalls geldgeil, außerdem zugleich jemand, der gern halbe Sachen macht. Legt einen Spreng­satz, geht außer Sichtweite und beobachtet nur, dass da eine Explosion ist. Ziel erledigt, schön, Abreise – dass die Zielpersonen gar nicht mehr am Explosions­ort waren und er folglich sein Ziel munter verfehlt hat, fällt ihm gar nicht auf. Das passiert mehrmals und lässt den Killer dann doch reichlich dämlich dastehen. Sein Ende ist dann auch entsprechend trottelig, wie ich finde. Keine glorreiche Person und schon gar nicht interessant.

Nein, das Personal ist kein Plus. Und auch die Vorstellung, dass ein einzelner In­dustrieller es schaffen sollte, Kanada und die USA in einen Krieg (!) zu hetzen, ist doch ziemlich albern. Wer diesen Roman darum gut findet, hat offenbar ei­nen schlechten Geschmack.

Sorry, Familie Cussler – bitte noch einmal zurück auf Null und von vorn anfan­gen!

© 2012 by Uwe Lammers

Tja, das war dann nicht wirklich berauschend, nicht wahr? Das stimmt. Aber der Rezensions-Blog ist halt eine Abwechslungsveranstaltung, und so führe ich euch in der kommenden Woche zu einem faszinierenden Techno-Thriller um Künstli­che Intelligenz. Das Thema ist ja gerade wieder in aller Munde (u. a. durch Ro­mane von Andreas Brandhorst und Frank Schätzing), aber das hier ist dann ein deutlich früherer Vertreter des Genres. Um welches Buch und welchen Autor es geht? Lasst euch da mal überraschen.

Bis bald, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu die Rezensions-Blogs 123 vom 2. August 2017 und 167 vom 6. Juni 2018.

2 Der erste Schreibfehler, der auf ausgeprägten verlegerischen Dilettantismus hindeutet, findet sich schon im Hinweis auf den Ursprung des Romans. Im Innern heißt es nämlich „Aus dem Englichen (sic!) von Oswald Olms“. Ob Olms oder – wie auf dem Umschlag angegeben – Michael Kubiak den Roman wirklich übersetzt haben, ließ sich nicht herausfinden. Verlegerische Sorgfalt sieht anders aus.

3 Nachtrag vom 6. Juni 2018: Als Cussler 2008 den Roman verfasste, konnte er natürlich nicht wirklich wissen, dass ihn die Geschichte überholen würde, und zwar ziemlich rasant. Ich wusste das 2012, als ich die Rezensi­on verfasste, ebenso wenig. Der ein Jahr zuvor in Deutschland erschienene Roman kann heute in weiten Tei­len als veraltet gelten. Die beiden Schiffswracks der Franklin-Expedition wurden 2014 und 2016 in den Nord­polargewässern ausfindig gemacht, sind also heute nicht mehr verschollen.

4 Er liegt mir vor, wurde aber noch nicht gelesen.

5 Vgl. dazu im Detail meinen Rezensions-Blog 87 vom 23. November 2016.

6 Fühlt sich da irgendwer an die Scientologen erinnert mit ihrem „Mache Geld, mache mehr Geld“? Warum bloß? Das kann sich nur um einen reinen Zufall handeln…

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