Rezensions-Blog 245: Die Richelieu-Intrige (2)

Posted Dezember 4th, 2019 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

tja, es ist vielleicht ganz nützlich, wenn man vor Lektüre dieses Romans entwe­der Alexandre Dumas „Die drei Musketiere“ verschlungen hat, sich entspre­chende Verfilmungen zu Gemüte geführt hat… oder einfach Historiker ist. Es reicht zwar auch hin, wenn man einfach ein Faible für verwickelte Spionagege­schichten und Mantel- und Degen-Geschichten hat, aber klar ist eins: wer keine dieser Eigenschaften aufweist, könnte von dem vorliegenden Roman doch ziemlich verwirrt werden.

Es geht wild durcheinander, und der Kopf braust selbst dem Historiker wie mir, der sich mit dem 17. Jahrhundert eigentlich ganz ordentlich auskennt (zugege­ben, ich habe meinen Dumas nicht gelesen, und dass ich Verfilmungen des Musketier-Stoffes ansah, ist auch schon ein arges Weilchen her). Aber ich mag verwickelte Geschichten, die sich schlichten Plots verweigern, erst recht dann, wenn sie mit Zeitparadoxien zu tun haben wie in diesem Fall. Und so wurde ich, anfängliche personale Verwirrung hin, zeithistorischer Kontext her, sehr schnell in die turbulente Geschichte hineingezogen und wahnsinnig gut unterhalten.

Es ist eine Lese-Achterbahnfahrt, aber eine äußerst lohnenswerte, das könnt ihr mir glauben. Am besten ist, wir starten gleich mal ohne längere Vorrede ins Abenteuer:

Die Richelieu-Intrige

(OT: The Timekeeper Conspiracy)

von Simon Hawke

TIMEWARS Band 2

Bastei 23171

256 Seiten, TB

Dezember 1995, 9.90 DM

ISBN 3-404-23171-6

Lucas Priest hat sich in den Zeitkriegen ausgezeichnet und zuletzt die Mission um Richard Löwenherz und Ivanhoe im 12. Jahrhundert glücklich abgeschlos­sen. Von seinen drei Begleitern hat allerdings nur Finn Delaney überlebt, ein ziemlich zynischer Mann, der die Gabe hat, ständig mit der Armeehierarchie in Konflikt zu geraten und ziemlich wenig von den Zeitkriegen zu halten. Um nicht daran zu zerbrechen, hat er sich eine Schale aus Kaltschnäuzigkeit zugelegt und eine manchmal beleidigende Offenheit, die er auch gerne in Handgreiflichkei­ten übergehen lässt, wenn ihm etwas nicht in den Kram passt.

Konsequenterweise steht Delaney, als Lucas ihn diesmal wieder trifft, vor einem Disziplinarverfahren, das ihn vermutlich als Sträfling in die Asteroidengürtel-Mi­nen versetzen wird. Er kommt um diese Strafe herum, wird aber zusammen mit Lucas von dem altgedienten Schiedsrichter Forrester zu einem Einsatz „ausge­borgt“.

Normalerweise arbeiten die Soldaten des Zeitkorps autonom unter der Anlei­tung eines Schiedsrichters. Diesmal jedoch sind Lucas und Finn nur „Hilfsarbei­ter“ des ZND, des Zeit-Nachrichtendienstes, einer Art CIA des 27. Jahrhunderts, die alle Jahrhunderte infiltriert und dort versucht, gegen abtrünnige Zeitagen­ten vorzugehen, die etwas dagegen haben, dass die irdischen Nationen der Ge­genwart ihre Streitigkeiten in historischen Epochen gegeneinander austragen. Das nämlich stellt den Kern der sogenannten „Zeitkriege“ dar.

Als Dr. Mensinger, der Erforscher der Zeitreise, seine Theorien niederschrieb, hatte er eine furchtbare Angst davor, dass eines Tages die Menschen es schaf­fen würden, eine Teilung des Zeitstromes zu erreichen. Was harmlos klingt, ist in etwa eine Potenzierung des irdischen Holocaust: viele Milliarden Menschen verlören ihr Leben, ja, ihre schlichte Existenz, möglicherweise würde die menschliche Rasse schlechthin völlig ausgelöscht. Konsequent versucht das Schiedsrichterkorps, solche „Unfälle“ zu verhindern, die zu derartigen Störun­gen führen könnten.

Es existieren nun jedoch Idealisten, die als „Mensinger-Partei“ bekannt sind und versuchen, die Zeitkriege zu beenden, auf diplomatischem Weg sozusagen. Wie überall gibt es aber auch hier eine radikale Fraktion, die sich „Zeitwächter“ nennt. Und SIE haben zwar das gleiche Ziel, NOTFALLS ABER ÜBER EINE ZEIT­SPALTUNG! Der ZND versucht nun, in allen Epochen, die anfällig für solche Stö­rungen sind (und das ist quasi jede Epoche!), terroristische Aktivitäten der Zeit­wächter zu vereiteln. Für eine solche Operation werden Finn und Lucas ausge­borgt.

Sehr rasch stellen sie im Paris des Jahres 1625 fest, dass sie im Grunde genom­men nur Kanonenfutter des Geheimdienstes sind, Köder für das geplante Ma­növer des ZND gegen den Zeituntergrund.

Im Jahre 1625 herrscht in Frankreich nominell der König, in Wahrheit aber zieht Kardinal Richelieu die Fäden. Und im April desselben Jahres taucht hier ein jun­ger Mann namens d’Artagnan auf, um seine Dienste als Musketier anzubieten (kennen wir den nicht von irgendwoher???). Bevor er aber in Paris eintrifft, stol­pert er in einem Gasthof außerhalb der Metropole über zwei seltsame Men­schen, jemanden, der sich Dumas nennt und seinen irischen Freund Finn. Die beiden – „Dumas“ ist natürlich niemand Geringeres als Lucas Priest – haben echte Schwierigkeiten, erst mal den Ehrkomplex des jungen Heißspundes zu bändigen und ihn dann WIRKLICH auf den Grafen de Rochefort losgehen zu las­sen, wie es historisch korrekt ist.

Gleichzeitig wird von den hier inkognito arbeitenden ZND-Agenten Verbindung mit ihnen aufgenommen. Leiter ist ein Mann namens „Mungo“, nach eigenem Bekunden ein Meister der Tarnung, Verkleidung und des Meuchelmords. Er hat alle seine Leute mit Tarnbezeichnungen (wie „Kobra“, „Adler“, „Erdhörnchen“ usw.) versehen und entpuppt sich rasch als absolut unsympathisch und sehr un­durchschaubar. Lucas und Finn sollen nach seinem Plan in der Nähe der Muske­tiere bleiben – was durch den Zusammenstoß mit d’Artagnan natürlich sehr er­leichtert wird. Sonst bekommen sie aber kaum Informationen.

Die Zeitwächter, unter ihrem Chefagenten Adrian Taylor, sind hier irgendwo in Paris, aber niemand weiß genau, wie viele es sind, noch, wo sie sich aufhalten. Erst recht kann keiner sagen, was genau sie vorhaben. Denn dummerweise hat Taylor den eingeschleusten ZND-Agenten massakriert, bevor er alles herausbe­kommen konnte.

Doch das nützt sowieso nichts: rasch müssen die beiden Soldaten erfahren, dass Mungo Taylors Intimfeind ist und beide diese gefährliche Attacke auf die menschliche Vergangenheit als ein aufregendes „Spiel“ verstehen, in dem ei­gentlich jeder entbehrlich ist und sie einander nur umkreisen, um eine Blöße des Gegners zu finden und ihn auszuschalten. Dummerweise sind Lucas und Finn für Mungo nur „Bauern“ im Schachspiel, und da sie keinen Zeitschirm besitzen und bald darauf nicht einmal mehr moderne Waffen, stehen sie im alten Paris ziemlich hilflos da. Sie kennen nur Mungo als Ansprechpartner (wissen aber nicht, wo er sich aufhält). Sie kennen keinen der Gegner persönlich und keinen der anderen ZND-Agenten. Diese kennen SIE aber offensichtlich und können sie mehr oder weniger bequem umnieten, falls es ihnen in den Kram passt (denn auch die ZND-Leute sehen in ihnen eigentlich mehr ein Hindernis, das gegebenenfalls „ausgeschaltet“ wird, wenn es nicht „mitspielt“). Kein Wunder also, dass ihre Laune rasch auf dem Nullpunkt angelangt ist und sie auf die Geheimdienstler nicht mehr gut zu sprechen sind.

Richtig unsympathisch wird die Angelegenheit jedoch, als sich Komplikationen einschleichen. Ein „Neutraler“ aus dem Zeituntergrund, der Deserteur Hunter, taucht in Paris auf, in Begleitung einer knabenhaften jungen Frau namens André de la Croix, die im 12. Jahrhundert als fahrender Ritter gelebt hatte (siehe Band 1: „Das Ivanhoe-Gambit“). Er möchte, dass sie ein Implantat erhält, das ihr we­sentlich mehr über die Zeit und viel mehr Wissen vermittelt, als sie es im 12. Jahrhundert jemals haben konnte. Der einzige Mann, der ihr – illegal – ein sol­ches Implantat einsetzen könnte, ist aber ein ebenfalls desertierter Arzt namens Bennett, der als Doktor für arme Leute im Jahre 1625 in Paris lebt.

Dummerweise ist Bennett mit den Zeitwächtern zusammengekommen und ge­zwungen worden, seinen Zeitschirm, der ihm die Reisen in die Zukunft ermög­lichte, abzugeben. Adrian Taylor hat ihn darüber hinaus noch gezwungen, an ihm eine kosmetische Operation vorzunehmen.

Während sich Lucas und Finn noch darüber ärgern, von Mungo als Kanonenfut­ter und Köder benutzt zu werden, läuft ihnen André de la Croix über den Weg. Lucas, der niemals ein Gesicht vergisst, kann sich nur nicht erinnern, wer das ist, folgt ihr aber unwillkürlich … und so geraten sie in einen Strudel intriganter Ereignisse, die sich unablässig verschlimmern: Menschen, die die Masken ande­rer Menschen tragen, Personen, die eigentlich Geheimagenten sind, obwohl sie historische Persönlichkeiten sind, permanentes Misstrauen aller gegen alle und schließlich Doppel- und Dreifachtricks spitzen die Situation so zu, bis endlich, ganz zum Schluss, die Situation eskaliert und der Wahnsinn offen ausbricht …

Was auch immer Simon Hawke macht, eins ist sicher: seinen Alexandre Dumas hat er gut und gründlich gelesen. Die historischen Fakten sind ihm wohlbe­kannt, ebenso die Art und Weise, wie geheimdienstliche Infiltrationsoperatio­nen stattfinden und kontrolliert werden. Einen der am stärksten bleibenden Eindrücke hinterlässt die hysterische Geheimdienstparanoia, die meist sehr hin­derlich, an manchen Stellen aber auch segensbringend ist. Dass Hawke für Ge­heimdienste keine sonderlichen Sympathien hegt, spürt man überdeutlich. So, wie die Agenten geschildert werden, gibt es aber auch keinen Grund, sie sym­pathisch zu finden.

Besonders spannend ist für den Leser die Tatsache, dass die historischen Abläu­fe nach Möglichkeit ja nicht verändert werden sollen. Nur: was tun, wenn Myla­dy de Winter auf einmal mit einem Laser geköpft wird? Da ist guter Rat teuer, nicht wahr?

Weiterhin ist es doch etwas abenteuerlich (und amüsant!), den amourösen Es­kapaden eines d’Artagnan zuzuschauen, der ziemlich ungeniert dem Begriff des „Heißsporns“ eine sehr erotische Bedeutung gibt und sich dabei nicht mal schämt.

Die sehr amüsante und meist äußerst treffende Übersetzung von Bernd Kling trägt das ihre dazu bei, den Roman zu einem regelrechten „pageturner“ zu ma­chen, der gut und gerne noch hundert Seiten länger hätte sein können. Bedauerlicherweise endet er schon knapp nach Seite 250.

Gute Unterhaltung, historisch schön fundiert und als Ergänzung zu Dumas „drei Musketieren“ zu lesen, das kann man wenigen Romanen der Phantastik attes­tieren. Man kann eigentlich dem neugierigen Leser nur noch „Bon Appetit“ wünschen.

© 2001 by Uwe Lammers

Ihr merkt schon, dass es mir ein ordentliches Vergnügen bereitete, diese Rezen­sion vor 18 Jahren zu schreiben. Die Lektüre des Buches selbst ist noch um eini­ges kurzweiliger, versprochen.

Das ist bei dem Werk, das ich in der kommenden Woche vorstellen möchte, schon deutlich anders. Es ist nicht „schlecht“ im üblichen Wortsinne, aber ich stehe definitiv nicht hinter den Überzeugungen des Sachbuchautors, und je mehr ich von seinen Ansichten mitbekomme, etwa in der Fernseh-Dokumenta­tionsreihe „Ancient Aliens“, desto mehr seufze ich, desto skeptischer werde ich. Graham Hancock macht es sich doch gar zu leicht.

Inwiefern?

Das erfahrt ihr in der nächsten Woche an dieser Stelle. Ich freue mich darauf!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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