Rezensions-Blog 204: Unter dem Pflaumensee

Posted Februar 20th, 2019 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

schon der Titel des heute im Fokus stehenden Werkes klingt einigermaßen ob­skur. Begreiflicherweise, stellen wir uns doch unter Pflaumen eher essbare Früchte vor. Ein See davon voll? Was soll das werden? Eine Obst-Gourmet-Ge­schichte? Wahrlich weit gefehlt, meine Freunde! Es geht um ein wahrscheinlich weitgehend vergessenes Jugendbuch, um Traumabenteuer, eine phantastische Reise unter das Meer in ein Reich jenseits der Vorstellungskraft. Und ja… viel­leicht ist das ein Traum. Womöglich ist es mehr.

Illustriert mit sehr zum Text passenden, grazilen Schwarzweiß-Bildtafeln hat man, wenn man die gebundene Ausgabe ersteht, die mir zufällig in die Hände fiel, hier ein phantastisches Werk vor sich, das wirkungsvoll und auf geradezu magische Weise aus der Wirklichkeit ausklinkt.

Nein, mehr zu verraten, wäre an dieser Stelle fatal. Lest einfach weiter und lasst euch von meiner damals schon etwas verzaubert klingenden Rezension aus dem Juli 2017 einfangen:

Unter dem Pflaumensee. Eine Fantasie

(OT: Under Plum Lake)

von Lionel Davidson

Rowohlt, Oktober 1981

180 Seiten, geb.

ISBN 3-498-01229-8

Aus dem Englischen von Karin Polz

Mit Illustrationen von Mike Wilks

Sein Name ist Barry Gordon, ein Junge von dreizehn Jahren, der eine ältere und eine deutlich jüngere Schwester besitzt. Zusammen mit seinen Eltern bewohnt er seit einiger Zeit ein verwittertes Gebäude hoch oben auf den Klippen. Das nächste Dorf ist eine Ortschaft namens „Seele“, und es gehen seltsame Legen­den um über den Ort, an dem sich die Gordon-Familie angesiedelt hat. Angeb­lich, so heißt es, sei hier ein ganzes Dorf im Meer versunken, Opfer eines Flu­ches, und die Bewohner seien dazu verurteilt worden, auf dem Meeresgrund ein unheimliches Geisterleben zu führen. Das habe damit zu tun, dass – eben­falls dem Hörensagen nach – die Bewohner jenes vermeintlich versunkenen Dorfes früher Schiffe zum Havarieren gebracht hätten, um sie danach auszurau­ben.

Der junge Barry glaubt nichts von diesen Dingen, doch er träumt davon, dass vielleicht einst Piraten einen Schatz hier versteckt haben könnten – etwa in den unzugänglichen Höhlen entlang der Klippen. Und als er eines Tages diesem Jun­gentraum nachgeht, geschieht das Ungeheuerliche, das ihn an den Rand des To­des bringt… oder, wenn das, was er anschließend niederschreibt, annäherungs­weise der Wahrheit entspricht, sogar darüber hinaus.

Denn in der Tat gelingt es Barry, einen Weg über einen versteckten Pfad zu den Höhlen zu finden. Doch ein Unwetter schneidet ihm den Rückweg ab. In dem Bestreben, die Höhle genauer zu erforschen, begegnet er überraschend einem anderen Jungen, der auf den Namen Dido hört. Damit beginnt alles.

Nicht nur, dass Dido ein Boot besitzt, es ist sogar ein Boot, das sich verwandeln kann und auf den Grund des Meeres hinabgleitet, hinab in eine märchenhafte Welt unter der Welt.

Dies ist das Reich von Dido und seinem Volk, das rätselhafte, phantastische und uralte Reich von Egonia, in dem die Wunder niemals aufhören und die unglaub­lichsten Dinge Realität sind. Doch indem Dido seinen neuen Freund Barry hier­her mitnimmt, bricht er ein Tabu – es ist verboten, Menschen von der Oberwelt mitzubringen. Und damit beginnt das Unheil…

Es ist ein wirklich wundersames Buch, das ich im Mai 2015 überraschend anti­quarisch fand. Ich blätterte es durch und wurde von den beeindruckenden schwarzweißen, fast surrealen Illustrationen sofort in den Bann gezogen. Auch der Titel „Unter dem Pflaumensee“ machte neugierig. Da das Buch keinen Um­schlag mehr besaß und mir der Autor Lionel Davidson vollkommen unbekannt war, fragte ich mich unweigerlich: was mag das für ein Buch sein? Was muss ich mir darunter vorstellen? Worum geht es da eigentlich? Was mag ein „Pflaumen­see“ wohl sein? Aufklärung darüber erhält man im Buch, und noch einiges mehr.

Nun, es lohnte sich, diese Lesereise in die Phantasie eines mir fremden Schrift­stellers anzutreten. Selbst wenn das Buch auf Lionel Davidsons WIKIPEDIA-Seite als „Kinderbuch“ charakterisiert wird, würde ich behaupten, dass das dem Werk nicht wirklich gerecht wird. Es ist zum Teil schon recht anspruchsvoll von seinen moralischen Implikationen und von daher wohl schon etwas inhaltlich höher­wertiger. Bestechend fand ich bei der Lektüre diesen geschmeidigen, sanftmü­tigen, ein wenig surrealen Stil – man ist sich über weite Strecken hinweg auf­grund der eigenartigen Fremdartigkeit des Settings nicht wirklich sicher, ob es sich hierbei um eine Art von Traumgespinst handelt oder doch um real Erlebtes. Der Handlungsrahmen umfasst lediglich drei Tage, doch sind sie so mit unglaub­lichen Erfahrungen angefüllt, dass einem Leser schier der Kopf platzt, wenn man versucht, sie alle Revue passieren zu lassen.

Das Traumhafte dieser „Fantasie“, die deutlich mehr Substanz hat, als man ein­gangs vermutet – das kommt dann gegen Ende recht unverblümt zum Vor­schein – , es übt einen beständigen, innigen Sog aus… ja, ein wenig wie ein schöner Traum, aus dem man nicht so schnell erwachen möchte und gleichwohl doch erwachen muss. Darin ist dieses Buch in all seiner Kürze leider sehr ähn­lich. Gute Bücher, und dieses hier ist ein gutes, meinem Empfinden nach, sind traditionell immer zu kurz. Es zahlt sich aus, die Lektüre über eine Woche aus­zudehnen. Vermutlich entfaltet es erst dann seinen wahren Reiz.

Sagen wir noch kurz ein paar Worte zu dem Verfasser: der in Hull, Yorkshire, ge­borene Lionel Davidson (1922-2009) arbeitete schon vor dem Zweiten Welt­krieg beim Wochenmagazin The Spectator, während des Krieges war er bei der U-Boot-Marine, danach selbständiger reisender Berichterstatter. Inspiriert vom Kalten Krieg kam er zum Schreiben von Spionageromanen, von denen zwischen 1960 und 1994 zahlreiche Bände erschienen. Dazwischen lag ein Abenteuerro­man („Die Rose von Tibet“, 1962) und eben auch zwei Kinderbücher, eins davon ist das vorliegende. Der Spionage-Erstling „Die Nacht des Wenzel“ (1960) wur­de 1964 verfilmt. 2001 wurde er für sein (Krimi-)Lebenswerk von der britischen Krimiautorenvereinigung CWA mit dem „Diamond Dagger“ geehrt.

In Anbetracht, dass sein vergleichsweise anspruchsloses „Kinderbuch“, das oben besprochen wurde, schon so interessant ausfiel, wäre vielleicht auch sein Krimi-Oeuvre eine Wiederentdeckung wert. Das obige Buch lohnt die Lektüre durch neugierige Phantasten auf jeden Fall.

Klare Leseempfehlung!

© 2017 by Uwe Lammers

In der nächsten Woche bleiben wir den britischen Inseln verhaftet und beschäf­tigen uns einmal mehr mit dem Detektiv von der Baker Street… in der karikie­renden Comicversion, in der es diesmal um ein unheilvolles Wesen geht, das nur mit „M.“ abgekürzt wird (kicher). Ihr werdet sehen, was das bedeutet.

Bis dann, meine Freunde, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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