Rezensions-Blog 251: Das Geheimnis des weißen Bandes

Posted Januar 15th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

als ich vor vielen Jahren Kenntnis von diesem Buch erhielt, einem klassischen Epigonenroman um Sherlock Holmes, da war es für mich als jemand, der die Geschichten um den legendären Detektiv leidenschaftlich verschlingt und sich auch gerne die zahlreichen Verfilmungen älteren und neueren Datums davon anschaut, eigentlich ganz unvermeidlich, es zu suchen und zu Gemüte zu füh­ren.

Eine gute Entscheidung, muss ich aus dem Nachhinein konstatieren, und das sagte ich auch vor rund 8 Jahren schon, als ich das Werk dann genüsslich konsu­miert hatte. Es ist auf der einen Seite eine finstere, abgründige Geschichte, die auch – wie ich andeutete – auf heute leider immer noch gängige Negativseiten der menschlichen Gesellschaft abzielt. Auf der anderen aber hat sich Anthony Horowitz ganz in den Charme der alten Arthur Conan Doyle-Geschichten des klassischen Holmes-Kanons hineingedacht und besonders die messerscharfe Deduktion zu ihrer Geltung kommen lassen … das macht das Werk zu einem echten Leckerbissen.

Wer also Anthony Horowitz noch nicht entdeckt haben sollte, aber sich zu den Freunden des Sherlock Holmes rechnet, der lese unbedingt weiter. Das hier ist eine echte Perle:

Das Geheimnis des weißen Bandes

(OT: The House of Silk)

von Anthony Horowitz

Insel-Verlag, Hardcover

356 Seiten, 2011

Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff

ISBN 978-3-458-17543-8

Das Jahr ist 1890, der Monat November. London ist im Griff eines kalten Win­ters, als ein elegant gekleideter Mann die Baker Street 221b betritt …“

So bewirbt der Klappentext Anthony Horowitz´ Roman, mit dem der legendäre Detektiv Sherlock Holmes wieder die Bühne des Buchmarktes betritt, von der er, genau genommen, eigentlich niemals richtig fort gewesen ist (man denke beispielsweise nur an die zahlreichen Anthologien mit Holmes-Geschichten oder Holmes-Epigonen-Romane, die beispielsweise auch hier im Rezensions-Blog rezensiert worden sind). Natürlich ist die Latte durch mehr als hundert Jah­re literarischer Tradition hoch angelegt, und manch einer, der eine Holmes-Ge­schichte für eine leichte, spielerische Fingerübung hält, scheitert daran kläglich und blamiert sich mächtig. Horowitz hat sich deshalb die Sache auch nicht leicht gemacht, sondern acht Jahre an diesem Roman gesessen, bis er fertig wurde. Und vorab gesagt: man merkt es, im positiven Sinne.

Worum also genau geht es in diesem Roman? Sehen wir uns die Ausgangslage an:

Sherlock Holmes wohnt allein mit Mrs. Hudson in der Baker Street 221b, denn bekanntlich ist anno 1890 sein Kompagnon Dr. John Watson längst ausgezogen. Er hat Mary Marston geheiratet, eine eigene Praxis und einen eigenen Hausstand eröffnet. Und da Watson diese Geschichte zur Zeit des Ersten Weltkrieges erzählt, haben wir es hier eigentlich mit einer Geschichte in der Geschichte zu tun, was man jedoch außerhalb von Prolog und Epilog im Grunde genommen nicht merkt. Vernachlässigen wir dieses Faktum also, obwohl beide Abschnitte sehr reizvolle Gedanken enthalten.

Watson hält sich bei Holmes auf, weil er ihm telegrafiert hat, dass er gern für ein paar Tage sein altes Zimmer beziehen wolle. Holmes gibt ihm natürlich gern Obdach, und damit fängt die Geschichte an – mit einer unnachahmlich schönen Darbietung von Holmes´ phantastischer Deduktion. Lauschen wir kurz dem An­fang des ersten Kapitels:

Die Grippe ist unangenehm“, sagte Sherlock Holmes. „Aber Sie haben vollkom­men recht: Mit der Hilfe Ihrer Gemahlin wird das Kind schnell wieder zu Kräften kommen.“

Das hoffe ich sehr“, erwiderte ich, dann hielt ich inne und starrte ihn mit aufge­rissenen Augen an. Ich hatte meine Tasse schon zum Mund geführt, aber jetzt stellte ich sie so abrupt wieder hin, dass der Tee fast herausgeschwappt wäre.

Aber jetzt haben Sie wirklich Gedanken gelesen!“, rief ich. „Wie, um Himmels willen, haben Sie das gemacht, Holmes? Ich schwöre, ich habe weder über das Kind noch über seine Krankheit auch nur ein Wort verloren. Sie wissen, dass meine Frau verreist ist – das konnten Sie vermutlich daraus schließen, dass ich hier anwesend bin. Aber ich habe keinerlei Gründe für ihre Abwesenheit ge­nannt, und ich denke, auch mit meinem Verhalten habe ich Ihnen keinerlei Hin­weis darauf gegeben.“

Nun, es genügt die lächelnde Andeutung darauf, dass Holmes natürlich all seine Bemerkungen von eben kurz darauf kristallklar belegt und sogar noch einiges mehr über Watsons Verhältnisse: dass er vom Bahnhof gekommen ist, in großer Eile von daheim aufgebrochen ist, den Zug dennoch verpasste und gegenwärtig kein Hausmädchen besitzt … es gibt noch einige mehr solcher Szenen im Buch, besonders die beim Pfandleiher ist einfach wunderbar. Aber das ist halt die ver­gnügliche, charmante Seite des Buches. Als der Ernst des Lebens anfängt, ist es mit dem Witz für Holmes und Watson rasch vorbei, auch wenn alles zunächst nach einem routinemäßigen Fall ausschaut.

Sie bekommen Besuch von einem Galeristen aus Wimbledon, der sehr verstört wirkt und dafür auch allen Grund hat. Edmund Carstairs, ein eleganter Mann um die Mitte Dreißig, fühlt sich verfolgt und bedroht und bittet um Hilfe. Er hat eine sehr klare Vorstellung, wer ihn verfolgt und aus welchem Grund – er hat bei einem Kunstwerktransfer nach Amerika mitgewirkt, den Transport der Kunstwerke selbst aber nicht begleitet. Die Kunstwerke wurden bei einem Überfall einer irischstämmigen Banditentruppe, der Flat Cap Gang, in Amerika zerstört, woraufhin Carstairs zu dem Mäzen Stillman, der die Bilder eigentlich hatte erhalten sollen, reiste und sich an Stillmans Versuch beteiligte, die Gang für die dreiste Zerstörung zur Rechenschaft zu ziehen.

Bei der erfolgenden Polizeiaktion, die die Detektei Pinkerton ermöglicht, starb fast die gesamte Bande, doch einer von ihnen entkam – Keelan O’Donaghue, Zwillingsbruder des Bandenführers, und erfüllt von einem unstillbaren Hass. Ihm fiel bald darauf der Mäzen Stillman zum Opfer, dann verschwand er spur­los … und tauchte schließlich in England auf, um offensichtlich nun auch Car­stairs´ Leben zu bedrohen. Allerdings auf seltsame Weise: er zeigt sich mehrfach deutlich sichtbar, will laut einer schriftlichen Botschaft mit ihm sprechen, kommt aber nicht zum verabredeten Treffen.

Carstairs kann den Verbrecher gut beschreiben, obwohl er ihn in den Staaten selbst nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen hat. Aber dass seltsame Dinge in seinem Umfeld passieren, ist nicht zu leugnen. Einen Tag nach dem Besuch bei Holmes wird in Ridgeway Hall, Carstairs´ Haus in Wimbledon, eingebrochen und der Safe geöffnet. Geld und ein Schmuckstück verschwinden dabei spurlos. Ein Schmuckstück, das seiner Mutter gehört hat. Einer Frau also, die vor einigen Monaten überraschend verstarb – offensichtlich durch einen Unfall mit dem Gasofen. Andere munkeln von Selbstmord.

Als Holmes und Watson Ridgeway Hall besuchen, stoßen sie unvermeidlich mit Carstairs schöner, junger Frau Catherine zusammen, aber auch mit Carstairs´ unverheirateter Schwester Eliza, die der festen Ansicht ist, Catherine würde Un­glück über das Haus bringen. Die Hausbediensteten, die Holmes verhört, erwei­sen sich offensichtlich als keine große Hilfe. Aber das Schmuckstück scheint Hol­mes eine Spur wert zu sein. Er setzt seine Baker Street Irregulars darauf an und hat keine Ahnung, dass das zur Katastrophe führt. Darauf deutet ja auch noch nichts hin.

In der Tat findet einer der Jungs, Ross Dixon, ein Hotel, in dem der Mann, auf den die Beschreibung passt, abgestiegen ist. Aber als der Detektiv und Watson dort eintreffen, finden sie den Fremden ermordet vor. Kurz darauf verschwindet Ross Dixon spurlos. Nun fängt Holmes sich an, Vorwürfe zu machen, und er sucht jetzt zugleich nach einem anonymen, rätselhaften Mörder und nach dem verschwundenen Jungen. Zunächst fahndet er nach Ross´ Herkunft und gelangt zur Chorley Grange School for Boys, geleitet von Reverend Fitzsimmons und sei­ner Frau. Ja, sie erinnern sich an Ross, den sie als aggressiven Taugenichts und undankbares Waisenkind charakterisieren, mit Hang zum Diebstahl. Sie wissen nichts von seinem Verbleib.

Stattdessen findet Holmes bald darauf Ross´ Schwester Sally, die ihn verstört und durchweg aggressiv fragt, ob er vom „House of Silk“ käme. Dann verwun­det sie Watson und verschwindet fluchtartig. Und wenig später wird die übel zugerichtete Leiche des jungen Ross gefunden – um sein Handgelenk ein weißes Seidenband.

Eine eindeutige Warnung – und zugleich ein Zeichen, das Holmes fast rot sehen lässt, denn nicht zuletzt hat ihn Inspektor Lestrade davor gewarnt, Kinder in sei­ne gefährlichen Ermittlungen hineinzuziehen. Ross´ Tod, so sieht er es, ist ein­deutig darauf zurückzuführen.

Nun hat Holmes eine weitere Fährte, die ihn zum rätselhaften „House of Silk“ lenkt … ein Haus indes, um das eine Mauer des Schweigens gewoben wird, die bis in höchste Regierungskreise reicht. Handelt es sich dabei tatsächlich, wie der drogensüchtige Henderson Holmes erzählt, um ein Unterweltsyndikat, das England mit Opium überschwemmen will? Oder ist da noch etwas völlig ande­res im Spiel?

Watson ist jedenfalls verwirrt – und bald auch völlig verstört. Trifft er doch sei­nen alten Freund Holmes wenig später ganz benommen hinter einer Opium­kneipe an, die rauchende Waffe noch in der Hand, und vor ihm niedergestreckt die arme Sally Dixon. Holmes wird an Ort und Stelle von Inspektor Harriman verhaftet, und damit scheint die offensichtlich tödliche Suche nach dem „House of Silk“ schon beendet zu sein, ehe es überhaupt gefunden wurde. Nicht einmal sein Bruder Mycroft Holmes kann ihm nun mehr helfen.

Doch leider ist das alles erst der Anfang. Und das Intrigennetz, in das Sherlock Holmes eingesponnen worden ist, soll ihn ein für allemal mundtot machen. Denn das Geheimnis, dem er auf der Spur ist, ist so ungeheuerlich, dass nie­mand, der davon Kenntnis hat, jemals darüber spricht …

Es empfiehlt sich, den Roman genüsslich und langsam zu lesen. Das aus zwei Gründen: erstens ist es einfach ein phantastisches Lesevergnügen, zum zweiten gibt es in Horowitz´ Text so viele kleine, raffinierte Andeutungen zu entdecken, die auf den Kanon der Holmes-Geschichten zielen und wieder zurückverweisen, dass es eine Wonne ist, sich grübelnd und knobelnd durch die Seiten zu knab­bern und zu schauen, wohin sich die Entwicklungen biegen und wenden. Denn auf den ersten Blick scheinen es, wie Watson anfangs auch sagte, zwei vollkom­men unterschiedliche Fälle zu sein, die nur durch den blanken Zufall zusammen­hängen. Der rätselhafte Keelan O’Donaghue und das „House of Silk“ scheinen nichts miteinander zu tun zu haben.

Dies ist eine gründliche und letzten Endes schreckliche Täuschung, und es gibt mehrere von dieser Sorte darin. Es geht um Perversionen, Erpressung, Mord, Folter, Rache und ähnliches, und ja, es ist ein richtiger Sumpf, durch den Holmes und Watson da waten.

Allerdings gibt es einen kleinen Wermutstropfen in der Darstellung. Es geht nämlich mitnichten um „eine Verschwörung, die sie in Konflikt mit hoch stehen­den Persönlichkeiten bringen wird“, wie der Klappentext suggeriert. Es gibt kei­ne Verschwörung. Es gibt ein finsteres, widerwärtiges Geheimnis, ja, und das wird mit den scheußlichsten Mitteln bewahrt. Das nimmt dem Buch aber nichts von seinem manchmal beklemmenden, meist aber einfach schillernden Charme. Arthur Conan Doyle wäre entzückt, denke ich, dieses Buch zu lesen – auch wenn er das Thema selbst zweifellos mit einer Kneifzange nicht angefasst und auch sicherlich keine Zeile darüber geschrieben hätte. Es ist wirklich widerlich. Aber leider gibt es dergleichen auch heute noch. Und insofern kann man das Buch auch als Mahnung an die Gegenwart lesen, mit solchen Missständen rigoros auf gesetzliche Weise aufzuräumen.

Und darüber hinaus ist Horowitz einfach ein schönes, außerordentlich packen­des Buch gelungen. Hut ab! Lest es, Freunde!

© 2012 by Uwe Lammers

Man mag vielleicht jetzt denken, dass ich zu viel des Inhalts verraten hätte … doch vertraut mir, Freunde, das ist nicht der Fall, und das Buch enthält soviel mehr, dass es die Lektüre nach wie vor lohnt.

In der kommenden Woche kümmere ich mich wieder mal um einen Klassiker der Literatur, den ich erst recht spät lesend kennen lernte, aber dann wohlwol­lend besprach. Schaut es euch einfach mal in Bälde an.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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