Rezensions-Blog 20: Hände aus Samt

Posted August 12th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

na, ihr erinnert euch noch an den Blogeintrag vom 13. Mai 2015, nicht wahr? Heute kehren wir in dieses Terrain zurück, zu den erotischen Romanen. Emma Holly, über deren Werk ich heute eine Rezension allgemein zugänglich mache, hat sich auf diesem Gebiet ebenfalls ausgiebig ausgebreitet. Herausgekommen ist ein aufregendes Werk mit gewissen Ecken und Kanten, insofern ist die Re­zension unten nicht ausschließlich positiv, sondern mit ein paar Eintrübungen versehen worden. Aber ihr seid ja nicht hier, um reine Lobeshymnen zu lesen, nicht wahr? Ihr seid ihr, weil ihr kritische, neugierige Leser seid, die gern mal über den Tellerrand schauen.

Und so schauen wir jetzt mal in die Tiefen der menschlichen Psyche:

Hände aus Samt

(OT: Velvet Glove)

von Emma Holly

Heyne-TB 13910

352 Seiten

Dezember 2003, 6.95 Euro

Übersetzt von Joachim Pente

Euer Rezensent ist ja einiges gewohnt, was erotische Romane angeht, das ist wohl allgemein bekannt, allerspätestens seit dem Artikel „Die natürlichste Sa­che der Welt“.1 Dennoch ist er es gewohnt, dass Romane eher beschaulich an­fangen – so etwa in dem kürzlich beendeten Buch „Die Vermieterin“ von Pat O’Brien.2 Doch wie geht es HIER los? Folgendermaßen:

Die Ketten schabten mit leisem Rasseln über die Stuckwand, als Audrey die Arme streckte. Es musste Stunden her sein, seit Sterling sie nackt ausgezogen und unter dem Säulengang angekettet hatte…“

Man denkt, man ist im falschen Film, insbesondere eingedenk des – völlig irre­führenden! – Titels. Samthände sollte hier wirklich niemand erwarten. Rasch lässt die Autorin den Leser spüren, dass man in eine sinistre Halbwelt abtaucht, in der derlei Dinge zur Tagesordnung gehören. Doch vielleicht sollte ich vorne anfangen und nicht schon in die Interpretation springen.

Audrey Popkin ist ein 22 Jahre junges, bildhübsches Mädchen, das sich von den Eltern gelöst hat und mit wenigen Freunden in Washington zusammen gelebt hat. Sie hat es bereits weit gebracht und ist trotz ihrer Jugend bereits Geschäftsführerin in einer Boutique für Trendkleidung gewesen. Bis zu jener verhängnisvollen Reise…

Ihr bester Freund Tommy, der erkennbar mehr sein möchte als nur ein Freund, macht mit ihr eine Reise nach Florida. Doch bevor sich die Dinge zwischen ih­nen weiter entwickeln können, taucht der charismatische Bankier Sterling Fos­ter auf und wickelt Audrey regelrecht um den Finger, anders kann man es nicht nennen.

Ehe sie begreift, was passiert, reist Tommy wütend zurück gen Norden und sie landet in Fosters Bett – allerdings gefesselt und mit Hieben traktiert, die in Au­drey eine unbegreifliche, nie erlebte Lust wecken. Tief in ihr schlummerte ein Charakterzug, den Foster sofort erkannte, eine Haltung, die Audrey als „Sub“ charakterisiert, als die geborene Dienerin. Und Sterling Foster ist ein überaus erniedrigender, grausamer Herr, ein Dom.

Nach Wochen dieser unglaublich wonnevollen, aber auch von tiefer Verzweif­lung erfüllten Unterwerfung gelingt es Audrey schließlich mit letzter Kraft, vor ihm zu flüchten. Doch sie ahnt nicht, dass Foster mit dieser Entwicklung gerech­net hat – er hält sie nach wie vor an der langen Leine und engagiert einen Pri­vatdetektiv, der ihr weiterhin nachspäht. Wenn sie sich von ihm zu sehr frei­macht, so überlegt sich Audreys „Herr“, dann wird er ihr zeigen, wie kurz die Leine ist, an der sie läuft. Aber er ist davon überzeugt, dass sie ohnehin zu ihm zurückkehren wird, durstig nach der dominanten Macht ihres Beherrschers. Und er hat nicht völlig unrecht.

Die ganz verunsicherte, verstörte Audrey, deren Berufsleben nun in Scherben liegt, ist entwurzelt und kehrt nach Washington zurück, zu ihrem Freund Tom­my. Dieser hat zwischenzeitlich zwar etwas mit der Cliquenfreundin Cynthia an­gefangen, aber am meisten entflammt er nach wie vor für Audrey. Natürlich stürzt er in den Keller des Unglaubens und Entsetzens, als sie ihm gesteht, die Schläge und Peitschenhiebe, die Sterling ihr hat angedeihen lassen, durchaus auch genossen zu haben.

Und dann tritt jener Mann in Audreys Leben, der von Sterling auf Umwegen an­geworben worden ist, um sie weiter zu domestizieren: der Barbesitzer Patrick, der sich ihr Vertrauen erschleicht und zugleich von neuem zu beherrschen ver­sucht.

Aber die Sache gerät außer Kontrolle…

Ich gestehe, nach dem ersten Kapitel brauchte ich erst mal ein paar Tage Ruhe, um den wirren Kopf wieder zu klären. Das lag durchaus nicht an dem Durchein­ander in jenen Seiten, denn dort gab es kein Durcheinander. Nein, es war mehr diese wahnwitzige, surreale Stimmung, diese jähe, unvermutete Existenz einer Halbwelt direkt neben der normalen, in der Dinge normal sind, für die wir sonst eigentlich nur Alpträume reservieren, aus denen wir dankbar aufwachen kön­nen.

Hieraus kann man nicht aufwachen.

Neugierig, wie sich die Sache weiterentwickeln würde, drang ich tiefer und tiefer in den Roman vor, einem Mineur nicht unähnlich, der sich auf der Spur edlen Minerals befindet. Und das Mineral ist, wenn man so will, Audreys Herz und ihre Charakterwandlung, die mit grundlegenden Veränderungen anderer Charaktere der Geschichte einhergeht.

Auf sehr spannende Weise wird hier die Charakterhaltung einer Frau geschil­dert, die sich von dominanten Männern angezogen fühlt und, wenn man die richtigen Signale gibt, gleich einem gut dressierten Tier Dinge tut und ihre Ein­willigung für Handlungen gibt, die dem unvoreingenommenen Leser wenigstens wahnwitzig vorkommen. Es ist aber nicht zu bestreiten, dass diese Handlungen erregend sind. Zwar scheut sich Emma Holly nicht, wortreich sexuelle Taten in zahlreichen Details zu schildern, aber es gelingt ihr stets so, dass es nicht origi­när obszön wirkt.

Diese unheimliche Existenz einer Geheimwelt innerhalb der unsrigen, wo Men­schen ein Doppelleben führen und auf der einen Seite Geschäftsführerin sein können, um nächtens dann ihrer Existenz als Stripperin nachzugehen (um nur eine Rolle von vielen zu nennen), diese Welt ist geeignet, als Fokus zu wirken. Ein Fokus etwa auf die Rolle von amerikanischer Doppelmoral, die hier ebenfalls schön aufs Korn genommen wird, namentlich in der Rolle von Tommy und Cyn­thia, die zwar beide so gerne volle sexuelle Wonnen möchten, ihren Orgasmus erleben wollen usw., sich aber einfach nicht trauen oder zu sehr auf die Gefühle des anderen Rücksicht nehmen, um das zu erreichen, was sie begehren. In die­ser Rolle bedarf es dann – im Roman – einer schamlosen Person, die sich kess über Zaudern und Zögern hinwegsetzt und einfach mit vulkanischer Gewalt die Lust entfesselt. Man kann den Roman also streckenweise auch als ironische Kritik an der üblichen Doppelmoral und Heuchelei lesen, was ihn sehr vergnüg­lich macht. So ein wenig findet man sogar den durchaus amerikanischen Drang zur Psychoanalyse wieder („Komm, lass uns doch drüber reden. Was hast du denn für Probleme im Bett?“ Zum Schreien.).

Bei der Glaubwürdigkeit der Charaktere mutet die Autorin dem Leser, der ein bisschen tiefer sieht als der Leserdurchschnitt, der nur gut unterhalten werden möchte (der ist hier genau richtig), jedoch einiges zu. Weshalb? Nun, schauen wir uns mal die Hauptpersonen näher an:

Audrey, beispielsweise, fällt nachgerade aus dem Nichts. Die Eltern kommen nicht ein einziges Mal zu Wort, ihre Vorgeschichte, die sie ja gerade geprägt ha­ben sollte, wird eigentlich nicht thematisiert, m. E. ein kapitaler Fehler. Wahr­scheinlich wirkt es deshalb auch später so aufgesetzt, als genau das bei Patrick versucht wird.

Eine gute Freundin, die etwa im gleichen Alter von Audrey war, als ich diese Re­zension verfasste, wird wohl bestätigen können, dass es nicht sonderlich realis­tisch ist, mit 22 Jahren schon fernab der provinziellen Eltern zu wohnen, keiner­lei Kontakt mit ihnen zu haben und absolut auf eigenen Füßen zu stehen, erst recht nicht in den allgemein so familienfreundlichen USA. Fernerhin: weshalb flüchtet Audrey nicht zu ihren Eltern zurück, sondern zu Tommy, mit dem sie sich ohnehin verkracht hat? Hier fehlt dem Roman einiges an plausiblen Boden, an kritischen Reflexionen Audreys, die ihre Entscheidungsfindung transparenter machen. Das hat zur Folge, dass Audreys weiteres geschildertes Leben in Wa­shington wie durch einen Tunnelblick wahrgenommen wird. Das ist zwar un­strittig spannungssteigernd, aber sehr unrealistisch.

Über den etwas wackelig dargestellten Homosexuellen Basil, bei dem sich die Autorin offensichtlich bis zum Schluss nicht recht entscheiden kann, ob er nun homo oder hetero sein soll, wird auch nicht allzu viel klar. Ich empfand ihn eher als eine Belastung, aber mir ist bekannt, dass viele Leserinnen von männlicher Homosexualität angezogen werden. Möglicherweise war das also als auflagen­steigernde Ingredienz eingeplant.

Patrick Dugan, der Barbesitzer, macht zwar gleichfalls im Laufe des Buches eine Charakterwandlung durch, aber die Begründung dafür und für sein allgemeines Verhalten stellte mich dann schlussendlich doch überhaupt nicht zufrieden. Hier arbeitete gewissermaßen der große Weichzeichner.

Dasselbe gilt für den „monströsen“ Sterling. Das fand ich wirklich sehr bedauer­lich, weil Emma Holly hier massiv dramatisches Potential verschenkte. Das war unzweifelhaft Absicht, aber es zeigte mir auch, dass sie definitiv davor zurück­schreckte, brutale Gewalt in Szene zu setzen.

Wen jedoch diese Details nicht interessieren und wer eine faszinierende, teil­weise erschreckende erotische Geschichte im Dunstkreis der S&M-Szene lesen möchte, die, was die erotische Anregung angeht, sehr wirksam ist, der ist hier ausgezeichnet aufgehoben. Die Sprache ist gelungen, die Handlung weist keine signifikanten Brüche oder Lücken auf, sie bleibt durchgängig plausibel und hält immer wieder prickelnde Überraschungen bereit. Wenn ich da alleine an die beiden Jadekugeln denke… oh, oh, oh!

© by Uwe Lammers, 2004

Wer neugierig auf das Werk geworden sein sollte, kann es sich bestimmt noch antiquarisch besorgen. Ich denke, da ich es selbst vor mehr als zehn Jahren nur noch auf dem Wühltisch fand, ist es aus dem Verzeichnis lieferbarer Bücher längst entschwunden.

In der nächsten Woche an dieser Stelle kehren wir zurück in Peter F. Hamiltons „Armageddon-Zyklus“. Und ich denke, das solltet ihr nicht versäumen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Nachzulesen in BWA 242, November 2003. Es handelt sich um einen Sammelartikel über erotische Literatur.

2 Vgl. bei Interesse: Pat O’Brien: Die Vermieterin, Bastei 14770. Die erste Hälfte ist ganz neckisch, der Rest so la la.

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