Liebe Freunde des OSM,

wie schon in der letzten Woche angedeutet, nehme ich euch heute mit in die Gegenwart zur aktuellen Literatur, die man noch immer im Buchhandel vorfin­den kann, und es ist zudem ein Werk, das man einfach nur köstlich genießen kann und in dem es unendlich viel zu lachen gibt. Wer immer die Verfilmung ge­sehen hat und anschließend das Buch las – wie es mir erging – , der hatte wo­möglich noch mehr Vergnügen als diejenigen, die umgekehrt vorgingen.

Lasst euch also entführen in den hohen Norden und in eine abenteuerliche Le­bensgeschichte eines Mannes namens Allan Karlsson. Und wer ihn noch nicht kennen gelernt haben sollte – holt das nach, Freunde!

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg

und verschwand

(OT: Hundraåringen som klev und genom föstret och försvann)

Von Jonas Jonasson

btb 74492

München 2009, 7. Auflage 2013

434 Seiten, TB

ISBN 978-3-442-74492-3

Man glaubt gar nicht, wie viel Gelächter man auf dieses Buch verwenden muss, um es zu überleben. Aber es ist tatsächlich die reine, lautere Wahrheit, dass man bei der Lektüre dieser Seiten ernstlich selbst Todesfälle im nahen persönli­chen Umfeld völlig vergisst – der Rezensent hat das in den letzten Tagen selbst alles mitgemacht und weiß bestens Bescheid. Und da er der Auffassung ist, dass man gute Bücher bekannter machen sollte, konnte dieses hier wahrhaftig nicht ausgespart bleiben. Es gab in dieser ganzen Angelegenheit nur einen einzigen Wermutstropfen: Das Vergnügen war so schnell vorbei (8 wirklich langsame Le­setage – langsam, um das Vergnügen zu strecken!). Alle Bücher haben ein Ende, und die guten sind seltsamerweise noch viel schneller ausgelesen als die schlechten, ganz gleich, wie umfangreich sie sind. Und man hätte doch gern noch mehr von Allan Karlsson und seinem Amoklauf-Gefolge gelesen, von optimierten Bibeln, betrunkenen Physikern, dem jungen Kim Jong-Il, Mao Tse-tungs Verlobter, dem Chefmörder des iranischen Geheimdienstes, Amanda Einstein und ihrem ebenso zerstreuten Ehemann Herbert Einstein (und schweigen wir davon, dass Glenn Miller laut Allan Karlsson ein Nazi gewesen sein soll, weswegen er, Allan, Miller ja auch umbringen musste) und vielem anderen mehr…

Wie, ich bin zu schnell? Na schön, dann fange ich noch einmal an.

Die Geschichte, wie ich zu diesem Buch kam, das ist vielleicht gescheiter, ist ein wenig gewunden. Und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, kam ich zunächst in den Genuss der Verfilmung des „Weltbestsellers“ aus Schweden, wie das Buch ja auch tituliert wird (und ich meine, wenn ein Buch binnen von vier Jahren 7 Taschenbuchauflagen und wer weiß, wie viele Hardcoverauflagen erlebt, dann trägt es den Titel wohl mit Recht… und vom Inhalt her sowieso). Im Februar 2014 sah ich einen Trailer zu der Verfilmung im Kino und dachte mir: Ja, das schaut nach einem lustigen Film aus. Den sollte man sich antun.

Da ich aber bekanntlich derzeit nicht sonderlich gut bei Kasse bin, wartete ich, bis das Werk im Schunterkino gebracht wurde und ging im November 2014 mit meinem besten Freund Mario hinein… um es kurz zu machen: wir lachten Trä­nen. Der Film war so köstlich grotesk, dass ich danach klipp und klar sagte: Den Roman muss ich beizeiten auch mal lesen. Denn man kennt das von den meis­ten Literaturverfilmungen – die sind zumeist nur dünne Instantversionen des­sen, was in den Büchern steht.

Das traf auf dieses Buch, das ich dann im Januar 2015 geschenkt bekam, wirk­lich buchstäblich zu. Ich konnte mich gerade mal einen Tag lang zurückhalten, nachdem es auf meinem Tisch gelandet war, ehe ich zu schmökern anfing… und zu kichern. Und mehr zu kichern. Und manchmal lauthals zu lachen. Anfangs stimmte es noch relativ gut mit der Verfilmung überein, aber das änderte sich rasch, und in der zweiten Hälfte kamen soviel kuriose Neuigkeiten hinzu, die im Film ganz und gar fehlen oder nur höchst kursorisch erwähnt werden, dass mei­ne obige Einschätzung immer mehr Nahrung erhielt: das Buch IST noch deutlich besser als der Film, und wer den Film bereits geliebt hat, wird sich beim Buch halbtot lachen. Versprochen, Freunde. Wer nur ein bisschen Ahnung von Zeitgeschichte hat, der kommt aus dem Staunen und Lachen nicht mehr heraus.

Und dabei hat alles so harmlos angefangen…

Allan Karlsson, Jahrgang 1905, sitzt in einem Altersheim im schwedischen Malmköping, weil er in dem Bemühen, jenen Fuchs umzubringen, der seinen Kater auf dem Gewissen hat, kurzerhand seinen Hühnerstall und sein eigenes Wohnhäuschen mit Dynamit in die Luft gesprengt hat. Das sorgt schon für die ersten Lacher (im Buch erfährt man davon erst ganz zum Schluss). Nun, Allan, rüstig und recht klar im Kopf, hat jedenfalls nun, wo sein 100. Geburtstag an­steht und das ganze Altersheim ihn feiern will, keine Lust, mitzumachen. Kurzer­hand steigt er in seinen Pantoffeln und etwas Geld in der Brieftasche aus dem Fenster und sucht das Weite.

Ulkig, aber viel mehr auch nicht… tja, aber der Leser ahnt noch nicht, dass Allan Karlsson alles andere als ein normaler 100jähriger Greis ist. Aber das kommt schnell zum Vorschein. Er hat nämlich beschlossen, kurzerhand noch etwas von der Welt zu sehen, hat aber keinen Plan, was genau. Am nächsten Busbahnhof kauft er sich gleichwohl eine Buskarte nach Byringe. Der erste Zufall will es, dass er im Busbahnhof auch auf Bengt „Bolzen“ Bylund von der Motorradgang „Ne­ver Again“ stößt (was es mit der Namensfindung auf sich hat, verrate ich nicht, aber das ist ein weiterer Grund der Erheiterung). Der nötigt Allan, auf seinen voluminösen Koffer aufzupassen, derweil er die Toilette benutzt. Zwischenzeit­lich fährt der Bus vor, und Allan Karlsson nimmt den Koffer mit auf Reisen.

Bolzens Kommentar, als er das mitbekommt, lässt nichts Gutes ahnen: „Du bist so gut wie tot, du alter Wichser. Ich muss dich bloß finden…“

Derweil wird Allan natürlich im Altersheim vermisst, und Kommissar Aronsson eingeschaltet, zusammen mit Staatsanwalt Conny Ranelid. Zunächst geht man von einer Verirrung des alten Mannes aus, bald darauf von einer Entführung. Die Vermutungen werden noch weit kurioser und führen schließlich nahezu zur medialen Hysterie.

Allan kommt in Byringe an und stößt hier auf einen weiteren älteren Herrn, Juli­us Jonsson, mit dem er sich schnell anfreundet. Und dann kommt „Bolzen“ hin­zu… tja, und ehe man sich versieht, ist der Rocker Gefrierfleisch und ziemlich tot, und in dem Koffer verbergen sich nicht weniger als fünfzig Millionen Kro­nen. Da Julius nun aber selbst als notorischer Dieb mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist, entscheiden sich die beiden alten Herrn, das Geld durch 2 zu tei­len und einfach weiter zu verreisen, derzeit noch ohne Ziel.

Auf dem weiteren Weg stoßen sie auf den Langzeitstudenten Benny Ljungberg, den sie samt Auto als Chauffeur anheuern und dann zum Mitverschwörer ma­chen, bald danach treffen sie die „Schöne Frau“ Gunilla Björklund und ihre Ele­fantendame Sonja, derweil Kommissar Aronsson zunehmend verwirrt den un­klaren Spuren nachgeht. Und dann sind da natürlich noch die beiden weiteren Mitglieder von „Never Again“, die verdammt noch mal gern das Geld der Rus­sen zurückhaben wollen. Einem von ihnen, Henrik „Humpen“ Hultén, gelingt es auch tatsächlich, den Hundertjährigen und das Geld ausfindig zu machen… was ihm aber nicht zum Vorteil gereicht. Bleibt am Schluss noch Per-Gunnar Gerdin alias „Piranha“ alias „der Chef“, der natürlich auch das Geld zurückbekommen will und ebenfalls ein… sagen wir… schmerzhaftes Missgeschick erleidet, das ihn deutlich abkühlt.

Binnen weniger Wochen jedenfalls kommt es dann dazu, dass im Buch stehen kann, wie Julius in Begleitung zum Einkaufen fährt und zu lesen ist: „Dort sahen sie auch die neuesten Schlagzeilen über den Hundertjährigen und sein Gefolge, die anscheinend in einem einzigen Amoklauf durchs Land zogen…“

Also, man sieht, an dem Hundertjährigen ist deutlich mehr dran, als man glaubt. Und das ist tatsächlich so. Denn in flankierenden Kapiteln wird dann bis­weilen sehr amüsant Allans Leben resümiert, von 1905 bis 2005. Und da kommt dann beispielsweise die Russische Revolution zum Vorschein, Allans notorische Neigung (und Befähigung), Dinge in die Luft zu sprengen (am Anfang noch klei­ne Sachen wie Automobile samt Besitzern, später gern auch Brücken, etwa im Spanischen Bürgerkrieg), oder auch die urige Anekdote, wie er in den USA 1939 strandet und hier als Kellner beim Manhattan-Projekt Oppenheimer auf die Idee bringt, wie das mit der Atombombe doch noch klappen könnte. Ganz zu schweigen von der folgenreichen Tequila-Zecherei mit Vizepräsident Harry S. Truman.

Truman wiederum beauftragt nämlich Allan Karlsson, nun in seinem Auftrag nach China zu gehen und das zu tun, was er am besten kann: Brücken sprengen, diesmal, um die Kommunisten aufzuhalten. Dass das schließlich dazu führt, dass Allan sich entschließt, doch lieber über den Himalaya heim nach Schweden zu wandern und zwischendrin Freundschaft mit Mao schließt, das gehört zu den Details, die im Film untergehen. Von dem Zwischenspiel in Teheran und dem Auftrag, Churchill dort zu ermorden, ist dann schon gar keine Rede mehr, auch nicht von den erschossenen Kommunisten.

Er kommt auch nicht wirklich zur Ruhe, als er schließlich tatsächlich in die Hei­mat kommt, denn ehe er sich versieht, wird er von einem russischen Physiker „gekauft“ und via U-Boot in die stalinistische UdSSR verschleppt, wo er auf Al­bert Einsteins reichlich trotteligen und todessüchtigen (und ebenfalls vom KGB entführten) Bruder Herbert Einstein stößt… und dann war da noch die Sache mit den Panzerfäusten in Wladiwostok, mit dem nicht minder trotteligen russi­schen Militär, mit dem Exil in der Sonne auf Bali…

Ach, man kann eigentlich gar nicht genau sagen, was man in solch einer Rezen­sion noch erwähnen und was man weglassen darf, weil so vieles passiert, das zu unendlichem Amüsement Anlass bietet. Situationskomik gibt es en masse, tro­ckene Bemerkungen, etwa über das Essen und die schön festen Frühstückseier, während ein paar Zeilen zuvor ein Todesfall diskutiert wurde, gleichfalls. Da werden Spione entlarvt, Dolmetscher fallen in Ohnmacht, Diktatoren werden vom Schlaganfall dahingerafft, Agenten und Kommissare übertölpelt, Staatsan­wälte aufs Glatteis geführt… und nebenbei bekommen die christlichen Kirchen, Fundamentalisten, Geheimagenten und jede Menge bekannter zeithistorischer Personen ihr Fett weg. Dass vieles aus der hinteren Hälfte des Buches unver­filmbar blieb, wird bei der Lektüre einwandfrei klar. Da weicht der Film stark vom Buch ab… aber ich sage euch, Freunde, Jonassons Buch werdet ihr lange in Erinnerung behalten. Und nicht vergessen: erst den Film sehen und DANN das Buch lesen, das macht deutlich mehr Laune als umgekehrt.

Beides ist sehr zu empfehlen. Danach hat man soviel gelacht, da braucht man für die nächsten Jahre keine Frischzellenkur mehr, vertraut meinem Urteil!

© by Uwe Lammers, 2015

Nein, ich glaube, viel mehr muss ich zu diesem Romanabenteuer und Lesever­gnügen wirklich nicht sagen. Knabbert euch durch, ihr werdet es genießen, da­von bin ich überzeugt.

In der kommenden Woche machen wir Bekanntschaft mit einem weiteren „Hel­den“ meiner literarischen Leidenschaften, einem Archäologen und Abenteurer, der auf den Namen Henry Jones junior getauft wurde. Freunde nennen ihn „In­diana Jones“.

Nicht verpassen!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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