Rezensions-Blog 41: Der Adept (1)

Posted Januar 6th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute schweifen wir wieder mal ab in die Fantasy-Gefilde, und mit Katherine Kurtz haben wir hier auch eine der profunden Kennerinnen und Autorinnen des Genres vor uns, die sich einmal von ihrem Camber-Zyklus absentierte, um eine Trilogie mit einer Kollegin zusammen zu schreiben, deren erster Band hier vor­liegt.

Natürlich ist diese Trilogie inzwischen vergriffen und wird wohl so schnell nicht wieder aufgelegt werden – aber dies ist eigentlich nur ein weiteres Argument, sich um Online-Antiquariate zu kümmern und derartige Schätze, wenn einem durch die folgende Rezension der Mund ein wenig wässrig geworden sein sollte, zielstrebig zu heben und ins eigene Bücherregal zu stellen. Es lohnt sich, gar kein Zweifel. Und wer Schottland liebt bzw. eine generelle Affinität zur briti­schen Lebensart hat, ist hier bestens aufgehoben.

Ohne lange Vorrede also in medias res. Hierum geht es heute:

Der Adept

(OT: The Adept)

von Katherine Kurtz & Deborah Turner Harris

Heyne 9022, 1999

416 Seiten, TB

ISBN 3-453-14929-7

Aus dem Amerikanischen von Michael Morgental

Schon auf den ersten Blick ist Sir Adam Sinclair von Strathmourne House eine beeindruckende Gestalt: ein Hüne von unbändiger Kraft, dabei ein vollendeter Gentleman alter Schule, der sich auf die Etikette einer langen aristokratischen Ahnenreihe ebenso versteht wie auf Manieren gegenüber Ladies, charmant im wahrsten Sinne des Wortes ist und von sehr einnehmendem Wesen. Darüber hinaus jedoch ist er Psychiater mit hoher Reputation, der Gott und die Welt kennt – und zudem besitzt er als vielseitig begabter Mann ein Geheimnis. Sir Adam Sinclair ist ein Adept.

Als Eingeweihter in die magischen Künste gehört er, könnte man meinen, zu ei­ner aussterbenden Gattung im ausgehenden 20. Jahrhundert, aber es gibt gute Gründe, genau das Gegenteil anzunehmen (sehr faszinierende Gründe). Durch offensichtliche Zufälle kommt es zwischen Sinclair und dem jungen, talentierten Maler Peregrine Lovat zu einer schicksalhaften Begegnung. Der Maler ist un­zweifelhaft begabt – aber in ihm steckt eine Fähigkeit, die ihn in den Wahnsinn zu treiben imstande ist und ausbricht, als eine seiner porträtierten Personen stirbt. Verzweifelt sucht er Rat bei Sinclair.

Der adelige Adept, der massive und gut ausgebildete spirituelle Fähigkeiten be­sitzt, begreift recht schnell, was für ein Talent es ist, das Lovat als Fluch ansieht – es ist die Begabung, nicht nur die Dinge so zu sehen und zu zeichnen, wie sie sind, sondern auch die flüchtigen Schatten des Gestern einzufangen, beispiels­weise bei Ruinen zu „sehen“, wie sie früher aussahen, bis in kleinste Details hin­ein. Und bei Personen „sieht“ er frühere Inkarnationen. Oder er skizziert Szene­rien, die erst wenige Stunden zurückliegen.1

Diese Fähigkeit entpuppt sich als zwingend erforderlich, als Sinclair und sein gu­ter Freund, der Polizist Noel McLeod in einer rätselhaften Angelegenheit ermit­teln müssen, bei dem es um eine Grabschändung geht. Die Spur dieses Verbre­chens und seiner spiritistischen Konsequenzen führt auf abenteuerliche Weise in die Themsemetropole nach London und schließlich in den hohen Norden Schottlands. Die magisch begabten Verbrecher sind Sinclair und seinen Freun­den stets einen Schritt voraus, und sie erweisen sich als absolut skrupellos. Bis sie verstehen, dass es um Elfengold und einen verborgenen Schatz magischen Wissens geht, ist es beinahe zu spät…

Vor Jahren schon schwärmte mir eine gute Freundin mit einer ausgeprägten Ader für Fantasy von diesem Roman (und seinen beiden Folgebänden) vor. Doch obgleich ich den Zyklus seit Ende 2002 vollständig in meinen Regalen ste­hen hatte, zögerte ich lange, ihn zu lesen. Ich begann dann… tja, gestern mor­gen damit. Am Abend war ich durch den Roman halb durch, und auf der Heim­fahrt von der Arbeit las ich ihn heute aus. Selbst wenn man nicht viel auf Klap­pentexte gibt, sollte man in diesem Fall eine Ausnahme machen. Anne McCaf­frey wird folgendes Zitat in den Mund gelegt: „Atemberaubend! Ein Zyklus, den man nicht mehr aus der Hand legt.“

Well, dem wäre wenig hinzuzufügen.

Wer ein Freund von ausgesprochenen Actionromanen ist, das sei jedoch er­gänzt, ist hier fehl am Platze. Statt mit wüster, wilder Action und Kämpfen und Verfolgungsjagden ohne Ende sieht man sich hier mit etwas völlig anderem konfrontiert, woran es in meinen Augen unserer Zeit gebricht: mit beeindru­ckender Detailfreude, Ausführlichkeit und gründlicher, solider Fundierung von Handlung.

Die Personen, die die beiden berühmten Autorinnen in ihrem ersten Gemein­schaftswerk schaffen – Katherine Kurtz ist bekannt von ihrem vielbändigen Camber-Romanen – , bersten geradezu vor Vitalität, Vielseitigkeit und überaus plausibler Darstellung. Sir Adam macht eine ausgezeichnete Figur als Mentor des unsicheren, verstörten Peregrine, und wenn man sich Adams Biografie ver­gegenwärtigt, ist das überaus glaubwürdig, was er tut. Er kommt als rechtschaf­fener, zutiefst moralischer Charakter zum Vorschein, Anhänger einer hohen Mo­ral, doch auch durchaus radikalen Entschlüssen nicht abgeneigt.

Peregrine wird dagegen glaubhaft skizziert als ein Mensch, dessen spirituelle Fähigkeiten sich gerade entfalten, oftmals mit Hemmnissen und Schwierigkei­ten. Und Noel McLeod als dritter in der Riege der positiven Hauptfiguren, be­sitzt wieder eigenständige, sympathische Züge, nicht zuletzt eine unverwüstli­che, mürrische Art von Humor, die es dem Leser leicht macht, ihn ins Herz zu schließen. Doch die präzise, vielseitige Darstellung von Charakteren bezieht auch ausdrücklich die Nebenpersonen mit ein.

Und ganz einerlei, ob die Autorinnen das Interieur von Herrenhäusern schil­dern, die Atmosphäre eines Krankenhauses, die vielseitigen Schrecknisse eines entfesselten Sturms oder die seltsamen Eigenheiten einer spirituellen Geistrei­se, immerzu wirken sie auf bestechende Weise plausibel.

Am meisten begeistert hat mich allerdings der Besuch Peregrine Lovats im Briti­schen Museum – weil ich hier die unnachahmliche Möglichkeit besaß, hier zu vergleichen. Die Autorinnen fragten explizit Wissenschaftler, beispielsweise nach schottischer Kartografie des 13. und 14. Jahrhunderts, und nicht nur glühen die hier beschriebenen Nebenfiguren voll menschlicher Wärme und Glaubwürdigkeit, sondern auch die Atmosphäre des Britischen Museums. Das geht bis hin zu den Signaturen der originalen Exponate und den wissenschaftlichen Gepflogenheiten der Ausleihe. Wer die Recherchespuren Peregrines nachvollziehen möchte, könnte dies höchstwahrscheinlich bis hin zu den Handschriften, die er sich dort ausleiht…2

Als ich dies las und mir dann dachte, wie ein Christoph Marzi seine „Bibliothe­kare“ in London agieren lässt, mit wie viel Oberflächlichkeit, wie viel massivem Einsatz von Klischee und verkleisternder Wortmalerei, anstatt sich an präzise Fakten zu halten (was allemal besser ist, wenn man in authentischen Orten un­terwegs ist)3, da wurde mir wieder einmal bewusst, wo meine persönlichen Vorlieben liegen – dort, wo die Präzision und Sorgfalt waltet.

Gewiss, mag man einwenden, ich sei Historiker, man mag ebenfalls einwenden, mein Qualitätsstandard sei eben zu hoch, die Latte zu hoch angelegt… aber dies weise ich kopfschüttelnd zurück. Nicht beim Kritiker liegt die Latte zu hoch an, sondern bei den Autoren, auf die der Kritiker dann verweisend blicken muss, wurde das Level viel zu niedrig angesetzt. So niedrig, als wenn man hier für un­bedarfte und naive Kinder schriebe.

Und dieses Buch beweist überdies schlagend, dass die starke Anlehnung an his­torische Faktizität nicht notwendigerweise ein langweiliges Buch produziert. Ganz im Gegenteil, würde ich sogar behaupten: Der Kontrast zwischen der Wirklichkeit und den imaginativen Versatzstücken macht die Geschichte weitaus packender und fordert vom Autor viel mehr Präzision und Detailwissen. Heraus kommt, wenn es gut gelingen soll, ein Werk, das sowohl dem Autor mehr Spaß bereitet als auch den Lesern (zumal jenen, die Schottland lieben und dort schon in Urlaub gewesen sind!).

Der Adepten-Zyklus von Kurtz und Harris ist jedenfalls im Vergleich dazu ein Ju­wel, das viel zu lange in meinen Regalen schlummerte. Meine gute Freundin hatte vollkommen Recht, es ist des Lesens und des Entdeckens wert (auch wenn ich vermute, dass es nicht mehr als drei Romane gegeben hat. Man korrigiere mich bitte, wenn ich mich täusche. Ich würde das Lesevergnügen gern über drei Bände hinaus ausdehnen!).

Das Titelbild muss man natürlich ignorieren, das hat mit dem Inhalt nichts zu tun. Da wäre dann schon eher das Monster von Loch Ness sinnvoller gewesen. Oder ein Michael Scot, der Schankgäste in Angst und Schrecken versetzt. Und man kann sehr neugierig sein, wie sich der Kampf weiter entwickelt. Denn gleich Harry Potter 14 ist dieses Buch, ungeachtet seines Umfanges, eigentlich als Prolog zu weiteren Abenteuern zu verstehen. Dem trägt – leider – auch die Darstellung der Gegner Rechnung, die doch etwas nebulös bleiben.

Hm, sonstige kritische Einschränkungen? Nun ja, eine möchte ich zu bedenken geben. Die muss aber nicht von der Lektüre abhalten: Während ich bei dem HarryPotter-Zyklus schon früh das beunruhigende Gefühl hatte, die Autorin würde hier das britische, elitäre Internats-Schulwesen glorifizieren (was sich nicht bestreiten ließe), so ist das bei Kurtz und Harris in ähnlicher Weise mit der quasi-feudalen Umgebung Adam Sinclairs der Fall. Der Grat zwischen erlesenem Stil und ein wenig hochnäsigem Adelsstil ist schwierig und nicht immer hun­dertprozentig gelungen. Manch einer würde Sinclair vermutlich als verwöhnten Snob interpretieren. Wahrscheinlich musste deshalb sein Adlatus Peregrine Lo­vat aus einer ganz anderen gesellschaftlichen Schicht stammen. Aber man sollte sich dieses Problems bewusst sein.

Die Lesefreude trübt das indes nicht. Schade, dass der Roman so kurz ist. Nun, der zweite, „Die Loge der Luchse“, ist fast 700 Seiten stark. Wenn das nicht ver­heißungsvoll klingt…

© by Uwe Lammers, 2008

Selbst wenn man berücksichtigt, dass ich mit einem zeitlichen Abstand von acht Lesejahren und Rezensionsjahren zu den Romanen ein etwas distanziertes Ver­hältnis habe, empfinde ich sie grundsätzlich doch immer noch als gut. Der drit­te, zu dem ich in ein paar Wochen etwas sagen werde, ist zwar einigermaßen schwach ausgefallen, doch die ersten beiden sind sehr beeindruckende Zeugnis­se, die mich viele Lesestunden solide unterhalten haben. Wenn sie euch also über den Weg laufen und euch die Rezension gefallen hat – schlagt umgehend zu!

In der kommenden Woche reisen wir an dieser Stelle zurück in die Mitte des 19. Jahrhunderts, um einen historischen Krimi der ganz besonderen Art zu betrach­ten. Was das genau heißt? Nun, das solltet ihr wirklich nicht versäumen, wenn ihr jemanden wie Sean Connery mögt…

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 In einer gewissen Weise ist sein Talent damit dem verwandt, das ein kleines Mädchen na­mens Emily Laing in den Romanen von Christoph Marzi anwendet. Aber diese beiden Au­torinnen können es besser kommunizieren und glaubwürdiger darstellen. Vgl. hierzu Chri­stoph Marzis Buch „Lycidas“.

2 Es sei im übrigen auf einen mehrseitigen, interessanten Anhang hingewiesen, in dem Be­griffe und historische Lokalitäten und Bräuche erläutert werden. Exzellent!

3 Vgl. besonders Christoph Marzi: „Lilith“ und „Lumen“. Vielleicht ist es auch kein Zufall, wenn in Buchhandlungen (wie vorgestern erlebt) ausschließlich mit dem – wesentlich bes­seren – ersten Band der Trilogie von Marzi, „Lycidas“, geworben wird. Auch Buchhändler scheinen die Defizite der beiden Nachfolgebände klar zu kennen.

4 Vgl. Joanne K. Rowling: „Harry Potter und der Stein der Weisen“.

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