Rezensions-Blog 52: Die Vampire

Posted März 23rd, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute steigen wir mal in ein Leseabenteuer für Neugierige ein, für vielseitig in­teressierte Phantastik-Fans, die umso mehr von dem vorliegenden Roman ha­ben, wenn sie sich in der Realzeit zwischen, sagen wir, 1880 und 1965 solide auskennen. Das bezieht die Realgeschichte ebenso ein wie die literarische Ge­schichte, denn in dem vorliegenden Roman werden munter Personen der Zeit­geschichte mit solchen der Populärkultur gemischt.

Das ist strukturell grundsätzlich reizvoll – sofern der Spagat gelingt und man die fiktiven Elemente harmonisch in die zeitgeschichtlichen Kontexte einzuflechten versteht. Da ich Historiker wie auch Phantast bin und mich in beiden Bereichen, wie ich denke, recht solide auskenne, hatte der vorliegende Roman, der eigent­lich eine ganze Trilogie kompakt vereint, für mich außerordentlichen Reiz. Gleichwohl zögerte ich etwas, mich in dieses Leseabenteuer zu stürzen.

Warum? Nun, weil ich generell leicht gereizt reagiere, wenn das Thema auf Vampire kommt. Ich habe einfach in meiner Heftromanzeit der 80er und frühen 90er Jahre unzählige Romane mit solchen Protagonisten gelesen und konnte sie schließlich echt nicht mehr ausstehen.

Verzeiht also, wenn ich unten dann in der Beurteilung auch sehr kritische Töne anschlage und die Besprechung dieses ansonsten äußerst beeindruckenden Ro­mans ein wenig zwiespältig ausgefallen ist. Dennoch halte ich ihn grundsätzlich für ein vorstellenswertes Werk, und so kommt ihr in den Genuss dieser schon vor Jahren in einem Fanzine mit kleiner Auflage publizierten langen Rezension. Ich wünsche euch viel Lesevergnügen.

Auf ins Abenteuer:

Die Vampire

von Kim Newman

enthält die Romane

Anno Dracula

Der Rote Baron

Dracula Cha-Cha-Cha

Heyne 53296

1280 Seiten, TB

Aus dem Englischen von Thomas Mohr (1./2. Buch)

und Frank Böhmert (3. Buch)

ISBN: 978-3-453-53296-0

Um es vorweg zu sagen, was vielleicht allgemein bekannt ist: ich mag eigentlich keine Vampire. Dennoch habe ich nicht allzu lange gezögert, diesen wirklich „di­cken Schinken“ zu kaufen (okay, könnte man einwenden, vielleicht hatte ich ja nichts mehr zu lesen, und im Antiquariat kann man beim angebotenen Preis von 4 Euro hier wenig falsch machen… und gleichwohl ist auch diese Vermu­tung falsch). Der Grund liegt ein paar Jahre zurück und hat seine Wurzeln in meiner Passion für die historischen Wissenschaften. Das klingt jetzt alles etwas seltsam? Aye, also, hier die Auflösung, ehe ich zu der Besprechung der Bücher selbst übergehe:

Vor über zwanzig Jahren las ich Bram Stokers „Dracula“ in der deutschen Über­setzung und fand ihn, von Struktur wie Duktus her, doch eher etwas anstren­gend. Puristen mögen mir verzeihen. Ich versenkte Stoker und das Vampirgenre darum wieder im Vergessen. Geraume Zeit später wurde mein Interesse an dem historischen Mordfall „Jack the Ripper“ geweckt, und ich habe wirklich einiges dazu gelesen. Nun, und schließlich lief mir Kim Newmans Buch „Anno Dracula“ über die Füße und verband nicht nur beide Themen, sondern auch noch eines meiner historischen Steckenpferde, nämlich die historische Kontrafaktik: was wäre geschehen, wenn…? In solchen kontrafaktischen Geschichten, die eng mit Parallelwelten und Alternativzeitlinien verzahnt sind, läuft die menschliche Ge­schichte mitunter bestürzend anders ab als in der Realität. Und was hatte Kim Newman daraus gemacht? Folgendes als Ausgangspunkt (!) seines Romans „Anno Dracula“: Van Helsing ist gescheitert und getötet worden. Dracula hat sich nach England eingeschifft und das nicht nur überlebt, sondern, schlimmer noch, er hat Queen Victoria geheiratet und ist Herrscher von England… und er breitet den Vampirismus aus!

Ich dachte, ich fall’ vom Hocker.

So wenig ich auch für Vampire übrig habe, dies klang mir nach einer schier wahnwitzigen Konstellation mit hohem literarischem Reiz (ich hatte ja noch gar keine Ahnung!), also kaufte ich mir anno 1999 das Wühltischbuch… und ver­senkte es in meinen Bücherregalen, in denen es wirklich von lesewilligen Bü­chern nur so wimmelte. Und dann stolperte ich Anfang 2010 also über diesen dickleibigen Wälzer und musste mit einer gewissen Fassungslosigkeit verstehen: he, das ist nicht nur EIN einzelner Roman, Newman hat gleich eine ganze TRILO­GIE darüber geschrieben!

Ja, ich zögerte dann doch einen Moment. 400 Seiten Vampire sind eine Sache, dachte ich, die zu lesen, das kriege ich dann wohl noch hin. Aber fast 1300… hrm. Ich blätterte das Buch ein bisschen durch und las auf Seite 465 (Beginn des zweiten Romans) die Titelzeile „Im Westen nichts Neues“1 und wusste dann schlagartig: verdammt, da geht es nicht um irgendeinen Vampirbaron, sondern um DEN Roten Baron. Es geht um den Ersten Weltkrieg (dummerweise noch so ein Steckenpferd von mir)… tja, und da war’s dann ganz vorbei. Vier Euro bezah­len, Buch einstecken und schnell gehen.

Dennoch hat es gedauert, das Lektüreergebnis vorzulegen. Aber ich versichere euch, das Buch hat es wirklich in sich. Fangen wir mal ganz harmlos an…

Buch 1: Anno Dracula („Anno Dracula“)

Es herrscht Vampirwetter in England im Herbst 1888.

Seitdem Graf Dracula Queen Victoria geehelicht hat, ist das Regentenpaar aus der Öffentlichkeit nahezu verschwunden. Die so genannte Karpatische Garde, blutrünstige, grausame Uraltvampire, sind Draculas Leibwache, und sie sind in der Bevölkerung berüchtigt wegen ihrer Exzesse, Morde und ihrer brutalen Be­strafungsaktionen (Pfählen!). Die Finsternis ist über der Insel herabgesunken, und das kann man sehr physisch verstehen. Schlimmer noch: seit sich die Mon­archie so verändert hat, gilt es als sinnvoll, um nicht zu sagen als opportun, sich selbst zum „Neugeborenen“ machen zu lassen und „Blutspaten“ zu suchen, um gesellschaftlich aufsteigen zu können. Vampirhuren, vormalige leichte Mäd­chen, die nun als Untote ihrem ursprünglichen Beruf (freilich etwas scharfzüngi­ger als zuvor) nachgehen, sind ein allgemeiner Anblick. Lokale, in denen Blut ausgeschenkt wird, haben eröffnet… und dann geschieht das vielleicht Undenk­bare: ein Mord.

Nun sind Morde an und für sich nichts Neues, die hat es in der Themsemetro­pole immer schon gegeben. Aber es ist einfach sehr schwer, Vampirdirnen um­zubringen… es sei denn, man hat ein Messer aus Silber, und ein solches verwen­det der Mörder. Der Volksmund – hin und her gerissen zwischen Sympathie, weil man Vampire wirklich nicht schätzt, und Furcht, denn wer sagt, ob das nicht ein Wahnsinniger ist, der sich nach den Vampiren auch die Warmblüter vornimmt? – nennt ihn bald „Silver Knife“. Und da er beim herrschenden Re­gime auch als „Terrorist“ gegen die Vampire wahrgenommen wird, wird bald Or­der ausgegeben, diesen Kerl zu finden und auszuschalten.

Wir haben für diesen „Silver Knife“ einen anderen Namen: Jack the Ripper. Und Kim Newman hat für ihn eine völlig andere Biografie und atemberaubende Be­weggründe für seinen zerstörerischen Hass…

Im Zuge des Romans lernen wir außerdem kennen: die Vampirälteste Geneviè­ve Dieudonné, im Körper einer etwa Sechzehnjährigen hausend, und zwar seit einigen hundert Jahren, eine Vampirin mit erstaunlichem Großmut und einer sehr sozialen Ader, die zusammen mit dem voll und ganz lebenden Dr. Seward in Whitechapel ein Hospital für die Ärmsten betreibt; Inspector Lestrade vom Scotland Yard (der als „Neugeborener“, also als Vampir, auf Seite 18 des Ro­mans für einen ziemlichen Schock sorgte, schließlich ist er eine Romanfigur aus dem Sherlock-Holmes-Kosmos!); Sherlock Holmes (quasi gleich darauf, Seite 25 – wo man erfährt, dass er vom Regime in ein „Konzentrationslager“ verbracht worden sei, weil er „gewisse Differenzen mit der gegenwärtigen Regierung“ ge­habt habe!); die Journalistin Kate Reed, die sich als Frauenrechtsaktivistin und Regierungskritikerin hervortut und damit einige Schwierigkeiten bekommt.

Außerdem erfahren wir, dass Bram Stoker (!) spurlos verschwunden ist (seine Frau ist ebenfalls Handlungsperson), wir machen die Bekanntschaft mit Charles Beauregard (*1853), einem jungen, aufstrebenden Diplomaten, dessen Verlob­te Penelope Churchward sich nun in eine Vampirin verwandeln lässt, was dazu führt, dass er seine Verlobung löst, weil Beauregard nicht vorhat, sich zu ver­wandeln. Prinzipientreue ist nicht eben etwas, was hier gern gesehen wird, und wenn man Beauregard eines zuschreiben kann, dann Prinzipientreue.

Beauregard ist eine der zentralen Figuren des Romans, abgesehen vom Mörder vielleicht die zentralste. Er steht, und das war dann der nächste Schock für mich als Leser, im Dienst des „Diogenes-Clubs“ (auch aus Sherlock Holmes´ Geschich­ten bekannt), und als dann Mycroft Holmes, Sherlocks dickleibiger, hochintelli­genter Bruder und graue Eminenz im Diogenes-Club, in Erscheinung trat, da verblüffte mich das nicht mehr so richtig.

Als der Diogenes-Club Beauregard den Vampir-Gardisten Danny Dravot an die Seite stellt2 und ihn mit dem Fall „Silver Knife“ beauftragt, wird bald klar, dass die Clubführung eine Gratwanderung vollführt: Mycroft hält nichts von Dracula, steht aber loyal zur Königin. Insofern sieht er die Metzeleien von „Silver Knife“ nicht ohne eine gewisse Sympathie, da dieser Mörder nur Vampire tötet. Ja, vielleicht sieht er sogar bestimmte… Möglichkeiten. Das darf natürlich niemand erfahren.

Und Beauregard als Warmblütiger, der bald an der Seite von Geneviève Dieu­donné und Kate Reed gegen Vampirintrigen, menschliches Machtgerangel, Op­portunismus, Wahnsinn und gegen einen offensichtlich geistesgestörten Vam­pirmörder zu kämpfen hat, wendet sich, als rasche Erfolge ausbleiben und im­mer mehr Morde geschehen, fragwürdigen Wissenschaftlern zu, die vielleicht Aufklärung schaffen könnten… zwei Doktoren namens Dr. Jekyll und Dr. Moreau (wie, die kommen bekannt vor? Gut, es sind genau DIESE Herren!).

Was aber in Wirklichkeit hinter dieser ganzen Angelegenheit steckt und vor al­len Dingen, wie der Diogenes-Club vorhat, Jack the Ripper zu instrumentalisie­ren, das kommt erst sehr, sehr spät ans Licht, und der Roman versinkt am Schluss in einem einzigen Sumpf des blutroten Grauens…

Buch 2: Der Rote Baron („The Bloody Red Baron“)

Man schreibt das Jahr 1918, das Morden während des Weltkriegs geht in das vierte Jahr, und noch immer ist kein Ende in Sicht. Die Welt hat sich nicht zum Besseren verändert, seit die Lage in England vor dreißig Jahren entschärft wer­den konnte – es kam damals im Gefolge der Jack-the-Ripper-Morde zum Sturz Graf Draculas und zu der Vertreibung des Karpaters mitsamt seiner Garde ins Ausland.

Leider beendete das nicht das Ausbreiten des Vampirismus – daran konnte schon Leuten wie dem damaligen Premierminister Lord Ruthven nicht gelegen sein, der selbst zu einem geworden war und sich nach Draculas Sturz hartnäckig für die Ernennung von König Viktor stark machte. So kam es, dass Vampire wei­terhin in der Regierung blieben und zahllose Menschen auch in den drei Jahr­zehnten nach Draculas Sturz die „Neugeburt“ anstrebten. Lord Ruthven regierte als Premierminister auch noch 1918 Großbritannien, und er verfolgte die Karrie­re des Obervampirs mit Argusaugen.

Dracula floh zunächst nach Russland, wo er die Romanow-Familie in seinen Bann zog. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er dann aber gezwungen, zu flüchten und wurde auf der Yacht „Hohenzollern“ des Regenten Wilhelm II. von Deutschland anno 1905 gesichtet. Der deutsche Herrscher gab Dracula nicht nur Obdach, sondern einen deutschen Grafentitel und politische Ämter. Im Raum der Mittelmächte wurde daraufhin der Vampirismus salonfähig, und als Dracula seit 1914 Oberbefehlshaber des deutschen Heeres wurde, konnte der nächste Alptraum beginnen: der Erste Weltkrieg.

Diesmal wurde es ein Krieg, in dem Lebende und Vampire miteinander rangen, und dennoch war es ein Gemetzel, das sich ganz wie in unserer Welt in Nord­frankreich in einem Schützengraben-Stellungskrieg festfraß und eigentlich seit Herbst 1914 verloren war. Der vermeintlich auf 4 Wochen bemessene Waffen­gang währte nun schon vier Jahre und hatte die halbe Welt in Flammen gesetzt. Es betraf nicht länger nur Deutsche, Russen, Franzosen, Belgier und Engländer, sondern inzwischen waren die Türken im Krieg, der Balkan brannte, Rumänien, Teile Afrikas befanden sich im Kolonialkrieg, und die Amerikaner und Australier mischten sich inzwischen ein. Und hinter den Kulissen des aktuellen Krieges tobte natürlich auch der unerklärte, geheime Krieg im Hintergrund.

Federführend für diese Art der Kriegsführung ist, ganz wie im ersten Roman, der „Diogenes-Club“, noch immer geleitet von dem inzwischen schwer kranken Mycroft Holmes. Sein loyalster Mitarbeiter ist nach wie vor Charles Beauregard, der eigentlich an den Ruhestand denkt, weil er auf das 65. Lebensjahr zugeht und nach wie vor warmblütig ist. Dank einiger Blutauffrischungen, die er Gene­viève Dieudonné zu verdanken hat und die sein Leben verlängert haben, ahnt voraus, dass die Deutschen an der Westfront irgendeine finstere neue Sache ausbrüten. Es gibt vage Gerüchte über eine bevorstehende „Kaiserschlacht“ und eine dabei zum Einsatz kommende „Geheimwaffe“, die im von Deutschen besetzten, frontnahen „Chateau de Malinbois“ entwickelt wird. Genaues ist nicht bekannt.

Beauregard schickt seinen verdienten jungen Mitarbeiter Edwin Winthrop ins Feld, der sich als warmblütiger Pilot dem alliierten „Geschwader Condor“ an­schließen soll. Hier dienen sowohl Vampire als auch Warmblüter als Soldaten, das ist ganz ähnlich wie im Heer, und der Tonfall ist rauh, aber herzlich.

Chateau de Malinbois erweist sich tatsächlich als Brutstätte des Bösen: das deutsche Oberkommando hat hier eine Reihe von verdienten Ärzten – Dr. Cali­gari, Dr. Mabuse und Dr. Murnau (wer diese oder auch weitere erwähnte Na­men zu kennen meint, hat Recht – Newman verknüpft auch hier auf abenteuer­liche Weise Roman- und Filmfiguren mit der zeithistorischen Handlung auf eine geradezu aberwitzige Weise) – zusammengezogen, die unter der Anleitung des Arztes Dr. tenBrincken sinistre medizinische Experimente mit den Fliegern des Jagdgeschwaders 1 (JG 1) vollführen.

Und dieses Jagdgeschwader gab es ja wirklich, ebenso wie die in Folge auftre­tenden Fliegerasse Ernst Udet, Erich von Stalhein, Hermann Göring (!) sowie Lo­thar und Manfred Freiherr von Richthofen. Letzterer gilt aufgrund seiner zahlrei­chen Abschüsse und seiner scheinbaren Unbesiegbarkeit als „Roter Baron“ und ist damit die Titelfigur dieses Romans.

Es wäre gar zu verräterisch, fürchte ich, sehr in die Details des notwendig bruta­len und blutrünstigen Romans zu gehen, aber es sei darauf hingewiesen, dass es bei dem Geheimnis von Chateau de Malinbois um eine ganz ungeheuerliche Form der Flugtechnik geht und die Schrecken des Krieges hierin sowohl in sozia­ler wie in politischer und physischer Realität äußerst drastisch geschildert wer­den. Personen wie Mata Hari und der brave Gefreite Schwejk haben ihre Auf­tritte als Vampire, zum Erschrecken und zur Bestürzung des Lesers tauchen Leu­te wie Franz Kafka, Edgar Allan Poe (!) und Hanns Heinz Ewers nicht nur unbe­dingt am Rand auf, sondern die beiden letzten, Vampire durch und durch und einfach unglaublich individuell geschildert, agieren über weite Teile des Ro­mans.

Haarsträubend ist dann auch, zu erleben, dass der Generalstab auf der alliierten Seite fast flächendeckend aus – sehr prominenten – Vampiren besteht: Winston Churchill (!), General Jack Pershing (!) und Douglas Haig (!). Den graugesichti­gen, alten und warmblütigen Charles Beauregard dabei zu sehen, der sich im­mer noch prinzipientreu weigert, ein Vampir zu werden, tut schon fast weh. Aber es lässt natürlich den Respekt vor ihm wachsen.

Ähnlich ist es mit der verstörenden Wandlung, die mit Edwin Winthrop vor sich geht, der zwischendurch im Niemandsland strandet und eine wahre Alptraumodyssee durchmacht, die zu den schrecklichsten Passagen des Buches gehört. Nun, und dann ist da selbstverständlich noch „Miss Maus“, die Journalistin Kate Reed, seit dreißig Jahren untot und kein bisschen weniger renitent als zuvor, im­mer noch unbequem und am Rande des Hochverrats balancierend.

Als dann die „Kaiserschlacht“ beginnt, wird rasch klar, dass beide Seiten sich verkalkuliert haben. Das Blutvergießen eskaliert, und die Monster werden los­gelassen…

Buch 3: Dracula Cha-Cha-Cha („Dracula Cha Cha Cha“)

Der Zweite Weltkrieg und all seine Schrecken liegen hinter uns – und im späten Charme des Italiens gegen Ende der Fünfziger Jahre hat sich in der Welt eine neue Gesellschaft etabliert, die inzwischen relativ liberal mit der Allgegenwart der Vampire – sowohl der Ältesten als auch der Neugeborenen – umzugehen gelernt hat.

Was spielt es für eine Rolle, dass sich die Sowjetunion und die USA unter dem drohenden Banner der Nuklearwaffen belauern? Wen kümmert es schon groß­artig, dass die Welt schnelllebiger geworden ist und alle Welt auf Miniröcke, Rock’n Roll, Vespas, südländische Partys und glamouröses Filmbusiness schielt, auf den ständigen Wettbewerb zwischen dem römischen Cinecittá einerseits und Hollywood andererseits?

Für die Ältesten der Vampirfamilien scheint die Welt gleichsam versteinert zu sein, etwa für Graf Dracula, der beide Weltkriege überstanden und, reich ge­worden durch die Investition in die moderne Kunst, inzwischen auf Schloss Otranto vor den Toren Roms seinen Ruhesitz gefunden hat. Die Welt hat ihren Frieden mit den Vampiren gemacht, so will es scheinen… die Welt…? Nun, viel­leicht.

Als im Juli 1959 das Gerücht Substanz annimmt, dass Graf Dracula ein weiteres Mal zu heiraten gedenkt, diesmal Asa Vajda, eine untote moldawische Prinzes­sin (und bekanntlich liegt Moldawien, Teil Rumäniens, zu diesem Zeitpunkt hin­ter dem Eisernen Vorhang und wird vom warmblütigen Nicolae Ceausescu re­giert!), reagieren viele Leute mit Neugierde darauf, nicht nur Älteste, sondern auch Geheimdienste in West und Ost. Journalisten treffen hier ein, beispiels­weise die sattsam bekannte Kate Reed, die schon in den ersten beiden Roma­nen eine zentrale Rolle spielte.

Sie hat aber eigentlich nicht Graf Dracula zum Ziel – sie möchte dem Mann, den sie immer begehrt hat, aber nie zu halten vermochte, noch einmal einen Be­such abstatten: Charles Beauregard, der in Rom lebt und hier in hohem Alter (er ist inzwischen 105 Jahre alt und immer noch warmblütig!) von seiner Langzeit-Geliebten gepflegt wird, Geneviève Dieudonné, die für immer und ewig seit dem 14. Jahrhundert in ihren schönen 16jährigen Leib eingesperrt ist.

Ehe Kate die beiden erreicht, wird sie allerdings schon Zeugin eines Doppelmor­des an Vampirältesten, direkt am Trevi-Brunnen, und um ein Haar findet sie da­bei selbst ebenfalls den Tod. Doch der Mörder, eine clowneske Hünengestalt, verschont sie. Und wer ist dieses blassgesichtige Mädchen, das Kate als einzige am Tatort entdeckt und das gleich darauf verschwunden ist…?

Man entdeckt schnell, dass Charles, wiewohl steinalt und gebrechlich, doch noch über einen scharfen Verstand verfügt und viele Verbindungen in die selt­samsten Kreise. Und er empfängt, sehr gegen Genevièves Wünsche, immer noch Gäste – beispielsweise einen smarten britischen Vampir-Agenten namens Hamish Bond (unschwer zu erraten, wer da wohl Pate stand, und man sieht un­weigerlich den jungen Sean Connery vor sich, ebenso unbekümmert in seinen Leinwandliebeleien wie in seinen Leinwandmorden im Dienst Ihrer Majestät). Wir treffen auf mechanische Killerwesen und einen nicht minder mordlüster­nen Golem, auf einen Smersh-Agentenchef, den man „den Kater“ nennt (und ja, es ist wirklich ein Schock, in einer Agentenzentrale dann einen Mann in Mao-Uniform zu sehen, der ein weißes Kätzchen auf dem Arm trägt und es streichelt… wer da nicht an Blofeld denkt, hat keine Ahnung!3).

Nun, und als wenn das alles noch nicht reichen würde, ist dann da auch noch die Frage von Lord Draculas Hochzeit. Warum ausgerechnet Prinzessin Vajda? Was will Dracula mit dieser Heirat erreichen? Und wer, um alles in der Welt, ist dieser wahnsinnige Vampirmörder, der ausschließlich Älteste meuchelt?

Uns läuft im Palast des uralten Vampirs ein menschlicher Bediensteter über die Füße, ein charmanter, junger Amerikaner namens Tom, der schon mal einen Vampir kurzerhand massakriert und das als Unfall getarnt hat (ich musste un­weigerlich an Tom Ripley von Patricia Highsmith denken, weiß aber nicht, ob der Roman anno 1959 spielt, ich habe ihn noch nicht gelesen… verblüffen wür­de es mich nicht). Dann machen wir einmal mehr die Bekanntschaft von Pene­lope Churchward, der früheren Verlobten von Charles Beauregard anno 1888, von der er sich löste, nachdem sie sich für die vampirische Neugeburt entschied – diesmal ist sie gewissermaßen die Gouvernante von Draculas Haushalt.

Oder wie ist es mit Orson Welles, der als Zauberkünstler, Filmschauspieler und Dramaturg mit einem Zauberschwert in Erscheinung tritt (dass Kate mit diesem Schwert nachher einen Kopf kürzer gemacht werden soll, sei hier nur angedeu­tet… die Szene ist absolut grotesk, nicht zuletzt wegen der Erdbeermarmelade!). Der Leser kann auch Leute wie Kirk Douglas, Sophia Lo­ren, Andrej Gromyko, Edgar Allan Poe und zahllose weitere in Gastrollen erle­ben… doch die wahre Hauptfigur ist der rote Henker und das Wesen, das hinter ihm steht und einen Plan verfolgt, der absolut tödlich ist – nicht zuletzt für eine lebende Legende namens Dracula selbst…

Der letzte der drei Romane dieser Trilogie steuert zwar zu dem gesamten Hand­lungsensemble noch einiges Amüsante und einiges Unterhaltsame bei, garniert – insbesondere gegen Schluss – mit einer Menge interessanter und fast philoso­phischer Reflexionen, erweist sich aber im Gesamtbild bei genauer Betrachtung in gewisser Weise als… nun… blutleer. Eine nett arrangierte Hülle, in der jede Menge Bühnenzauber entfaltet wird. Es gibt eine Menge Geballere, Action, spektakuläre Todesfälle, rätselhafte Wesen, die auftauchen und wieder ver­schwinden, theatralische Beichten und rauschende Festinszenierungen… und doch hat man von Anfang an das dunkle Gefühl, als wenn der Roman eine Aura der Dekadenz und des Zerfalls ausatmet.

Die Ära der alten Vampire, so klingt es ganz zum Schluss, scheint sich dem Ende zuzuneigen. Die menschlichen wie die unmenschlichen Protagonisten verlieren im Räderwerk der modernen Welt ihre Funktion, haben sich gewissermaßen überlebt und sind atavistisch geworden. Und damit fällt dann der Vorhang über die Szenerie. Ja, und so liest sich die Geschichte dann auch, fast ein wenig weh­mütig-fatalistisch. Ein wenig ziellos.

Natürlich, manche Hauptpersonen bestehen weiter, und prinzipiell könnte Kim Newman eine Fortsetzung ausarbeiten. Aber ich bin der Ansicht, dass dies ein Fehler wäre, aus mehrerlei Gründen. Einmal macht er am Ende dieses Romans Dracula tatsächlich den Garaus, auf eine endgültige Weise. Die Ära Dracula ist definitiv vorbei. Zum zweiten berichtet der Autor davon, dass sich die Ältesten an den Takt der modernen Zeit nicht anzupassen wissen, dass sie vom Fort­schritt buchstäblich überholt und links liegen gelassen werden. Die Zukunft ge­hört jenen Vampiren und warmblütigen Menschen, die imstande sind, sich an­zupassen, neu zu erfinden und sich den Herausforderungen der Gegenwart letztlich gewachsen zeigen.

Es gibt aber noch einen dritten Grund, und er kristallisiert sich im Laufe der ge­samten 1280 Seiten immer stärker heraus: Kim Newman ist dem Mythos Dracu­la nicht gewachsen. Dieser Gedanke, der mich im zweiten Band immer stärker überraschte, ist im dritten nicht mehr zu übersehen. Er lässt sich folgenderma­ßen formulieren:

Die Ära der Vampire, das macht er an vielen Stellen deutlich, ist zentral mit dem Namen von Vlad Tepes, also Graf Dracula, verknüpft. Als er im ersten Band sei­nen Widersacher van Helsing überwältigt und tötet (da das schon passiert ist, als der Roman beginnt, muss man das gewissermaßen in Parenthese setzen), um dann Queen Victoria zu ehelichen und sein Terrorregime in England aufzu­richten, ist er es, Dracula, der den Vampirismus salonfähig macht. Seit diesen Tagen der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts ist der Aufstieg des Vampirismus weltweit unaufhaltsam. Selbst die KZs der Nazis, in die die Vampire eingesperrt wurden, hat sie nicht vernichten können. Gleichwohl, in „Anno Dracula“ taucht der Fürst der Finsternis erst ganz zum Schluss auf, mehr als eine Form von Schreckensvision denn als Handlungsfigur. Und kaum ist er aufgetaucht, ist er auch schon wieder fort, wie ein Gespenst.

Im Ersten Weltkrieg – also im zweiten Roman des Zyklus – wird der Schrecken des Krieges zentral eigentlich an der „Normalität“ des Krieges demonstriert. Auch hier steht Dracula nur als Menetekel, als Name im Hintergrund. Er selbst taucht niemals auf (das sind dann nur nachher seine Double wie Bela Lugosi), im gesamten Roman nicht. Hier ist er gewissermaßen eine Nicht-Hauptfigur. Sehr auffallend, wie mir schien.

Erst im letzten der drei Romane kommt Dracula dann wieder zum Vorschein – aber auf was für eine Weise! Obwohl sich offiziell der gesamte Roman zentral um Draculas neue Hochzeit dreht, ist der Bräutigam doch im Grunde genom­men bis ins hintere Viertel des Romans abwesend, und er spricht kein einziges Wort (wer bis dorthin gelesen hat, wird verstehen, warum Dracula selbst dann nicht spricht, als er physisch auftaucht!). In diesem Roman wird, statt die Inkar­nation des Bösen angemessen in Szene zu setzen, der Dracula-Mythos zentral zerlegt und demontiert.

Das geschieht auf interessante, aber eher doch intellektuelle Weise. Vergleicht man die Trilogie darum mit einer Art von Cocktailreihe, so nimmt die Ge­schmacksintensität vom ersten zum dritten Band kontinuierlich ab, und abgese­hen von einigen launigen Höhepunkten auf den letzten paar hundert Seiten liest sich der dritte Roman dann etwa so, wie Spülwasser schmecken dürfte.

Gut also, dass der Gesamtroman nicht den Titel „Draculas Vampire“ oder so ge­tragen hat, sondern sehr allgemein „Die Vampire“ hieß. Das passt durchaus und ist, wie oben schon gesagt wurde, nicht ohne Reiz. Dennoch denke ich mir, hät­te sich Kim Newman den letzten Band besser erspart. Er bietet, bei allem Re­spekt und handwerklicher solider Schreibkunst, doch zu wenig Eigenständiges und Substantielles, und ein Epilog von vierhundert Seiten ist dann doch etwas schauerlich. So ähnlich verhält es sich hierbei leider. Mit irgendwelchen Sequels hierzu verhielte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit recht ähnlich. Der erste Roman war – wie das meist so ist – der eigenständigste und interessanteste, da­nach wird die Geschichte fortwährend verwässert.

Wer also Vampir-„Fan“ ist, kommt mit diesem dicken Schinken ohne Zweifel voll auf seine Kosten. Skeptiker wie ich hingegen sollten sich nach diesem Buch sa­gen: okay, der Rest des Vampir-Hype kann auch weiterhin ohne mich stattfin­den…

© by Uwe Lammers, 2011

Ja, meine Freunde, ich weiß, das war wieder einer der sehr langen Beiträge. Da­für werde ich euch in der kommenden Woche mit etwas SEHR kurzem und vor allem sehr Kurzweiligem beschäftigen. Da geht es dann um Zeitmaschinen… wenn ihr neugierig seid, schaut einfach rein.

Bis nächste Woche,

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Eine direkte, gezielte Anspielung auf Erich Maria Remarque, es gibt noch viele solche Fälle bei Kapitelüberschriften in allen drei Romanen.

2 Ich gestehe, bei der Lektüre habe ich halb und halb immer gehofft, Danny Dravot würde sich als Pseudonym eines vampirisierten Sherlock Holmes entpuppen, aber diese Hoff­nung wurde enttäuscht…

3 Und WER an Blofeld denkt, wird goldig überrascht – wie ich beim Lesen auch!

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