Rezensions-Blog 56: Sprich uns von der Freundschaft

Posted April 20th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wie ihr euch das vorstellen könnt, kann man auch als Literat nicht immer nur auf 200 % Leistung fahren, gelegentlich muss es dann auch mal Möglichkeiten geben, ein wenig die Aktivität zu drosseln, durchzuatmen und einfach ein wenig Ruhe einkehren zu lassen.

In solchen Momenten greife ich dann ganz gern zu entspannenden Werken, die mich durch ihren sprachlichen Zauber entzücken oder amüsieren. Deshalb fin­det ihr hier im Blog solche Werke wie die von Jonas Jonasson, Jon Ronson oder eben auch Khalil Gibran, von dem ich euch schon am 2. Dezember 2015 erzählt habe. Hier haben wir ein weiteres seiner Werke, das ich vor vielen Jahren mit Genuss durchgeschmökert habe und euch heute ans Herz lege.

Sprich uns von der Freundschaft

von Khalil Gibran

Kiefel-Verlag 2002

68 Seiten, kartoniert

(Kleinformat)

Aus dem Englischen von Sabine Burkard

Bezug: www.jokers.de, 1.95 Euro

Prophet,

der du auf der Suche nach den

allerletzten Dingen bist, du musst nun gehen.

Um eines aber bitten wir dich, ehe du uns verlässt:

Lass uns teilhaben an deiner Wahrheit.

Offenbare uns, was du über uns erfahren hast,

auf dass wir uns selbst erkennen und

erzähle uns alles, was dir vor Augen geführt wurde.

Und so sprach er von der Freundschaft:

Wenn euer Freund offen seine Meinung sagt,

dann fürchtet ihr weder das ‚Nein‘ eurer eigenen Meinung,

noch haltet ihr das ‚Ja‘ zurück.

Und selbst wenn er schweigt, dann hört euer Herz nicht auf,

seinem Herzen zuzuhören.

Denn in einer Freundschaft bedarf es keiner Worte:

Alle Gedanken, alle Wünsche, alle Erwartungen

werden geboren und geteilt mit einer Freude,

die nicht auf Beifallsbekundungen aus ist…“

Wahrlich, so sagt der ehrfürchtige Leser und verneigt seinen Kopf, und er blickt dabei dem am Horizont dahinschwindenden Segel auf dem blauen Spiegel der See nach, wahrlich, dies ist die Wahrheit des Herzens, und der sie aussprach muss weise genannt werden. Nicht jeder ist berufen wie Almustafa, ein Prophet zu sein, und manche brauchen ein Leben, wofür er nur zwölf Jahre brauchte, die er in der Stadt Orphalese zubrachte.

Almustafa der Prophet beobachtete nur die Leute und genoss die Einsamkeit der Berge, manchen schien er ein menschenscheuer, ja, menschenfeindlicher Gesell zu sein, undurchschaubar und rätselhaft. Doch als er am Tage seiner Ab­reise von den Stufen des Tempels von der Freundschaft sprach, da gingen die Herzen all jener auf, die vorher misstrauisch und verbittert gewesen waren. Und letztlich bedauerten sie alle, dass er fortreisen musste.

Zum Schluss sprach er noch einmal die Hoffnung aus, dass die Saat seiner Weis­heit aufgehen würde, und er schloss:

Die Mittagsflut ist aufgelaufen, und es heißt Abschied nehmen. Sollten wir uns im Zwielicht des Erinnerns noch einmal begegnen, dann werden wir wieder mit­einander sprechen, und ihr werdet mir ein tiefgründigeres Lied singen. Und soll­ten in einem anderen Traum unsere Hände einander begegnen, dann werden wir einen weiteren Turm bauen, der bis in den Himmel reicht.“

Dann wurden die Anker gelichtet, die Leinen gelöst, und das Schiff glitt davon. Die Saat des Propheten aber, niedergelegt in diesem Buch, sie bleibt zurück und ist von zeitloser, erlesener Schönheit und tiefgründiger Ehrlichkeit, die die Her­zen erbeben und die Seelen erkennen lässt.

Solche Weisheiten sind unbezahlbar.

Doch glücklicherweise sind sie ausgesprochen, niedergeschrieben und erhält­lich. Genießt sie.

Anmerkung zum Autor:

Khalil Gibran, geboren 1883 in Becharré im Libanon, gestorben 1931 in New York, gehört zu den bekanntesten Dichtern des Orients. Zeit seines Lebens setz­te er sich für die Verständigung zwischen Christentum und Islam ein. Sein popu­lärstes Buch, „Der Prophet“, aus dem diese Sammlung entnommen ist, wurde millionenfach verkauft und in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Man sollte ihn lesen. Er ist ein reiner Genuss.

© by Uwe Lammers, 2003

Tja, und schon ist dieser Rezensions-Blog beendet – denn dieses kleine, wun­derschöne Büchlein braucht keine intensivere Werbung, nicht mehr Worte… und die meinen sind ohnehin unbeholfen und plump im Vergleich zu dem, was Gibran damals so ergreifend niederschrieb.

In der kommenden Woche geht es nicht um die Erschütterung des Herzens (je­denfalls nicht in erster Linie), sondern um etwas sehr viel Gewalttätigeres: Seit dem Jahre 1906 wird in Kalifornien darum gebangt, dass dereinst das unaus­weichlich scheinende Superbeben stattfindet. Das Buch der kommenden Wo­che handelt von der Vision, wie es tatsächlich Realität wird.

Ihr könnt, vergleichsweise ungefährdet, dabei sein. Einfach am nächsten Mitt­woch wieder hierher schauen, dann seid ihr schlauer und findet womöglich ein Buch vor, das euch unbekannt ist.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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