Rezensions-Blog 194: Seuchenschiff

Posted Dezember 12th, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

man mag ja skeptisch sein gegenüber Autoren, die Romanbestseller am Fließ­band produzieren, umso mehr, wenn sie sich dann verstärkt auf Coautoren stüt­zen. Clive Cussler ist in dieser Liga seit Jahrzehnten aktiv, und wer meinen Blog schon länger verfolgt hat, weiß natürlich einige Dinge zur Genüge: Zum einen, dass ich eine starke Affinität zu Cussler und seinen Geschichten habe. Zum an­deren aber auch, dass mir das nicht restlos das Hirn vernebelt und ich durch­weg imstande bin, bei diesem Autor auch mal sehr kritisch zu verfahren und klar zu sagen, wenn er unausgegorenen Käse schwafelt.

Außerdem ist mir natürlich, ich habe das schon verschiedentlich erwähnt, eben­falls klar, dass er nicht ständig Bestseller produzieren kann, sondern fast natur­gesetzlich immer mal wieder ausgesprochen schwache Werke erschafft. Nun ist das Gegenteil aber auch der Fall – dass manchmal so beeindruckend packende Werke entstehen, die einen wie ein Strudel in die Tiefe des Buches saugen, so dass man kaum wieder freikommen kann.

Das haben wir hier vorliegen – ein unglaublich dramatisches, raffiniert gespon­nenes Buch, das den Leser, der sich darauf einlässt, umgehend packt und von Anfang bis Ende fesselt. Das hat man selbst bei Clive Cussler selten. Hier gelingt es. Der so lapidare Titel täuscht ebenso wie das Cover gründlich über den Inhalt hinweg.

Schaut darum besser mal genauer hin:

Seuchenschiff

(OT: Plague Ship)

Von Clive Cussler & Jack du Brul

Blanvalet 37243

640 Seiten, TB, 2010

Aus dem Amerikanischen von Michael Kubiak

ISBN 978-3-442-37243-0

Eine Warnung vorweg, damit ihr euch nachher nicht beklagen könnt über die dunklen Ringe unter den Augen: dieses Buch ist ein echter page-turner und so dramatisch geschrieben, dass vermutlich jeder Leser, der es in die Finger be­kommt und die früheren Abenteuer der OREGON-Crew mit Genuss gelesen hat, ernste Schwierigkeiten haben wird, dieses Buch loszulassen, ehe es ausgelesen ist.

Sagt also nicht nachher, ich hätte euch nicht gewarnt. Aber ich sekundiere die Eingangswarnung mit einer weiteren Bemerkung: es lohnt sich, diese Geschich­te zu lesen, und zwar ungemein.

Der Roman beginnt mit einem Cussler-typischen Prolog, diesmal in einer eisi­gen Nacht am 29. April 1943 hoch über der nördlichen See bei Norwegen. Ein Aufklärungsflugzeug der Großdeutschen Luftwaffe ist unterwegs und sucht alli­ierte Konvois, die Nachschubmaterial nach Europa bringen. In der Tat wird ein solcher Konvoi gesichtet, und er wird dem Aufklärer zum Verhängnis, der es, schwer angeschlagen, nur noch mit Mühe in einen norwegischen Fjord schafft. Hier meint der junge Ernst Kessler, ein Gebäude gesehen zu haben, das offenbar direkt im Eis steht. Es ist in Wahrheit etwas ganz anderes, aber dieses Wissen kann er nicht mehr weitergeben.

Dann erfolgt der Zeitsprung in die Realgegenwart: im Persischen Golf ist ein heruntergekommener Trampdampfer dabei, den Hafen von Bandar Abbas zu blockieren – scheinbar nur aus technischen Problemen heraus. Selbst die Ha­fenverwaltung schöpft keinen Verdacht. Der Leser ahnt indes und wird darin bald bestätigt: es handelt sich um die OREGON unter ihrem Kommandanten Juan Cabrillo, also dem Helden dieser Romanserie, diesmal im Auftrag der CIA unterwegs, um herauszufinden, ob die Iraner entgegen geltender rechtlicher Verträge von verkaufsfreudigen Russen spezielle superschnelle Torpedos zur Aufrüstung ihrer U-Boote erhalten haben.

Um es kurz zu machen: das ist beinahe der letzte Auftrag der OREGON-Crew, und das bedeutet natürlich – dieser Part des Romans ist schon ultraspannend, und dabei ist das nichts weiter als der klassische „Prolog“, wie ihn ein früherer James Bond-Film aufwies. Erst danach geht es richtig zur Sache, denn während der Absatzbewegung vom Golf ortet die OREGON ein offenbar steuerloses Schiff, das zumindest eine Bergeprämie verspricht.

Leider ist das nicht drin, und zwar überhaupt nicht – denn kaum sichtet die Crew das Schiff, wird ihnen klar, dass hier ein schreckliches Verbrechen began­gen worden ist. Es handelt sich um das Kreuzfahrtschiff „Golden Dawn“, und alle Besatzungsmitglieder sind tot, offensichtlich an einer Form von hämorrhagi­schem Virus umgekommen, bei dem der Tod durch spontanes Verbluten auf­tritt, ähnlich wie bei Ebola.

Juan Cabrillo und einige Gefährten begeben sich in Schutzanzügen an Bord und entdecken zu ihrem Unglauben tatsächlich eine einzelne Überlebende, die jun­ge Jannike Dahl aus Norwegen. Unter großen Schwierigkeiten gelingt es, die völlig verstörte junge Frau in Sicherheit zu bringen (über die Natur der Schwie­rigkeiten verrate ich besser nichts Näheres, ihr könnt ruhig ein wenig an den Fingernägeln kauen, wenn sie eintreten).

Cabrillo ist daraufhin jedenfalls fest entschlossen, den dafür Verantwortlichen das Handwerk zu legen, zumal einiges darauf hindeutet, dass dieser Massen­mord erst der Anfang war. Warum Jannike dem Verhängnis als einzige entgan­gen ist, bleibt lange ein völliges Rätsel, auch natürlich, wie diese „Seuche“ über­tragen worden ist. Und solange das nicht bekannt ist, kann man auch nicht sa­gen, wie der Gefahr zu begegnen ist.

Derweil hat sein Technischer Direktor, Max Hanley, ein höchst privates Problem, das auf den ersten Blick keinerlei Verbindung zu den Vorfällen besitzt, in die die OREGON-Crew so unvermittelt hineingeschlittert ist. Er lebt nämlich seit länge­rem geschieden von seiner Frau, und ihr gemeinsamer Sohn Kyle ist nach Aus­kunft der verängstigten Ex-Ehefrau in gewisser Weise auf die schiefe Bahn gera­ten – er hat sich einer sektenartigen Bewegung angeschlossen, den so genann­ten „Responsivisten“, die von dem Schriftsteller Dr. Lydell Cooper gegründet wurde.1 Coopers Credo lief darauf hinaus, dass die Menschheit sich durch ex­plosive Vermehrung über kurz oder lang selbst vernichten würde, und die „Re­sponsivisten“, die sich frühzeitig sterilisieren lassen, sollen auf diese Weise Ver­antwortung („Responsibility“) für ihr Handeln übernehmen und zukunftsbe­wusst und vorbildhaft wirken.

Kyle befindet sich in Griechenland in einem geschlossenen Komplex der Re­sponsivisten, und Max hat vor, seinen Sohn dort herauszuholen und ihn zu ei­nem Sektenspezialisten zu bringen, der Kyle von der zweifelsohne erfolgten „Gehirnwäsche“ wieder auf den Boden der Tatsachen bringen soll. Es sieht, al­les in allem, nach einer relativ einfachen Aufgabe aus, zumal Juan ihm personel­le Unterstützung zugesagt hat.

Um es kurz zu machen: die Befreiungsaktion endet beinahe in einem Massaker, und das so harmlos scheinende Responsivistencamp macht jeder Festung einer Militärdiktatur Ehre. Nur um Haaresbreite gelingt die hochdramatische und un­erwartet blutige Operation.

Zwischendurch kommt auch ans Tageslicht, dass die meisten Opfer auf der „Golden Dawn“ Responsivisten waren, die zuvor auf den Philippinen gearbeitet haben. Damit kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass die Responsivis­ten zumindest stark in den Massenmord involviert sind und eine Menge – auf höchst militante Weise – zu verbergen haben.

Die Leiter der Bewegung, Thomas und Heidi Severance, scheuen jedenfalls kei­ne Mühe, den „entführten“ Kyle Hanley zurückzuholen. Sie setzen darauf einen Mann an, der sich selbst Zelimir Kovac nennt (was nicht sein wirklicher Name ist) und in den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien in den 90er Jahren an ethni­schen Säuberungen beteiligt war und skrupellos und unerbittlich über Leichen geht. Es macht ihm ausdrücklich Spaß, zu foltern und zu töten. Diesem Ruf macht er in diesem Roman wirklich alle grässliche Ehre.

Bald ist zu erkennen, dass ein höllischer Countdown am Ticken ist, und wohin auch immer die Suchenden unter Juan Cabrillo vorstoßen, sie kommen stets zu spät. Ob es auf den Philippinen ist, wo sie auf die Reste eines alten japanischen Chemiewaffenlabors stoßen, ob es in Italien ist, wo Max Hanley auf brutale Weise von Kovac entführt wird oder in Hollywood, wo einer von Juans Crew eine Fährte zu einer prominenten Schauspielerin und Responsivistin verfolgt.

Ihnen allen läuft auf grässliche Weise die Zeit davon, und es scheint keine Mög­lichkeit mehr zu geben, das Verhängnis, das sich schon auf den Weg gemacht hat, die Welt einem furchtbaren Schicksal zu überantworten, aufzuhalten…

Oh ja, spannend ist das Buch in der Tat, und wie! Ich musste mich wirklich im­mer wieder zwingen, damit aufzuhören und etwas anderes zu tun, sonst wäre ich fraglos für mehrere Tage „außer Gefecht“ gewesen. Das will was heißen. Außerdem ist es mit Abstand der umfangreichste Band der OREGON-Serie, und auch das hat einiges zu bedeuten. Im Gegensatz zu vielen sonstigen späten Cussler-Romanen sind die Gegner hier nicht einfach nur stumpfsinnige Hautot-Charaktere mit wenig Hirn, sondern sie haben tatsächlich einiges auf dem Kasten, denken weit voraus, erwägen klug (und verheerend) Alternativen und unterlaufen immer wieder auf bestürzende Weise die ebenso klug durchdachten Pläne Cabrillos. Dieses Kräftemessen verleiht dem Roman enorme Dynamik und fördert das flüssige Lesen ungemein.

Hinzu kommt dann noch das Grundthema: Dr. Lydell Coopers Thesen, dass die Menschheit von sich aus mit der hemmungslosen Vermehrung nicht aufhören würde und darum die Grundlagen ihrer Existenz selbst auslöschen wird, sind leider nicht völlig von der Hand zu weisen. Auch die Argumentation, woran das liegt – nämlich an der gezielten Ausschaltung natürlicher Selektionsfaktoren wie Fressfeinden oder Seuchen, Bekämpfung des weltweiten Hungers oder der Kin­dersterblichkeit – ist in sich auf beunruhigende Weise stichhaltig. Gleichwohl ist natürlich die Schlussfolgerung, die Cooper und seine Nachfolger daraus gezo­gen haben, grundverkehrt und strikt kriminell.2 Und als man als Leser erst ein­mal herausfindet, wer Cooper wirklich war und wo er seine „Lehrjahre“ ver­bracht hat, ist es mit der Sympathie für seine Ideen wirklich restlos vorbei.

Mit dem Thema an sich aber wandert Jack du Brul nun auf den Spuren seines Kollegen Paul Kemprecos (dem Verfasser der Kurt Austin-Abenteuer): die sozial­kritischen Themen, sozusagen die essentiellen Themen der Menschheit im frü­hen 21. Jahrhundert kommen hier deutlich stärker zum Vorschein und werden besser und intensiver problematisiert als in Cusslers früheren fast reinen Aben­teuer- und Actionromanen.

Das Buch hat also aus zwei Gründen uneingeschränktes Plus verliehen bekom­men: einmal wegen der wirklich äußerst rasanten, intelligenten Handlung und zum anderen aufgrund des oben genannten Grundthemas.

Und nein, zu den Keilschrifttafeln, die eine sehr wichtige Rolle für das Verständ­nis des Gesamtkomplexes spielen, sage ich natürlich weiter nichts. Das muss man wirklich gelesen haben – sehr bemerkenswerte Idee! Da hätte ich mir dann schon etwas mehr gewünscht, aber man kann bekanntlich nicht alles haben…

© 2012 by Uwe Lammers

Ja, ihr solltet das Buch suchen gehen, wenn euch jetzt sinnbildlich das Wasser im Munde zusammenläuft und ihr gern die GANZE Story hättet. Es lohnt sich wirklich.

In der kommenden Woche entführe ich euch in eine ganz andere, fremd er­scheinende Welt, die man eigentlich nur noch durch eine Art von satirischem Fernglas richtig akzeptieren kann. Welche Welt meine ich? Die Vereinigten Staa­ten von Amerika. Wie ich das meine? Da solltet ihr kommende Woche mal wie­der vorbeischauen, dann erfahrt ihr die Einzelheiten.

Bis dahin macht es gut, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Verschiedene Indizien im Roman legen nahe, dass die Parallelen zu der Scientology-Sekte, die einst vom Schriftsteller L. Ron Hubbard gegründet wurde, durchaus nicht zufällig gewählt sind. Das ist meiner Ansicht nach ein weiteres Plus des Romans.

2 In dieser Hinsicht ist dieses Buch übrigens sehr verwandt mit dem deutlich später geschaffenen Film „Kings­man. The Secret Service“. Die zentrale Absicht der Villains in beiden Werken ist sich ziemlich ähnlich.

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