Rezensions-Blog 32: Wer war Jack the Ripper?

Posted November 4th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ja, das ist eine gute Frage, nicht wahr? Eine, die bis heute wahlweise kontrovers diskutiert wird oder als Paradoxie einfach im Raum steht. Doch wenn man sich vergegenwärtigt, wie oft gerade kreative Geister wie Schriftsteller sich an dem Phänomen dieses Serienkillers gerieben haben und bis heute reiben – seien es Phantasten, seien es Krimiautoren, seien es Journalisten, Historiker oder sonst irgendwelche Verfasser, die Geschichten fürs Fernsehen bzw. für den Film adap­tierten – , es ist in jeder Hinsicht eine historische Person, die die Menschen mit reger Phantasie nicht in Ruhe lässt.

Die Fakten sprechen aber durchaus auch Verschwörungstheorien oder überna­türliche Ursprünge an: ein gesichtsloser Killer, der ein einziges erklärtes Mord­ziel hat – englische Prostituierte der Unterschicht im Londoner East End – , ein Monster, das wie ein Phantom aus dem Nichts erscheint und ebenso ungeklärt dorthin wieder verschwindet, nachdem es eine Blutspur ohnegleichen hinter­lassen und die Polizeibehörden verhöhnt hat…

Unklare Faktenlage, brausendes Gerüchtechaos in den Zeitungen und den Stra­ßen von London. Inkompetenz bei den Ermittlungsbehörden. Und der Fall wird nie geklärt… so scheint es. Doch Patricia Cornwell war da anderer Ansicht, und sie nahm in den Titel ihres akribisch recherchierten Sachbuches den Passus „Case Closed“, d. h. „Fall abgeschlossen“ auf.

Hat sie also den Stein der Weisen gefunden, den gesichtslosen Mörder entlarvt, über ein Jahrhundert nach der Mordserie? Lassen wir uns auf das Abenteuer ein, das sie uns, in dieser Funktion ganz Kriminalschriftstellerin, präsentiert. Zu­nächst gilt es, wie in jedem guten Krimi, das Umfeld zu skizzieren, den Schau­platz darzustellen. Die handelnden Personen zu charakterisieren, so gut es eben möglich ist. Und dann geht es um das Verbrechen selbst.

Um ein Monster. Vielleicht.

Wahrscheinlicher aber… um einen Menschen aus Fleisch und Blut mit zutiefst blutigen Begierden…

Wer war Jack the Ripper?

(OT: Portrait of a Killer. Jack the Ripper. Case Closed)

von Patricia Cornwell

Hoffmann und Campe, 2002

460 Seiten, geb.

Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober

ISBN 3-455-09365-5

Er ist auch heute noch ein Phantom, rund 120 Jahre, nachdem er seine Morde im Londoner East End begangen hat – Jack the Ripper. Eine Person, die so un­fassbar ist, dass moderne Lexika ihn oftmals nicht einmal im Stichwortregister aufnehmen.1 Die Briten sind da – glücklicherweise – entschieden ehrlicher und gründlicher. Sie rubrizieren Jack the Ripper durchaus in Nachschlagewerken, wo dann etwa folgendes steht:

Jack the Ripper. 19th century. Unidentified murderer. Between August and No­vember 1888, six prostitutes were found murdered and mutilated in the East End of London. The murderer was never discovered. The affair roused much pu­blic alarm, provoking a violent press campaign against the CID and the Home Secretary, and resulting in some reform of police methods. He has been the sub­ject of many novels and films, and speculations about his identity continous.“2

Doch stimmt das tatsächlich? Kann ein Mann, der sechs (vermutlich sieben) Frauen3 kurz nacheinander auf teilweise bestialische Weise hingeschlachtet hat, so völlig unerkannt bleiben, besonders dann, wenn man ihm so intensiv auf den Spuren war wie die Londoner Polizei unter Inspektor Frederick George Abberli­ne im Jahre 1888? Solche Fragen induzieren natürlich fast automatisch Ver­schwörungstheorien. Sie fußen jedoch meist, das sollte man sich vorab klarma­chen, auf falschen Vorstellungen. Vorstellungen, mit denen die Autorin des vor­liegenden Buches gründlich aufräumt.

Patricia Cornwell, einstmals Polizeireporterin und forensische Anthropologin so­wie – heute – Bestsellerautorin („Kay Scarpetta“-Romane), hat sich des Falles erneut angenommen und dabei gründliche Einblicke nehmen können in jene geheimnisvollen Akten und Materialien über Jack the Ripper, die bei Scotland Yard seit über hundert Jahren unter Verschluss lagen. Herausgekommen ist auf diese Weise eine ungemein dichte Darstellung der Zeit, Welt und Gedanken­sphäre des viktorianischen England und der Mentalität Jack the Rippers, wie es vielleicht kein Buch zuvor geschafft hat. Das liegt insbesondere an ihrer Profes­sion und Kenntnis der Materie – der kriminalistischen Ermittlung nach mod­ernsten Methoden.

Natürlich hat sie einen Verdächtigen. Sie nennt ihn den Täter und bemüht sich, ihn zu überführen. Doch bevor wir zu ihm kommen, sollten wir in die Welt des London des Jahres 1888 eintauchen und uns mit ihr vertraut machen, sodann die armen Opfer und den Ablauf der Verbrechen betrachten, um schließlich Pa­tricia Cornwell auf ihrer Verbrecherjagd zu folgen…

Der Himmel (über London) war trüb und fleckig, die Straßen waren mit Ruß bedeckt, die Sandsteingebäude und Eisenkonstruktionen angefressen. Der ver­schmutzte und dicke Nebel (gespeist von rund 360.000 Schornsteinen, die zu rund 40.000 Haushalten gehörten) hielt sich länger und wurde dichter, und der schmutzige Dampf hatte eine andere Farbe als früher. Kanäle, die seit römi­schen Zeiten bestanden, wurden so dreckig, dass man sie zuschüttete. In einem Gesundheitsbericht aus dem Jahre 1889 hieß es, wenn London die Verschmut­zung im bisherigen Tempo fortsetze, sei man bald gezwungen, die Themse zuzu­schütten, weil sie jedes Mal, wenn die Flut käme, mit den Exkrementen von Mil­lionen Einwohnern verpestet wurde. Man tat gut daran, dunkle Kleidung zu tra­gen, und an manchen Tagen war die schweflige, rauchige Luft so aggressiv und der Gestank der ungeklärten Abwässer so unerträglich, dass die Londoner mit brennenden Augen und Lungen umhergingen und sich Taschentücher vors Ge­sicht hielten.“4

Nicht eben anheimelnde Lebensbedingungen, das wird jeder zugeben müssen. Doch dies war natürlich nur die Spitze des Eisbergs:

Nach dem Bericht der Heilsarmee gab es unter den rund 5,6 Millionen Einwoh­nern der Großen Metropole 30.000 Prostituierte und 32.000 Männer, Frauen und Jugendliche, die in Gefängnissen einsaßen. Ein Jahr zuvor, 1889, waren 160.000 Personen wegen Trunkenheit verurteilt worden, 2297 hatten Selbst­mord begangen, und 2157 waren tot aufgefunden worden. In der Großen Me­tropole war knapp ein Fünftel der Bevölkerung obdachlos, befand sich in Ar­beits- oder Armenhäusern, in Krankenhäusern oder lebte in äußerster Armut und war dem Verhungern nahe. Diese ‚tobende See‘ der Not, wie sie General William Booth, der Gründer der Heilsarmee nannte, brandete größtenteils im East End. Dort die betrunkenen, obdachlosen Prostituierten abzuschlachten, war für ein raffiniertes Raubtier wie Jack the Ripper ein Kinderspiel…“5

Dies macht dem Leser dieses Buches ein wenig schaudernd klarer, warum die Bedingungen der britischen Hauptstadt für den blutrünstigen, geheimnisumwit­terten Mörder so ideal waren. Aber es gilt noch einen anderen Faktor einzube­ziehen, und der liegt, wie Cornwell klar herausarbeitet, in dem Ruf, den die überaus schlechte Polizei genoss. Schweigen wir von der schwelenden Rivalität zwischen der Metropolitan Police des District of London und der des Groß­raums London (ja, zwei unterschiedliche, sich beharkende und ständig gegen­seitig im Weg stehende Polizeiorganisationen).

Die Spurensicherung im späten 19. Jahrhundert war, wie Cornwell sehr bedau­ernd ausdrückt, noch nicht allzu weit gediehen, und einen kleinen, oft sarkasti­schen Anklang daran kann man den Sherlock-Holmes-Geschichten von Arthur Conan Doyle entnehmen, der an der Londoner Polizei und ihrer Arbeit nur we­nig gute Haare lässt. Er hat gute Gründe dafür. Die Autorin spitzt die Lage dras­tisch zu und schreibt zu den königlichen Ermittlungsbeamten, den Coronern, folgendes:

Ein Coroner dieser Zeit würde heutzutage einem Rechtsmediziner ohne medizi­nische Ausbildung entsprechen, der mit einem Leichenwagen an den Tatort fährt, sich die Leiche ansieht, Zeugen verhört, abschätzt, wie groß das Vermö­gen des Toten ist, befindet, dass ein plötzlicher Todesfall infolge eines Bienen­stichs Mord durch Vergiften ist, die Unschuld der Ehefrau überprüft, indem er ihr den Kopf unter Wasser drückt, und entscheidet, dass sie unschuldig ist, wenn sie nach fünf oder zehn Minuten noch nicht ertrunken ist. Ist sie dagegen er­trunken, wird sie schuldig gesprochen, und ihr Vermögen fällt an Queen Elizabeth oder den Präsidenten der Vereinigten Staaten, je nachdem, wo das Ver­brechen geschehen ist. In dem Coroner-System jener fernen Vergangenheit konnte man die Geschworenen bestechen. Die Coroner konnten ihr Vermögen vermehren. Unschuldige konnten alles verlieren, was sie besaßen, oder gehängt werden. Es war besser, nach Möglichkeit keines plötzlichen Todes zu sterben…“6

Der Leser versteht nun, schaudernd und ungläubig blinzelnd, wohl erheblich besser, warum die Durchschnittsbürger Londons den britischen Polizeibeamten keine große Sympathie und erst recht kein Vertrauen entgegenbrachten. Neben den oben schon genannten Schwächen, mögen sie auch vielleicht überzeichnet sein, musste man immer noch Inkompetenz, Überarbeitung, Alkoholismus, Rauschgiftabhängigkeit, Vorurteile oder Parteilichkeit berücksichtigen. Von Ge­rechtigkeit gab es mithin kaum eine Spur.

Es ist wichtig, dies zu wissen, um die Person besser zu verstehen, die die Ermitt­lungen im Fall Jack the Ripper leitete: Inspector Frederick George Abberline.7 Er war im Gegensatz zu seinen vielen Kollegen ehemals tätig als Uhrhandwerker, bevor er schließlich 1863 in den Dienst der Metropolitan Police eintrat. Hier zeichnete er sich durch Umsicht, Bescheidenheit, Höflichkeit und hohe morali­sche Ansprüche aus, ebenfalls durch Zuverlässigkeit und Methodik. Im Privaten gehörte seine ganze Liebe der Gärtnerei und den Uhren. Zwar blieben seine Er­mittlungen gegenüber den East-End-Morden Jack the Rippers erfolglos, doch schreibt dies die Autorin Cornwell nicht seiner Unfähigkeit zu, sondern dem Raffinement des Feindes, mit dem er es zu tun hatte. Bis zu seinem Tode im Jahre 19298 hatte Abberline offensichtlich keine Ahnung, wer Jack the Ripper gewesen war.

Die Situation war ohnehin verfahren, als die Mordserie begann. Whitechapel galt, wie gesagt, als eine Art Slum, als unkontrollierbar, noch unkontrollierbarer als die Beamten der Metropolitan Police, die, schlecht ausgebildet und schlecht bezahlt, bestechlich und oftmals völlig überarbeitet, fast schon im Akkord Strei­tigkeiten schlichten, Betrunkene einsammeln und schlimmere Arbeiten erledi­gen mussten. Und nun auch noch dies:

Am 3. April wurde die Leiche von Emma Elizabeth Smith, 459, nahe der Osborn-Street, entdeckt. Ein Mord von vielen, mochten die Menschen damals denken. Die Zeit der Angst begann erst mit dem Mord an Martha Tabran, 35, am 7. Au­gust desselben Jahres in Spitalfields, getötet und verstümmelt durch nicht weni­ger als 39 Messerstiche.

Selbst für das finstere Whitechapel war das beispiellos. Und doch erst der Auf­takt zu Schlimmerem:

Am 31. August fiel Mary Anne Nicholls, 42, in der Buck’s Row dem Mörder zum Opfer, der ihr brutal die Kehle durchschnitt und ihren Körper verstümmelte, wo­bei er ihren Unterleib aufschlitzte und Innereien entfernte, aber offenbar wurde er bei seiner Metzgerarbeit gestört und suchte das Weite.

Nur vier Tage später starb Annie Chapman, 47 Jahre alt, in der Hanbury-Street in Spitalfields, dann legte sich wieder gefährliche Stille über den finsteren Stadt­teil Londons – zwischendurch allerdings auf boshafte Weise zerhackt durch ein Stakkato von beleidigenden Briefen, teilweise in gewählt vornehmer, manchmal slangbehafteter Schreibweise, stets gerichtet entweder an den Inspector Ab­berline oder seinen Vorgesetzten, den „dear boss“ Sir Charles Warren. Der Mör­der, der höhnisch Verstecken mit der Polizei spielte und davon faselte, sie wür­den ihn nie fassen, und er wünsche sich doch gerne „mehr Blut“ beim nächsten Mal, nannte sich „saucy Jack“ (also der „freche“ oder manchmal auch „saftige“ Jack) oder „Jack the Ripper“, mit dessen Namen er in die Annalen der Geschich­te einging.

Die Polizei verstärkte ihre Streifentätigkeit, doch sie konnte das nächste Verbre­chen nicht vereiteln, das auch seinesgleichen nicht hatte: Am 30. September 1888 ereignete sich der furchtbare Doppelmord an Elizabeth Stride in der Berner-Street, und, nur kurze Zeit darauf, an einer Frau namens Catherine Eddows am Mitre-Square, die jedoch so verstümmelt war, dass der Daily Telegraph bis zum 10. November nicht sicher war, ob sie wirklich die Person war, die auf so bestialische Weise den Tod gefunden hatte.

Der Doppelmord löste Panik in Whitechapel aus. Niemand hatte einen Mann mit blutigen Kleidern durch die Straßen laufen sehen, und das war doch eigent­lich unmöglich angesichts der Bluttat. Ein Missionar aus dem East End brachte die Stimmung auf den Punkt, indem er erklärte: „Allgemeine Panik griff um sich, und viele Menschen von leicht erregbarem Temperament erklärten, der Böse sei auf die Erde zurückgekehrt.“

Man konnte es ihnen wahrlich nicht verdenken. Hysterische Anschuldigungen machten die Runde. Einige hielten den Ripper für einen Arzt, der wahnsinnig geworden sei. Andere dachten eher an einen Metzger. Wieder andere speku­lierten, ob ein Angehöriger des Königshauses – etwa der Duke of Clarence, der eine Neigung zu leichten Frauen hatte – in die Taten involviert sein mochte, was vielleicht erklärt hätte, warum die Polizei keine Erfolge verzeichnen konnte. Das Königshaus wurde natürlich geschützt, es galt den guten Ruf zu wahren. Man­che Leute zogen ihre Schlüsse daraus, dass der Ripper offensichtlich nur „leichte Mädchen“ als Zielgruppe auswählte, und es galt als ausgemacht, dass er ein Mann von großer Statur sein müsse, der über gewisse Kenntnisse in Anatomie verfügte. Und es fiel auf, wie er von Mord zu Mord „dazulernte“ und exzessiver wurde.

Nach dem Doppelmord an Stride und Eddows fürchteten die Leute, dass es noch schlimmer kommen könnte, ohne sich freilich vorstellen zu können, wie das wohl aussehen mochte. Sie sollten sich noch den ganzen Oktober hindurch ängstigen, denn abgesehen von weiteren Ripper-Briefen geschah nichts.

Am 9. November ermordete Jack the Ripper sein (vermutlich) letztes Opfer: die junge Mary Jane Kelly (24), die zugleich die einzige Person war, die in einem ge­schlossenen Raum getötet und entsetzlich verstümmelt wurde. Unter anderem wurde ihr Gesicht vollständig zerstört, der Leib aufgeschnitten und das Herz und die Geschlechtsteile entfernt.

Danach, und das ist das eigentlich Mysteriöse, setzte vollkommenes Schweigen ein. Zumindest nach außen hin. Viele Beobachter gingen deshalb davon aus, der Ripper sei nach seiner letzten Bluttat wahnsinnig geworden und habe sich umgebracht, etwa, indem er sich in die Themse stürzte. Niemand konnte das beweisen. Schlimmer noch – wenn man Cornwell folgt, die die rund 250 erhal­tenen Ripper-Briefe im Public Record Office akribisch untersucht hat, dann ka­men bis 1896 (!) weitere Briefe an. Die Forschung hat die meisten davon für Fäl­schungen gehalten. Doch vielleicht irrte man sich.

Die Bluttaten und die Erfolglosigkeit setzten der Karriere des Chefs der Metro­politan Police, Sir Charles Warren, ein Ende. Am 8. November 1888 (!) musste er seinen Hut nehmen.10 Weitere Morde ereignen sich aber nicht. Whitechapel beruhigt sich wieder, Jack the Ripper verdämmert im Laufe der Jahrzehnte zu einer düsteren, unerklärlichen Legende, die immer wieder die Phantasie von Autoren befeuerte. Doch da die Archive von Scotland Yard geschlossen blieben, ist erst Ende des 20. Jahrhunderts die Chance da, die akribische Spurensuche zu betreiben. Manche Forscher folgten dabei falschen Fährten und verkündeten beispielsweise voreilig die Entdeckung eines „Tagebuchs von Jack the Ripper“, das heute leider als – wenn auch sehr intelligente – Fälschung entlarvt ist.11

Als Patricia Cornwell im Mai 2000 zu Besuch in London war, konnte sie in Beglei­tung des stellvertretenden Polizeipräsidenten von Scotland Yard, John Grieve, eine Begehung der Ripper-Schauplätze in Whitechapel machen und dabei die Frage stellen, ob jemals jemand mit modernen forensischen Methoden ver­sucht habe, diese Morde zu entschleiern.

Nein, lautete die ehrliche Antwort, aber wenn sie das selbst vorhabe (und sie ist bekanntlich Polizeijournalistin mit exzellenten forensischen Kenntnissen), dann gebe es jemanden, den sie als wichtigen Verdächtigen genauer ins Visier neh­men solle – einen berühmten Maler namens Walter Sickert, der schon verschie­dentlich früher in den Verdacht geriet, Jack the Ripper zu sein. Sickert-Fans hal­ten das freilich bis heute für absurd.

Cornwell begann sich in die Biografie des am 31. Mai 1860 in München gebore­nen Walter Richard Sickert einzuarbeiten, der 1942 in hohem Alter als angese­hener Maler verstarb. Und fand sehr interessante Dinge. Nicht nur ein Bildnis, das den Titel „Jack the Ripper’s Bedroom“ trägt. Nicht nur eine innige Beziehung Sickerts zum Stadtteil Whitechapel, wo er in den 80er Jahren des 19. Jahrhun­derts eine Reihe geheimer Absteigen besaß, vorgeblich, um zu malen. Sickert neigte auch zu exzessiver nächtlicher Aktivität, war manchmal tagelang ver­schwunden, ohne irgendwem mitzuteilen, warum oder wohin. Und speziell in der Zeit der Ripper-Morde und danach legte er ein Verhalten an den Tag, das dem eines Gejagten verblüffend nahe kam.

Cornwell untersuchte den Nachlass des Malers, soweit das möglich war, und sie stieß auf weitere interessante Details – auf ähnliche Schriftzüge wie in den Rip­per-Briefen, auf identisches Briefpapier und dergleichen. Und so festigte sich ihre Überzeugung: Walter Sickert war Jack the Ripper. Und er hörte NICHT 1888 mit dem Morden auf, sondern fuhr damit fort, wenigstens bis 1907…

Selbst wenn man manchen Schlussfolgerungen der Autorin nicht zu folgen be­reit sein sollte – etwa hinsichtlich so genannter „Trittbrettfahrer“ bei den Ripper-Briefen und vielleicht sogar bei den Ripper-Morden oder gewissen sexuellen Problemen, die Walter Sickert gehabt haben soll/könnte – , bleibt vollkommen unbestritten, dass Cornwell sich tief in das vorhandene Material eingearbeitet hat und mit modernsten wissenschaftlich-kriminalistischen Methoden ihr Bes­tes getan hat, um einen der rätselhaftesten Kriminalfälle der jüngeren Mensch­heitsgeschichte aufzuklären.

Die Studie, die daraus entstand, ist dermaßen packend und mitreißend, dass es den Leser gruseln kann, und die zusammengetragene Indizienkette ist wirklich sehr beeindruckend. Wer immer sich diesem Phänomen Jack the Ripper fortan nähern möchte, sollte auf keinen Fall hinter den Erkenntnisstand und die akribi­sche, bisweilen schon scheußlich genaue Durchleuchtung dieser Studie zurück­fallen.

Es mag sich natürlich herausstellen, dass Cornwell den „falschen“ Kandidaten durchleuchtet hat, aber die Technik, mit der sie das tut, ist in weiten Teilen völ­lig unbestreitbar und unglaublich perfektioniert. Sie hat das Buch ihrem Kolle­gen John Grieve von Scotland Yard gewidmet, der sie erst darauf brachte, Wal­ter Sickert genauer zu betrachten. Und ich stimme ihrer Widmung zu: „Sie hät­ten ihn geschnappt.“

Hätte die Metropolitan Police 1888 bereits über derartige Methoden verfügt, wäre Jack the Ripper seinem wohl verdienten Schicksal wahrscheinlich nicht entgangen. Was tatsächlich aus ihm geworden ist, bleibt jedoch – falls wir es nicht mit Sickert zu tun hatten – ein Geheimnis.

© by Uwe Lammers, 2007/2008

Ob das Geheimnis hiermit endgültig gelöst ist, möchte ich, wie oben schon an­gedeutet, nicht beschwören. Aber ein solch packendes, sehr gut geschriebenes und ebenso exzellent recherchiertes Buch inspiriert, da bin ich ganz sicher, die intelligenten Leser und vielleicht auch Leser mit literarischen Fertigkeiten da­hingehend, daraus Anleihen für eigene Geschichten zu entnehmen. Und für den Rest der Leserschaft, nicht nur für passionierte Cornwall-Fans, ist die Lektüre selbst schon mitreißend genug und gute Unterhaltung.

Nächste Woche kehren wir hingegen in die Zukunft zurück, in Peter F. Hamiltons „Armageddon“-Universum, und dann werdet ihr mitbekommen, wie er das Dra­ma mit den monströsen „Besessenen“ löst. Wenn ihr den Zyklus noch nicht kennt – lasst euch überraschen.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. beispielhaft DIE ZEIT Welt- und Kulturgeschichte, Bd. 20, 2006.

2 Vgl. Una McGovern (Hg.): Chambers Biographical Dictionary, Edinburgh 2005, S. 786.

3 Ob die am 3. April 1888 in Whitechapel ermordete Emma Elizabeth Smith als Opfer des Rippers anzusehen ist, ist bis heute umstritten. Wie die Autorin herausstellt, ist sie davon überzeugt, dass es noch weitaus mehr Ripper-Opfer gegeben hat. Einige vermeintliche macht sie namhaft.

4 Vgl. Cornwell, S. 89.

5 Vgl. Cornwell, S. 90.

6 Vgl. Cornwell, S. 162.

7 In einem Fernsehzweiteiler vor vielen Jahren genial mit dem charismatischen Schauspieler Michael Caine besetzt, der geradezu gespenstisch gut war.

8 Und es ist schon wirklich bedauerlich, wenn man feststellen muss, dass trotz des Vorliegens dieses beein­druckenden, faktenreichen Buches zumindest ein deutscher Schriftsteller der jüngeren Zeit vom Leben Ab­berlines so wenig weiß, dass er ihn über 30 Jahre zu früh sterben lässt. Christoph Marzi rekurriert in seinem Buch „Lycidas“ ebenfalls auf die Jack-the-Ripper-Morde und schreibt hier zum Jahre 1888: „Maurice Mickle­white wirkte erschöpft: ‚Abberline starb in meinen Armen.‘“ (Seite 378) Was natürlich absoluter Unfug ist. Jeder, der Cornwells Buch gelesen hat, kann über derartige Ignoranz nur den Kopf schütteln. Dramaturgie sollte an der Realität ihre Begrenzung finden.

9 Die Altersangaben und Ortsnennungen stammen, soweit nicht durch Lektüre korrigiert, dem Abdruck der Übersichtskarte der Ripper-Morde aus dem Daily Telegraph vom Samstag, den 10.November 1888, abge­druckt in: Cornwell.

10 Man beachte: einen Tag vor dem letzten bestialischen Ripper-Mord. Vielleicht bin ich nicht der einzige, der hier einen makabren Zusammenhang ahnt. Patricia Cornwell, auf einen anderen Täter festgelegt, folgt die­sem Gedanken leider nicht. Es könnte sehr interessant sein, Warrens Alibis zu prüfen.

11 Vgl. Shirley Harrison: „Das Tagebuch von Jack the Ripper“, Bastei 13980, Bergisch-Gladbach 1998, im Origi­nal 1993. Hier konnten die Aufzeichnungen des Public Record Office noch nicht verwendet werden. Die Ak­ten im Fall Jack the Ripper wurden 1891 geschlossen.

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