Liebe Freunde des OSM,

ja, das ist das dritte respektlose Persiflage-Abenteuer aus der Baker Street-Co­micreihe, das sich diesmal mit besonderem Vorzug einem englischen National­heiligtum nähert (Tee), um selbiges mit einem weiteren englischen Nationalhei­ligtum (Sherlock Holmes) ebenso schockierend zu bekämpfen. Ich musste schon 2011 in der Rezension konstatieren, dass der Angriff auf das Zwerchfell definitiv gelungen war. Aber ich habe diesbezüglich ja auch schon signalisiert, kein old-fashioned eiserner Verfechter des klassischen Kanons zu sein. Im Gegenteil – ich genieße solche bizarren Weiterungen des Holmes-Mythos durchaus. Da kom­men schon sehr interessante und bisweilen sehr gelungene Epigonengeschich­ten dazu, da hinein würde ich Barrals und Veys´ Comicalben unbedingt zählen.

Wer die Stirne runzelt ob des seltsamen Covers und sich verzweifelt fragt, was wohl die „Kamelienmänner“ sein mögen und inwiefern sie mit den verschiede­nen Teesorten zu tun haben und wie um alles in der Welt das in diesen literari­schen Kosmos um Sherlock Holmes hineinpasst… nun, der sollte einfach weiter­lesen und sich neugierig machen lassen.

Vorhang auf für:

Baker Street 3:

Sherlock Holmes und die Kamelienmänner1

(OT: Sherlock Holmes et les Hommes du Camellia)

Piredda-Verlag

Von Pierre Veys & Nicolas Barral

Berlin 2010

52 Seiten, geb.

ISBN 978-3-941279-37-7

Und wieder machen wir uns auf in den Parallelkosmos, in dem Pierre Veys und Nicolas Barral „ihre“ Version des Lebens und Wirkens des beratenden Detektivs Sherlock Holmes und seines Kompagnons und „Eckermanns“ John Hamish Wat­son verfolgen, niedergelegt in (bisher?) fünf Bänden der Comicserie „Baker Street“.2

Der dritte Band konfrontiert uns mit dem üblichen morgendlichen Drama: Mrs. Hudson, der man an der roten Nase und dem derben Umgangston unschwer ansehen kann, dass sie eifrig und intensiv dem Alkohol zuspricht (etwas, was sich im Verlauf dieses Bandes drastisch ändert, dies sei angedeutet, und es hat was mit Zigarren und Peitsche zu tun), serviert Watson und Holmes das Früh­stück. Der Leser erkennt im zweiten Blick, dass sie eigentlich zwei ausstaffierten Strohpuppen serviert und ist schon am Grinsen und Rätseln auf Seite 2. Des Rätsels Lösung – die beiden Freunde sind Mrs. Hudsons morgendlichem An­schlag auf ihre Gesundheit entgangen und lassen es sich in einem Gourmetre­staurant schmecken. Nicht ahnend, dass das Verhängnis naht.

Auf dem frohgemuten Rückweg in die heimatliche Baker Street werden sie völ­lig unvermittelt von einer Gruppe Chinesen entführt und unter einem erhellen­den, munteren Vorzug über den chinesischen Tee, namentlich Oolong-Tee, in gefesseltem Zustand buchstäblich zwangsabgefüllt und dann laufen gelassen.

Der unbegreifliche Einlauf hat eine nicht minder verständliche abführende Wir­kung, doch zurück in der Baker Street finden sich die beiden auf einmal in der Hand einer Horde von Turban tragenden Asiaten wieder, die sie gleichfalls wie­der fesseln und diesmal einem weiteren Tee-Einlauf unterziehen, ebenfalls un­ter vermeintlich unterhaltsamem Vortrag über Ceylon-Tee.

Als sie wieder freigelassen werden, müssen sie – einigermaßen entlastet, wobei sich bei Holmes eine massive Tee-Phobie breit macht, die sich bereits durch das Wort „Tee“ aktivieren lässt und zu giftgrünem Gesicht und hastigem Abgang bei ihm führt – entdecken, dass auch die arme Mrs. Hudson solcher Kur unterzogen worden ist, wenigstens von den Tamilen (denn solche stellten die zweite Grup­pe, wie Holmes rasch erkennt).

Was es indes mit diesen obskuren Vorkommnissen auf sich hat, wird klarer, als sie Besuch von einem braungebrannten, schwarzlockigen Mann bekommen, der fatal aussieht wie ein eingefärbter Inspector Lestrade von Scotland Yard (für den er anfangs auch gehalten wird). In Wahrheit heißt der Mann Thomas Clip­ton, kommt von Ceylon und hat ein ernstes Problem wegen einer Erbschaft: Sein Onkel Cornelius Clipton ist überraschend gestorben und Thomas soll bin­nen 6 Wochen die Erbschaft antreten, muss dafür aber vor Ort sein. Das ist auch deshalb für ihn von Bedeutung, weil er eigentlich in England einen neuen Teevertrieb für Ceylon-Tee (!) aufbauen möchte, was dem dortigen Monopolis­ten von der Firma Teawings (der China-Tee (!) vertreibt) natürlich ein Dorn im Auge ist. Da die Plantage von Cornelius Clipton zwangsversteigert wird, wenn Thomas nicht binnen der Frist auftaucht, ist anzunehmen, dass Teawings diese Reise zu torpedieren versuchen wird – denn auf diese Weise ließe sich Clipton recht schnell ruinieren, was seinen Teeplänen den Todesstoß versetzen würde.

Sherlock Holmes und Watson erklären sich bereit, ihm zu helfen, weil sie – be­rechtigt – argwöhnen, dass die Chinesen, die sie malträtiert haben, in den Diensten von Teawings standen (was stimmt; was sie nicht wissen, ist die Sache mit dem Teegebäck, aber das muss man selbst nachlesen). Womit die beiden Freunde dann aber eher nicht rechnen, ist die unerwartete Vergrößerung ihrer Reisegruppe: zum einen wird Inspector Lestrade hinzugezogen (gegen seinen Willen!), außerdem findet sich unerwartet Lestrades Bruder ein3, und schließ­lich haben wir da auch noch die erstaunliche Verwandlung der Mrs. Hudson zu gewärtigen, die als „Generalstabschefin“ nahezu alles managt und neben Reise­karten, landesüblicher Währung, Express-Abführmittel und Dynamitstangen so ziemlich alles dabei hat, was man eben so für eine abenteuerliche Reise quer durch Europa, Asien und Südostasien braucht. Und wir wollen mal ganz schwei­gen von dem enthusiastischen Fotografen, der auch noch auftaucht – er sorgt für weitere Verwirrungen und noch mehr Amüsement.

Es ist ein wirklich goldiges, von wahnwitzigen Einfällen durchwuchertes Aben­teuer mit zahllosen süßen, bissigen und neckischen Seitenhieben auf alles Mög­liche, was man sich nur denken kann, was hier auf den Leser abgefeuert wird. Zwar nehmen sich die Verfasser mal wieder eine muntere Übertreibung heraus, was das Titelbild angeht – Holmes und Watson paddeln durchaus nicht in einer Teekanne durch Indien – , aber es ist nicht sehr weit von der Realität entfernt, und das, was man geboten bekommt, entschädigt für das irreführende Titelbild bei weitem. Es lohnt sich ganz besonders, zu sehen, was ganz am Schluss passiert (das verrate ich natürlich nicht)…

Auch dieses Album des Autoren- und Zeichner-Duos Veys (Story) und Barral (Zeichnungen) zeigt deutlich, dass nicht nur, wie sie einleitend er­wähnen, „27311 Schimpfworte, 42349 Flüche, 11088 Verwünschungen und Bannsprüche, 2 Voodoopuppen sowie 3 Dutzend Nadeln notwendig (waren), um dieses Album zu realisieren“. Die Wirkung ist ähnlich durchschlagend wie die der Teezeremonie von „Teawings“ (in deren Firma man unschwer die Teemarke „Twinings“ wieder findet). Auch die Charakterisierung von Thomas Clipton ist an eine Teemarke angelehnt, nämlich „Lipton“-Tee (und als besonderer Witz, man sollte darauf achten, ragt aus dem hinteren Hemdkragen von Clipton immer die Lasche des Teebeutels!).

Ferner geht es natürlich um Teezeremonie, Teegebäck, um Elefanten, indischen Watson-Kult, Holmes´ notorische Eifersucht, Bienenstöcke, Quarantäneschiffe und einiges mehr. Mit viel Liebe zum sardonischen Detail wird auch diesmal der Holmes-Kanon munter durch den Kakao gezogen. Doch wie ich schon sagte: dies ist eben ein Paralleluniversum, und hier sind unsere Helden eben etwas charakterlich deformiert. Dem Vergnügen tut das keinen Abbruch, finde ich. Wer den ersten und zweiten Band gemocht hat, wird sich hier richtig heimisch fühlen. Es ist einfach ein respektloser Heidenspaß…!

© 2011 by Uwe Lammers

Ja, man spürt, wie ich beim Verfassen der obigen Zeilen vom Lektüre-Amüse­ment noch durchglüht wurde, und das durchaus mit Recht. Viele moderne Zeichner versuchen ja, sich auf dem Weg der Nacherzählung der klassischen Geschichten einen Namen zu machen… so zurückhaltend sind unsere beiden Genies hier nicht gewesen. Sie ziehen den Kanon, die Protagonisten und die zeithistorischen Themen einfach gnadenlos und genüsslich durch den Kakao. Und es ist definitiv ein großes Vergnügen.

In der kommenden Woche kehren wir zurück zum weitläufigen Oeuvre von Clive Cussler und seinen Kompagnons und schildern ein weiteres verwegenes Abenteuer zur See.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Das ist natürlich eine Anspielung auf die „Kameliendame“. Da ich in Opern eher nicht bewandert bin, kann ich diese Anspielung nicht aufschlüsseln. Leser, die mehr Breitenwissen über klassische Musik haben, sind hier klar im Vorteil. Aber auch ohne diese Kenntnis lässt sich der Comic hervorragend genießen.

2 Man sollte die Hoffnung auf weitere Bände nicht aufgeben. Wenn man bedenkt, wie viele Holmes-Epigo­nengeschichten es gibt, ist das sogar sehr realistisch, weitere Comics des Duos zum Thema Baker Street für sehr realistisch zu halten.

3 Vgl. dazu „Baker Street 1“. Man merkt hieran und an zahlreichen weiteren Details, dass die Baker Street-Alben ein systematisches Kontinuum darstellen, das man in voller Breite nur dann genießen kann, wenn man die Bände der Reihe nach liest.

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