Rezensions-Blog 46: Mit geschlossenen Augen

Posted Februar 9th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute müssen wir mal die Augen öffnen, um unsere Gegenwart im Spiegel der Worte eines jungen Mädchens anzuschauen, das auf bestürzend schonungslose Weise das eigene sinnliche Erwachen einerseits und die Verständnislosigkeit der Umwelt andererseits, bezogen auf ganz dasselbe Phänomen, erlebt hat.

Diese Rezension hat nun schon deutlich mehr als zehn Jahre auf dem Buckel, aber ich glaube, auch nach dieser langen Zeit ist meine Beunruhigung, die die Lektüre des vorliegenden Buches in mir auslöste, noch deutlich zu spüren. Und wer weiß, vielleicht gibt es ja da draußen in der weiten Welt noch eine ganze Menge empfindsame Seelen gleich meiner, die ganz dankbar sein werden, zu entdecken, dass sie nicht restlos allein sind mit ihren Befürchtungen.

Das Buch ist es nach wie vor wert, gelesen zu werden, selbst wenn man an manchen seiner Aussagen gewisse Zweifel haben mag und gewisse Details be­stimmt mit Blick auf bessere Vermarktbarkeit „optimiert“ worden sein dürften. Der Kern ist authentisch, und das reicht eigentlich hin.

Wer die Augen davor nicht verschließen möchte, lese weiter:

Mit geschlossenen Augen

(OT: 100 colpi di spazzola prima di andare a dormire)

von Melissa P.

Goldmann 45765

Juli 2004, 160 Seiten

7.95 Euro

Übersetzt von Claudia Schmitt

Catania, 6. Juli 2000:

Ein fünfzehnjähriges sizilianisches Mädchen namens Melissa beginnt in der Ab­geschiedenheit des eigenen Zimmers damit, ein Tagebuch zu führen und stellt sich so ungeahnt in die Tradition einer Anaïs Nin, die 87 Jahre zuvor Gleiches tat, wenn auch aus anderem Antrieb. Im Gegensatz zu Anaïs Nin ist Melissas Welt heil. Sie hat noch beide Eltern, sie hat Geschwister, ist nicht entwurzelt. Aber sie hat dennoch Probleme.

Melissa fühlt sich unverstanden vom Leben und unfähig, mit ihren Mit­menschen darüber zu reden. Niemand versteht sie und die in ihr erwachenden Regungen der Weiblichkeit, und diese Verständnislosigkeit der Umwelt wird ihr Feind. Melissa, ein durchaus hübsches, aber durchschnittliches Mädchen be­ginnt mit einer Suche nach Liebe und Zärtlichkeit, die rasch zur Entdeckung ei­ner Gegenwelt führt. Aus falsch verstandenem Gefühl heraus geht sie, während sie ihrem Tagebuch mitunter beißend verzweifelt ihre Erlebnisse und Gedanken beichtet, rasch davon aus, dass der Weg zum Herzen eines Mannes nur über völlige Selbstaufgabe geht, dass sie es nur dann erreichen kann, wenn sie bereit ist, Schmerz und Erniedrigung zu erdulden. Dass die Männer sie schon lieben werden, wenn sie ihren Körper begehren.

Sie irrt sich.

Melissa gibt sich Männern hin, die sie nicht genügend kennt, lässt sich von ih­nen in alles hineinziehen, was verlangt wird, selbst Orgien mit Unbekannten und sadomasochistische Begegnungen lernt das eigentlich sanftmütige Mäd­chen kennen. Und während Melissa von fremden Männern immer rücksichtslo­ser als Sexobjekt behandelt wird und sich gegenüber ihrer Familie verstellt, eine Maske aufrichtet, hinter die niemand schauen soll, schreit ihre Seele voller Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Verständnis…

Melissa P., heute 18 Jahre alt, lebt inzwischen in Rom und hat, wie man als Le­ser und Rezensent hoffen sollte, inzwischen halbwegs überwunden, was ihr während ihres erotischen Erwachens widerfahren ist. Manches darin wirkt deutlich gestellt, das muss man im Nachhinein kritisieren (die Kenntnis von Na­bokov, die hierin aufschimmert, scheint für ein fünfzehnjähriges Mädchen aus katholischen Verhältnissen doch etwas zu aufdringlich), möglicherweise ist es auf die Überarbeitung der Tagebucheintragungen zurückzuführen. Im Kern je­doch sind die Geschehnisse authentisch – und sehr erschütternd.

Aufwühlend ist weniger das, was Melissa erlebt, überaus erschreckend ist das Paradigmatische daran: Die Phase der inneren Zerrissenheit, der Verlassenheit und der allgemeinen familiären Verständnislosigkeit, dieser Kern des Generati­onskonfliktes, er kommt im wesentlichen in jeder Familie vor. Jedes Mädchen macht mehr oder weniger stark die Suche nach der eigenen Sinnlichkeit durch, und nur sehr wenige werden auf diese Weise geprägt werden wie Melissa P. Je­denfalls steht das zu hoffen. Aber wissen wir das?

Ich entsann mich, während ich das Buch las, der Worte, die jüngst der amerika­nische Autor Martin Amis in einem Interview über Pornografie und Erotik ge­sagt hat, und zusammen mit diesem Buch lassen sie mich schaudern: „Was im­mer Pornografie anrichtet, man kann es bedauern, aber nicht von sich weisen. Wenn die alten Werte einer Kultur sterben, bleiben Schwangere und Nächte vol­ler Chaos und Trostlosigkeit zurück. Man weiß noch nicht, was dabei heraus­kommt. Pornografie ist die schwangere Witwe unserer Sexualität“ und, noch passender: „Liebe und Pornografie sind Gegensätze. Und was Liebe ausschließt, liegt in der Sackgasse des Lebens… Ich sorge mich um kommende Generatio­nen. Ich fürchte, dass Pornografie ihr Sexualkundeunterricht werden könnte…“

Vielleicht ist meine Befürchtung überzogen, aber, um wieder auf den Anfang zu­rückzukommen, für Anaïs Nin war das, was Melissa P. schreibt, völlig unvorstell­bar, in jedem Fall in ihrem Alter. Zwischen 1918 und 1921, in dem Alter also, in dem Melissa P. war bzw. jetzt ist, findet sich in ihren Tagebüchern viel romanti­sche Träumerei, aber keine solchen Dinge, wie Melissa sie mit schonungsloser Offenheit und Brutalität zeigt. Von solchen direkten Aussagen war Anaïs immer weit entfernt: „Der junge Pfirsich wird reifen; und dann wird er zuerst seine Far­be und danach seinen Geschmack verlieren, und seine Haut wird schlaff und runzelig werden, am Ende wird er verfaulen, und die Würmer werden sich sein Fruchtfleisch einverleiben…“ Der „Pfirsich“, den sie beschreibt, ist Melissa selbst.

Natürlich kann man sagen, das war eine andere Zeit, eine andere Form der So­zialisation… aber genau darum geht es ja: Die Welt ist roher und brutaler ge­worden in den vergangenen 87 Jahren. Ja, und leider muss man befürchten, dass auch die Seelen unserer Kinder härter werden und eine Welt noch größe­rer Grausamkeit herangezüchtet wird, wenn man als Elternteil nicht versucht, sie und ihre Probleme ernst zu nehmen.

Das ist die Lehre, die wir aus diesem Buch ziehen können.

Und mich fröstelt.

Doch vielleicht können wir auch noch hoffen. Gegen Schluss gelingt es Melissa, sich aus der Schlinge zu ziehen, zitternd, erschöpft, verstört und unsicher über die neue Lage. Und sie resümiert mit bebenden Lippen, bang hoffend: „Mein Herz war in einer Zelle aus Eis gefangen; sie mit einem gezielten Schlag zu zer­trümmern wäre gefährlich gewesen, denn das Herz hätte dadurch für immer Schaden nehmen können. Dann aber kam die Sonne, nicht unsere brennende si­zilianische Sonne, die Feuer spuckt und Brände stiftet, nein, eine sanfte, unauf­dringliche, großherzige Sonne, die das Eis langsam wegschmolz und so verhin­dert hat, dass meine ausgetrocknete Seele auf einen Schlag überschwemmt wurde…“

Vielleicht also gibt es doch noch einen Lichtschimmer.

Hoffen wir darauf.

© by Uwe Lammers, 2004

Harter Stoff? Eindeutig ja, meine Freunde. Aber es gibt in unserer Welt nicht nur die schönen, sonnigen und idyllischen Seiten, die es zu betrachten gilt, die Finsternis der Seele ist gleichwohl immer als Phantomschatten zugegen und verdunkelt die positiven Möglichkeiten.

In der kommenden Woche kehren wir zurück in die deutlich entspanntere Sphä­re des Fiktiven und der Fantasy – mit dem abschließenden Buch der Trilogie um den Freimaurer-Adepten Sir Adam Sinclair.

Nicht verpassen!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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