Rezensions-Blog 40: Der stumme Frühling

Posted Dezember 29th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute führe ich euch in ein Horrormärchen der ganz besonders schaurigen Art, und zwar, weil es eben leider in den Fakten so überhaupt kein Märchen ist, son­dern Teil unserer jüngsten Vergangenheit. Und, das ist vielleicht das Alarmie­rendste an diesem Thema, das Drama ist noch lange nicht beendet, sondern al­lenfalls abgemildert und aus den direkten Schlagzeilen die meiste Zeit des Jah­res verschwunden.

Irgendwie ist das passend, ihr werdet das verstehen, wenn ihr die heutige Re­zension gelesen habt – die euch hoffentlich sehr neugierig auf das Buch selbst macht. Denn wir leben in Zeiten des Vergessens und Verdrängens, des „Schnell – Schnell“ und „Kurz – Kurz“, der reduzierten Aufmerksamkeitsspanne, und wir lassen uns von Moderatoren im Radio gern noch mal die 5-Minuten-Nachrich­ten in Schlagzeilen nacherzählen für den Fall, dass wir vergessen haben, was dieselben Leute gerade eben gesagt haben.

Dabei leben wir in einer hochkomplexen Welt, in der wir uns mehr als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte mit Informationen versorgen können, um uns eine allseitige Meinung zu bilden. Die wenigsten Menschen machen davon Gebrauch, und, so fürchte ich, die meisten Leute sind dazu schlicht zu faul. Weil sie – wie mein 2013 verstorbener Vater – Lesen und Informationsaufnahme mit „Arbeit“ gleichsetzen. Weil viele Leute nach dem Abschluss der Schule generell „keine Zeit“ mehr für Bücher finden.

Solche Personen würden den Sirenengesängen, von denen unten die Rede ist, wahrscheinlich ebenso wenig Widerstand entgegensetzen können wie die Ame­rikaner in den 50er und 60er Jahren, über die Rachel Carson schrieb. Und das ist ein wichtiger Grund, an jene schrecklichen, vermeintlich verheißungsvollen Zeiten zu erinnern und an dieses Buch, das euch auf eine Reise in die jüngste Vergangenheit mitnimmt, die ihr einfühlsamen Leser niemals wieder vergessen werdet.

Folgt mir in dieses Buch:

Der stumme Frühling

(OT: Silent Spring)

von Rachel Carson

Beck’sche Reihe 144

Nördlingen 2007 (Original: 1962)

352 Seiten

Aus dem Amerikanischen von Margaret Auer

ISBN 978-3-406-54760-7

Es war einmal eine Stadt im Herzen Amerikas, in der alle Geschöpfe in Harmo­nie mit ihrer Umwelt zu leben schienen. Die Stadt lag inmitten blühender Far­men mit Kornfeldern, deren Gevierte an ein Schachbrett erinnerten, und mit Obstgärten an den Hängen der Hügel… Im Herbst entfachten Eiche, Ahorn und Birke eine glühende Farbenpracht… Damals kläfften Füchse im Hügelland, und lautlos, halb verhüllt von den Nebeln der Herbstmorgen, zog Rotwild über die Äcker…

Die Gegend war geradezu berühmt wegen ihrer an Zahl und Arten so reichen Vogelwelt, und wenn im Frühling und Herbst Schwärme von Zugvögeln auf der Durchreise waren, kamen die Leute von weither, um sie zu beobachten. Andere kamen, um in den Bächen und Flüssen zu fischen, die klar und kühl aus dem Hü­gelland strömten und da und dort schattige Tümpel bildeten, in denen Forellen standen. So war es gewesen, seit vor vielen Jahren die ersten Siedler ihre Häu­ser bauten, Brunnen gruben und Scheunen errichteten.

Dann tauchte überall in der Gegend eine seltsame schleichende Seuche auf, und unter ihrem Pesthauch begann sich alles zu verwandeln. Irgendein böser Zau­berbann war über die Siedlung verhängt worden: Rätselhafte Krankheiten raff­ten die Kükenscharen dahin; Rinder und Schafe wurden siech und verendeten. Über allem lag der Schatten des Todes. Die Farmer erzählten von vielen Krank­heitsfällen in ihren Familien. In der Stadt standen die Ärzte immer ratloser den neuartigen Leiden gegenüber, die unter ihren Patienten auftraten. Einige Men­schen waren plötzlich und unerklärlicherweise gestorben, nicht nur Erwachsene, sondern sogar Kinder, die mitten im Spiel jäh von Übelkeit befallen wurden und binnen weniger Stunden starben.

Es herrschte eine ungewöhnliche Stille. Wohin waren die Vögel verschwunden? Viele Menschen fragten es sich, sie sprachen darüber und waren beunruhigt. Die Futterstellen im Garten hinter dem Haus blieben leer. Die wenigen Vögel, die sich noch irgendwo blicken ließen, waren dem Tode nah; sie zitterten heftig und konnten nicht mehr fliegen. Es war ein Frühling ohne Stimmen… Schweigen lag über Feldern, Sumpf und Wald.

Die Apfelbäume entfalteten ihre Blüten, aber keine Bienen summten zwischen ihnen umher, und da sie nicht bestäubt wurden, konnten sich keine Früchte ent­wickeln.

Die einst so anziehenden Landstraßen waren nun von braun und welk geworde­nen Pflanzen eingesäumt, als wäre ein Feuer über sie hinweggegangen. Auch hier war alles totenstill, von Lebewesen verlassen. Selbst in den Flüssen regte sich kein Leben mehr. Keine Angler suchten sie auf, denn alle Fische waren zu­grunde gegangen…“

So beginnt Rachel Carsons bis heute mit unglaublicher Erschütterung zu lesen­der Sachbuchklassiker, ganz genau wie ein Märchen, wie eine grässliche Zu­kunftsphantasie, eine klassische Dystopie der Science Fiction, und die Biologin Carson zeichnet ein Bild einer Endzeit, die gleichwohl weder ein Märchen noch eine Dystopie ist. Zu dem Zeitpunkt, als sie für ihr Buch am Ende der 50er Jahre und zu Beginn der 60er Jahre recherchierte, war genau dieses Schicksal über zahlreiche Landgemeinden in den USA hinweg gegangen.

Ein Frühling ohne Vögel.

Ein Sommer ohne Bienen.

Flüsse ohne Fische.

Landstriche, wo Landwirte und Gärtner, ja, einfache Urlauber einfach ohne er­kennbaren Grund dahinsiechten und binnen kürzester Zeit verfielen und star­ben. Eine Landschaft, in der Kinder beim Spielen von Übelkeit befallen wurden und zugrunde gingen.

Nein, dies war keine Fiktion.

Es war ein Terrorkrieg gegen die Natur, gespeist vom Machbarkeitswahn der Menschen, dem Unwissen über ökologische Zusammenhänge, von Vorurteilen und ökonomischem Profitdenken. Sie spricht es schon im ersten Kapitel aus und sagt klipp und klar: „Kein böser Zauber, kein feindlicher Überfall hatte in dieser verwüsteten Welt die Wiedergeburt neuen Lebens im Keim erstickt. Das hatten die Menschen selbst getan.“

Und warum?, fragt man sich, wie kann man so wahnsinnig sein, derlei Verbre­chen gegen die Natur und teilweise gegen die eigenen Mitbürger zu begehen? Warum schritt niemand ein?

Das Verhängnis begann etwa um das Jahr 1945 und steigerte sich von da an Jahr für Jahr. Der erste Grundstein des Dramas lautete DDT. In dem dringenden Verlangen, einen alten Traum der Menschheit zu erfüllen, erfüllt von dem heh­ren Wunsch, zu helfen, wurde die moderne Chemie bemüht, um dem Schäd­lingsbefall vorzubeugen, der in der Landwirtschaft Jahr für Jahr Millionenschä­den anrichtete. Und der zunächst unübersehbare Erfolg des DDT führte dazu, dass die Politiker auf Bundesebene und Landesebene, bald auf Kreisebene und bis in die kleinsten Verästelungen der Wirtschaft und Gesellschaft anfingen, dem verführerischen Sirenengesang der chemischen Industrie zu glauben:

Ihr leidet an Schädlingen? Euer Getreide ist von Pilzen befallen? Euer Garten ist voll Unkraut? Wir werden etwas erfinden, das mit diesen Plagen ein für allemal aufräumt!

Carson vergleicht diesen Wundermantel der chemischen Industrie und die im­mer neuen, immer giftigeren Mittel mit einem Bild der griechischen Mytholo­gie: „Nach der griechischen Mythologie war die Zauberin Medea wütend dar­über, dass ihr die Liebe ihres Gemahls Jason von einer Nebenbuhlerin abspens­tig gemacht wurde, und sie schenkte der neu erkorenen Braut ein Gewand mit magischen Eigenschaften. Wer dieses Gewand trug, starb auf der Stelle eines gewaltsamen Todes…“

Diesen Tod hatte die chemische Industrie den Schädlingen zugedacht (ohne jed­wede Hemmungen, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Weile die Anwendung solch tödlicher Stoffe verhinderten; noch zu frisch war die Erinnerung an Zyklon-B. Später indes wurden Spritzstoffe, in denen etwa Di­oxine enthalten waren, bis weit in die 80er Jahre etwa an Bahntrassen ausge­bracht; es dauerte lange und war etwa dem Magazin GEO zu verdanken, dass diese Stoffe verboten wurden). Die ahnungslosen Chemiker hatten nur etwas vergessen: ein Stoff, der für bestimmte Tiere oder Pflanzen tödlich wirkt, ver­schwindet nicht spurlos mit seinen Opfern aus der Nahrungskette. Wir sind eben nicht im Märchen!

Tote Würmer werden von Vögeln gefressen. Die Gifte lagern sich in den Vögeln an, und diese geben sie an ihre ungeborenen Kinder weiter. Gifte, die beispiels­weise dazu führten, dass die Schalen der Eier so dünn wurden, dass sie nicht mehr bebrütet werden konnten. Gifte, die die Küken vielleicht schlüpfen, aber nicht mehr lange leben ließen, da sie mit vergifteten Würmern gefüttert wur­den.

Schlimmer noch: Nahrungsketten sind komplexe Angelegenheiten, und manch­mal trifft der Giftstoff, mag er noch so gut dosiert sein (und mitunter war er tausendfach zu stark dosiert, nicht selten von den arglosen, wohlmeinenden Bauern und Hobbygärtnern ausgebracht, die damit selbst Dinge verseuchten, die sie gar nicht bedacht hatten – und viele starben selbst an ihren Pflanzen­schutzmitteln, andere mussten entsetzt mit ansehen, wie ihre Kinder dahin­siechten und unter den hilflosen Händen der Ärzte wegstarben), einfach die falschen Ziele. Schadinsekten sind anvisiert, und mit ihnen werden Vogelpopu­lationen ausgerottet. Rankenpflanzen sollen abgetötet werden und die Bäume werden mit vernichtet.

Damit nicht genug: die meisten der Stoffe waren wasserlöslich, und der Regen spülte sie in den Rinnstein und dann ins Erdreich, in dem es von Mikroorganis­men und Würmern nur so wimmelte, die hilfreiche Arbeit leisteten. Die Folge dieser Vergiftung war ein unsichtbarer Genozid und, noch verheerender, ein überhand nehmen von Schädlingen, die oftmals die eigentlichen Ziele waren, die sich nun aber wieder dramatisch vermehren konnten, weil alle Fressfeinde ebenfalls ausgerottet worden waren…

Verantwortliche Beamte des Gesundheitsdienstes haben darauf hingewiesen, dass die biologischen Wirkungen von Chemikalien kumulativ sind und sich im Laufe langer Zeiträume steigern, und dass die Gefahr für den einzelnen Men­schen davon abhängen dürfte, wie oft er in seinem Leben den Stoffen ausge­setzt gewesen ist. Gerade aus diesen Gründen wird die Gefahr leicht ignoriert. Es ist Menschenart, etwas mit einem Achselzucken abzutun, das uns vielleicht nur als vage Drohung eines künftigen Unheils erscheint. ‚Die Menschen sind naturgemäß am meisten von Krankheiten zu beeindrucken, die sich in deutlichen äußeren Anzeichen offenbaren’, meint Dr. René Dubos, ein erfahrener Arzt. ‚Doch manche ihrer schlimmsten Feinde schleichen sich unauffällig an sie heran.’“

Wen erinnern solche Worte nicht an moderne Probleme wie die Frage der Überbevölkerung, Strahlung atomaren Abfalls, den Treibhauseffekt und die Kli­makatastrophe? Wahrhaftig, Rachel Carson legte bereits vor fast 50 Jahren den Finger auf einen verhaltensbedingten Baufehler der meisten Menschen, an dem sich bis heute nichts Grundsätzliches geändert zu haben scheint.

Ob Rachel Carson (1907-1964) über die Pestizide, Insektizide, den gnadenlosen und oftmals sinnlosen und blindwütigen Feldzug der US-Industrie gegen wirkli­che oder vermeintliche Schädlinge in der Natur schreibt, ob sie über die Gefah­ren und toxischen Wirkungen auf den Menschen erzählt, ob sie von Karzinoge­nen, also krebserregenden Stoffen berichtet, auf jeder Seite ist das leise, heimli­che Grauen Gast, das sie bei all ihren sehr fundierten Recherchen gefühlt hat.

Das Buch ist, da hat der Vorwortschreiber Joachim Radkau vollkommen Recht, bis heute eine Bibel der Ökologiebewegung, das nichts an Aktualität verloren hat. Dabei gelingt Carson, die sowohl Wissenschaftlerin wie Schriftstellerin war, die schwierige Gratwanderung, aus einem moralisch eindringlich appellieren­den Sachbuch ein stilistisches Erlebnis allererster Güte zu machen, auch wenn es überwiegend grausige Tatsachen zu berichten hat (ein durchaus ehrliches Anliegen – es gibt relativ wenig über den modernen Menschen an Positivem zu berichten, bezogen auf seine Umwelt; der homo sapiens ist mehrheitlich ein sehr egozentrisches Wesen, das dazu neigt, alles zu seinem eigenen Vorteil zu wandeln, ganz gleich, wie viel er dabei zerstört). Aber es gibt auch positive Din­ge im Buch, nicht zuletzt ganz zum Schluss. Sie lässt den Leser nicht allein und hilflos schluchzend in der verwüsteten Welt zurück.

Ein Teil von Carsons eindringlichem Appell, der gleichwohl nie ernstlich moralin­sauer herüberkommt, speist sich zweifellos aus ihrem eigenen Lebensweg. Als sie „Silent Spring“ schrieb, wütete bereits der Krebs in ihr, und auf dem Höhe­punkt ihres literarischen Erfolgs mit diesem Buch, das im September 1962 nicht völlig zu Unrecht an Charles Darwins „Ursprung der Arten“ gemessen wurde, er­lag Carson am 14. April 1964 ihrer Krankheit. Dieses Buch ist ihr Vermächtnis, und wer sich ernstlich für Ökologie und das interessiert, was Menschen ihrer Umwelt – und damit auch sich selbst – anzutun fähig sind, sollte das Buch un­bedingt lesen.

Radkau hat absolut Recht: es hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt und wirkt vielleicht heute besser als je zuvor…

© by Uwe Lammers, 2010

Nun, und wie ich einleitend sagte: wenn wir zu faul und bequem sind, uns in unserer üppigen Wissensgesellschaft umfassend zu informieren, werden wir au­ßerstande sein, aus den oben aufgearbeiteten Fehlern zu lernen – auf diesem und auf vielen anderen Gebieten. Es ist darum ein höchst lehrreiches Buch, auch wenn es inzwischen mehr als 50 Jahre auf dem Buckel hat.

Lest es, Freunde!

In der nächsten Woche wechsle ich mit etwas ruhigerer Kost ab und führe euch zwar in die Gegenwart, aber, wenn man so will, in ein Fantasyreich, das mit der Magie der Vergangenheit aufgeladen wird. Wie ich das genau meine? Nun, schaut am kommenden Mittwoch herein, dann seid ihr schlauer.

Bis dahin – stay tuned!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>