Liebe Freunde des OSM,

vor vier Wochen lockte ich euch das erste Mal in dieses satirische Comic-Paral­leluniversum, fußend auf den Charakteren von Sir Arthur Conan Doyle. Damals war das gewissermaßen für Zeichner und Texter noch eine Warmschreibübung, könnte man sagen. Vielleicht waren sie sich auch des Erfolges noch nicht restlos gewiss und dachten sich: na, lieber erst mal kurze Episoden verfassen, ehe wir uns an den Wurf einer durchgängigen Storyline wagen.

Diesmal sind sie verwegener, diesmal geht es vordergründig um den im Titel vorkommenden Club, in dem man… vornehm ausgedrückt… seltsamen Hobbys nachgeht. Und gelegentlich dabei stirbt. Was dann Scotland Yard und den bera­tenden Detektiv auf den Plan ruft. Einen Detektiv, der auf obskure, nachgerade panische Weise schwächelt… sehr lesenswert, unbedingt.

Ernster Zwerchfellerschütterungs-Alarm, sollte ich vielleicht warnend vorweg sagen. Wer gerade mit einer Magenverstimmung laboriert, sollte sich diesen Band zu Gemüte führen, wenn sich seine Verstimmung gelegt hat. Lachen kann man hier gar schrecklich viel.

Neugierig geworden? Dann mal auf ins Abenteuer:

Baker Street 2:

Sherlock Holmes und der Club der tödlichen Sportarten

(OT: Sherlock Holmes et le Club des Sports Dangereux)1

Piredda-Verlag

Von Pierre Veys & Nicolas Barral

Berlin 2010

52 Seiten, geb.

ISBN 978-3-941279-36-0

Wird Sherlock Holmes alt? Das fragt man sich, je weiter man in diesem Comic kommt, der schon zu Beginn subtil andeutet, dass es eine Menge Probleme hin­ter der eigentlichen Handlung gibt (es lohnt sich also sehr, den Comic mehrmals mit viel Geduld und vor Kichern verkrampften Bauchmuskeln zu lesen!). Fangen wir einfach mal mit der ersten Seite an.

Nächtlicher versuchter Einbruch bei den Limehouse Docks in London. Ein Schat­ten fällt über den entsetzten Dieb, und dann… Themenwechsel, kein Wort mehr davon. Stattdessen befinden wir uns am nächsten Tag in der Baker Street 221B, wo Holmes und Watson beim Brettspiel spielen sind. Inspector Lestrade stürmt die Wohnung und bittet um ihre Mithilfe: ein Informant hat ihm erklärt, er habe eine brandheiße Spur zum „meistgesuchten Terroristen des Königreichs“: Jack the Bearder, so genannt, weil er überall Porträts von Königin Victoria mit Bärten verziert. Sherlock Holmes hat keine Ahnung oder tut wenigstens so (aber war­um meint er dann erschrocken: „Ich war’s nicht! Ich habe ein Alibi!“, als die Sprache auf den Verbrecher kommt? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt… aber das ist natürlich nicht das letzte Wort in der Angelegenheit).

Kurzum: dieser Besuch an den Docks, wo der Informant Lestrade seine Kennt­nisse vermitteln möchte, endet in einer Katastrophe, in der Watson beinahe in einem Meer aus Bier ersäuft wird. Dabei geht vieles unter, so auch ein Holzpfos­ten, der mit eigenartigen runden Verzierungen bedeckt ist (was das bedeutet, kommt erst sehr viel später wieder zum Vorschein). Zwar gelingt es, dieses Dra­ma um den infamen „Bieranschlag“ zu enträtseln, aber inwiefern das dann dazu führt, dass Scotland Yard abbrennt, muss man nachlesen, das ist zum Brüllen.

Und von da ab hat man das untrügliche Gefühl, dass Holmes alt wird.

Lestrade erscheint mal wieder, zusammen mit seinem Cousin Brodie2, gerade noch zeitig, um eine extreme Eifersuchtsszene zwischen Holmes und Watson zu unterbrechen (der nämlich hat entdeckt, dass Watson reichlich Post von weibli­chen Verehrerinnen erhält, die nicht immer so richtig seriös sind. Ein Beispiel: „Ich wage es nicht, Doktor Watson anzusprechen… darum bitte ich Sie, ein gu­tes Wort für mich einzulegen… ich verfüge über gute Kenntnisse der schotti­schen Küche… eine sehr komfortable jährliche Rente… eine hübsche Sammlung Single Malt und habe einen großen Busen…“ Aha, sagt man da doch nur, und Watsons knallrotes Gesicht spricht Bände).

Doch zurück zum Besuch von Inspector Lestrade: diesmal führt Lestrade sie zu einem „unlösbaren“ Todesfall in den „Club der tödlichen Sportarten“, und damit sind wir dann mitten im Geschehen: Die Tür war von innen verschlossen, der Mann – Dr. Nicholas Spota – ist offenkundig friedlich im Schlaf verstorben.3 Hol­mes argwöhnt dennoch Mord, und er findet auch ein ungewöhnlich selten vor­kommendes Insekt in totem Zustand. Danach jedoch befragt, was das mit dem Fall zu tun hat… ratloses Schweigen und Schweißausbrüche.

Holmes hat es nicht rausbekommen, da treffen Watsons Gedanken ins Schwar­ze.

Allerdings sind Holmes und Watson in der Zwischenzeit schon Mitglieder im Club geworden, weil nur Vereinsmitglieder das Gelände betreten dürfen und sonst logischerweise die Nachforschungen behindert wären. Wie eine uner­müdliche Klette klebt Inspector Lestrade an ihrer Fährte, und mit ihm natürlich sein Cousin… und zumindest für Lestrade und Watson wird das sehr schmerz­haft werden (ich deute nur mal an, um nicht den ganzen Spaß zu verderben: es hat etwas mit einem Helm, einer Kiwi, einer Ballonfahrt und Kakteen zu tun, nicht zu vergessen die Mausefalle und das „Gadget“ des Inspectors, ein Spazier­stock mit mehr oder weniger ordentlich ausfahrender Klinge).

Während Watson immer ungnädiger mit seinem Kollegen umspringt, kümmert sich Sherlock Holmes gar nicht um das „rätselhafte Massenverschwinden“, das in London immer noch andauert (man erinnere sich an Seite 1!), auch Lestrade kümmert das offenbar überhaupt nicht (Zitat Lestrade: „Kümmern sich die Ver­schwundenen etwa um ums? Siehst du!“). So denkt Watson immer öfter dar­über nach, „den Detektiv zu wechseln“, von dem erfolglosen Holmes zu einem anderen, was Sherlock freilich schockiert.

Watsons Meinung wird eher noch bestärkt, als Holmes im Fall der tanzenden Rennmaus des Mr. Crimson auch völlig ratlos ist und beinahe einen Nervenzu­sammenbruch erleidet. Warum dann aber der notorisch in seiner Teetasse rüh­rende Inspector Lestrade die Blockade durchbricht und Holmes auf die richtige Fährte führt, muss man selbst nachlesen. Wieso dann der Fall Spota, der an­schließend neu aufgerollt wird, zu einem weiteren Bad im Bier führt, ist auch köstlich lesenswert. Und völlig haarsträubend wird es dann, als Holmes nach ei­nem grässlichen Alptraum jählings zu begreifen beginnt, was es mit dem rätsel­haften Massenverschwinden auf sich hat…

Der zweite Comic der Baker Street-Reihe weist nicht eine Vielzahl von kleinen Vignetten auf, sondern erzählt eine durchgehende Geschichte, die durch viele subtile Andeutungen zu einem großen Ganzen zusammengeschnürt wird. Der Titel führt deshalb ein wenig in die Irre, denn es geht noch um ganz andere Sa­chen… die freilich ohne Mitwirkung des „Clubs der tödlichen Sportarten“ und der vielen dort vertretenen, schrulligen Personen nicht denkbar wäre. Es ist nur eins bedauerlich – dass die dramaturgisch interessante Lösung des Massenver­schwindens aus rein biologischen Gründen vermutlich nicht möglich ist. An­sonsten aber halte ich diesen Band strukturell und vor allen Dingen wegen der zahllosen kleinen Gemeinheiten, die hier gebracht werden, durchaus für besser als den ersten Band. Wirklich: selten so gelacht, auch im Wiederholungsfall!

Wer kein absoluter Holmes-Purist ist oder schon den ersten Band mit Vergnü­gen und Gekicher verschlungen hat, sollte sich den hier ganz bestimmt nicht entgehen lassen!

© 2011 by Uwe Lammers

Ja, das ist schon so ein schockierendes wie satirisches Abenteuer gewesen, und das Schönste daran dürfte sein, dass es ja noch Fortsetzungen davon gibt. Ich komme zu gegebener Zeit darauf zurück.

In der Rezension der kommenden Woche begeben wir uns in ganz andere Gefil­de, sowohl geografisch wie zeitlich. Wir machen einen Sprung ins ausgehende 17. Jahrhundert, und wer sich immer schon für Piratengeschichten begeistern konnte und bei wem in diesem Zusammenhang das Jahr 1692 ein wohliger Schreck durch den Körper geht, der ist hier ganz exakt richtig.

Nächster Stopp: Port Royal, 1692.

Es geht um Piraten, Geister, Magie, Flüche und Schlimmeres. Demnächst an die­ser Stelle.

Bis dann Freunde, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Wenn ich als nicht des Französischen Mächtiger das richtig interpretiere, hat man im Deutschen den Titel dramatisiert, und aus den „gefährlichen“ Sportarten wurden tödliche. Die französische Variante ist eigentlich zutreffender und sowieso sinnvoller – was machte eine tödliche Sportart auch für einen Sinn, außer für aus­gesprochene Selbstmörder…?

2 Vgl. dazu „Baker Street 1“ – da es viele solcher Querverweise gibt, empfiehlt es sich sehr, die Comics in der richtigen Reihenfolge zu lesen, das gilt ganz besonders für die Bände 3 und 4, zu denen beizeiten noch mehr gesagt werden wird.

3 Von innen verschlossene Türen sind in Holmes-Geschichten durchaus weit verbreitet, sowohl im traditionel­len Kanon von Arthur Conan Doyle als auch später. Erst jüngst las ich eine solche Story: „Der ägyptische Gnom“ von Martin Barkawitz, enthalten in der Anthologie „Das Geheimnis des Geigers“ von Alisha Bionda (Hg.). Dort allerdings ist der Tote vermeintlich an einem Schuss in die Schläfe gestorben. Indes, Holmes weist nach, dass er ertrunken ist. Wie das im Britischen Museum in einem von innen abgeschlossenen Raum mög­lich sein soll? Es lohnt sich, das nachzulesen. Aber das ist hier nicht weiter zu thematisieren.

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