Rezensions-Blog 60: Ferne Ufer (3)

Posted Mai 17th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es sind die letzten paar Zeilen des zweiten Highland-Romans, die den Leser un­weigerlich elektrisieren und einen unwiderstehlichen Cliff-hanger darstellen:

,Er wollte auf dem Schlachtfeld von Culloden sterben‘, flüsterte Roger. ,Aber das ist ihm nicht gelungen.’“

Wie jetzt, denkt man als Leser ein wenig betäubt, wenn man nach fast tausend Seiten den Roman „Die geliehene Zeit“ beendet, und das muss damals, als der Roman das erste Mal auf Deutsch erschien, 1996, noch sehr viel heftiger ge­wirkt haben. Ich hatte freilich Glück, den ganzen Zyklus erst im Jahre 2000 zu entdecken, denn so konnte ich buchstäblich nahtlos weiterlesen – einen Tag nach dem Auslesen des obigen Romans ging ich am 24. Januar 2000 in das da­mals noch existierende Ladengeschäft der Buchhandlung Graff im Univiertel in Braunschweig und kaufte mir den Folgeband… und verschlang die gut 1070 Buchseiten binnen von vier Tagen.

Also, ich könnte mir vorstellen, das geht euch recht ähnlich, wenn ihr Feuer und Flamme für die ersten beiden Schmöker wart. Und damit ihr einen kleinen Vor­geschmack darauf bekommt, was darin auf euch wartet, solltet ihr vielleicht einfach weiterlesen:

Ferne Ufer

von Diana Gabaldon

Blanvalet 35095

1088 Seiten, TB

Mai 1999

Aus dem Amerikanischen von Petra Hrabak, Sonja Schuhmacher

und Barbara Steckhan

ISBN 3-442-35095-6

Man schreibt den 16. April 1746. Auf dem Schlachtfeld von Culloden liegt eisige Kälte, es fällt Regen, die Leichen werden von den Krähen zerhackt. Der Kampf um die Unabhängigkeit Schottlands ist ausgeträumt. Bonnie Prince Charlie ist auf der Flucht, die Verbündeten der schottischen Clans sind niedergemetzelt, und nur wenigen ist die Flucht gelungen. Zu diesen wenigen gehört nicht James Alexander Malcolm MacKenzie Fraser, genannt der „rote Jamie“, einer der An­führer des Aufstandes. Er ist schwerverletzt und liegt auf dem Schlachtfeld, wartet auf den Tod, den er für unumgänglich hält.

Doch der Tod lässt auf sich warten.

Er wird gefunden und soll standrechtlich erschossen werden. Stattdessen kommt ihm das unwillkommene Schicksal in Gestalt von Lord Melton dazwi­schen. Dabei wäre Jamie Fraser so gerne gestorben. So gerne. Er hat alles verlo­ren, was ihm lieb und teuer war, zuletzt Claire, seine Frau, die Frau aus der fer­nen Zukunft, mit der sein abenteuerliches Leben erfüllt wurde und alles endlich einen Sinn machte… Claire Beauchamp Randall, die im Frühjahr des Jahres 1945 durch den Steinkreis auf dem schottischen Craigh na Dun in die Vergangenheit des Jahres 1743 taumelte, wo sie schließlich Jamie Fraser kennen- und lieben lernte, bis sie ihm schwor, an seiner Seite alt zu werden und sein Schicksal im­mer und ewig zu teilen, Claire ist fort. Fortgeschickt von Jamie, als er während des Feldzuges von Charles Stuart merkte, dass sie erneut schwanger von ihm war. Er wusste, dass es sein Herz zerriss, wenn er sie fortschickte, um sie und ihr gemeinsames Kind in Sicherheit zu bringen. Genauso aber wusste er, dass er nicht anders handeln musste.

Claire und Jamie hatten versucht, Prince Charles Stuart aufzuhalten und es nicht geschafft. Nun wollte er wenigstens Schadensbegrenzung erreichen und seine zwangsrekrutierten Clanmänner vor dem Strudel der tödlichen Schlacht von Culloden retten. Er selbst kehrte zurück, um dort zu sterben, weil er mit Claire den letzten Lebensinhalt für immer verloren glaubte. Nur drei Jahre lang war er mit ihr zusammen, aber es reichte, um ihn vollkommen süchtig nach ihr zu ma­chen, sie völlig zum Inhalt seines Lebens zu machen, zum Ziel, zum Sinn. Nach­dem sie fort war, wollte er nur noch sterben… und dies enthält man ihm nun vor!

Claire Beauchamp hingegen kehrte völlig verzweifelt in die Gegenwart des Jah­res 1948 zurück zu ihrem dortigen Mann Frank Randall, in dem festen Glauben, Jamie sei tot. Sie floh aus England in die USA, um nie wieder einen Fuß auf die Insel oder gar nach Schottland zu setzen, wohl wissend, dass sie es nicht ertragen würde.

Erst 1968, nach Franks Tod, wagte sie es, mit ihrer inzwischen erwachsenen Tochter Brianna nach Schottland zurückzukehren, um herauszufinden, ob Ja­mies Aufgabe – die Rettung der Männer von Lallybroch – gelungen war.

Der Historiker Roger Wakefield findet Schockierendes heraus: James Fraser ist NICHT in Culloden gestorben. Er hat überlebt. Von dem Moment an, wo Claire das weiß, spürt sie, dass sie herausfinden muss, was aus ihm geworden ist. Und schließlich, als sie sich bis ins Jahr 1766 vorangetastet haben, meint Roger, ihn endgültig lokalisiert zu haben: rätselhafterweise im Edinburgh des Jahres 1766 als einen Buchdrucker A. Malcolm.

Claire geht zurück in die Vergangenheit, und als sie diesmal den Übergang bei­nahe nicht überlebt, weiß sie, dass es keinen Rückweg mehr geben wird. Sie ist nun ein für allemal in der Vergangenheit gelandet und muss, egal, wie Jamies Leben jetzt sein wird, bei ihm bleiben, hier und jetzt – wenn er sie noch will. Sie beschwört damit jedoch Konflikte herauf, mit denen sie nicht rechnen konnte.

Rasch findet sie etwa heraus, dass Jamie sich zwar verändert hat, aber nicht grundlegend. Aus dem jugendlichen James Fraser, den sie vor zwanzig Jahren gekannt hat, ist ein reifer Mann mittleren Alters geworden, der jedoch seiner revolutionären Vergangenheit nicht abgeschworen hat. Ganz im Gegenteil. Und neben der Tätigkeit als Aufrührer, Buchdrucker und Schnapsschmuggler gibt es noch so einige Dinge, die Claire anfangs verwirren und dann entsetzen.

Der amüsierte und hingerissene Leser findet alte, bekannte Personen wieder wie Fergus, den Bordelljungen aus Paris, den Jamie regelrecht „adoptiert“ hat1; muss sich auf Konfrontationen mit Ian Murray und seiner Frau Jenny, Jamies Schwester einstellen; ebenso taucht ein guter alter Advokat namens Ned Go­wan auf2 und alte Spuren zu Leuten wie William Grey erhalten ganz interessan­te neue Wendungen. Außerdem erscheinen neue farbenfrohe Figuren auf der Bühne. Der winzige Chinese Mr. Willoughby beispielsweise oder der junge Ian Murray, Ians und Jennys recht ungezogener Sohn, von Marsali Jane MacKimmie Joyce möchte ich mal gar nicht reden…

Was Claire jedenfalls macht, ist immer dasselbe: kaum taucht sie auf, wird Ja­mies Leben, das ohnehin nie das ruhigste war, auf das Heftigste durchgerührt und verquirlt. Ruhende Konflikte, am ehesten mit schlafenden Hunden zu ver­gleichen, brechen auf, die typische frasersche Starrköpfigkeit und Claires Dick­kopf beschwören mal wieder so manchen zwerchfellerschütternden Konflikt herauf. Es wimmelt bald von Missverständnissen und Problemen. Und schließ­lich bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich zu „fernen Ufern“ aufzumachen, die in diesem Fall aus Jamaika bestehen.

Doch wer glaubt, eine Seereise über dreitausend Seemeilen sei eine langweilige Angelegenheit, der täuscht sich gewaltig, der kennt die Protagonisten nicht. Und wer denkt, die Probleme seien in Westindien geringer als daheim, der irrt noch viel mehr…

Alles in allem bietet der bisher dickste, dritte Band der Saga um James Fraser und Claire Beauchamp Randall Fraser ebenso wie die ersten beiden Romane „Feuer und Stein“ und „Die geliehene Zeit“ einen bunten Bilderbogen an histo­rischen Informationen, farbigen Charakteren, amüsanten und abenteuerlichen Begebenheiten sowie einer guten Mischung aus rührenden, erschreckenden und spannenden Szenen. Gewürzt mit jener guten Prise aus trockenem Humor, den die Autorin ihrer Ich-Protagonistin Claire in den Mund legt und zum Teil wirklich aberwitziger Situationskomik ist „Ferne Ufer“ nicht minder unterhalt­sam als die ersten beiden Bände.

Es mag den eingefleischten Highland-Fan freilich etwas enttäuschen, dass sich die Handlung nun in Richtung Karibik und englische Kolonien hin entwickelt und das Highland deshalb auf der Strecke bleibt (noch nicht in der ersten Hälfte die­ses Romans, aber in der zweiten). Für den geschichtsinteressierten Leser, denje­nigen, den Piraten schon immer faszinierten und den, der die Zeit, in der die Handlung spielt, stets spannend fand, ist auch dieser Roman ein packendes Abenteuer, das schier nicht aus der Hand zu legen ist.

Was ein wenig auf der Strecke bleibt, das ist, schade, doch realistisch, natürlich die ekstatische erotische Wildheit des ersten und teilweise des zweiten Bandes. Es liegt jedoch nahe, weil Claire nun immerhin 49 Jahre alt ist und Jamie nicht wesentlich jünger. Es ist jedoch zu erwarten, dass sich das bald ändern wird. Im vierten Band „Der Ruf der Trommel“ wird Brianna Fraser zu einer der Haupt­personen, und sie ist bekanntlich gerade neunzehn Jahre alt. Man darf ge­spannt sein…3

© by Uwe Lammers, 2000

Tja, und ich kann euch versichern, die letzte Prognose wurde im Folgeband noch um einiges übertroffen… aber ehe ich mich diesem Roman im Rezensions-Blog widme, werden noch etliche Wochen vergehen. Ich verstehe die ersten drei Romane der Saga definitiv als eine sehr enge Trilogie, und von Band 4 ab, der dann weitgehend in Neuengland spielt, wird gewissermaßen eine neue Handlungsschiene wirkmächtig, so dass ich die Folgeromane von den ersten dreien ein wenig absetzen werde.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass es nicht weitere interessante Bücher in den kommenden Wochen zu besprechen gibt. Ach, weit gefehlt, Freunde! In der kommenden Woche geht es beispielsweise wieder ab in die Vergangenheit, doch diesmal in die Biografiegeschichte. Kennt ihr den „Mann, der das Geld er­fand“? Wenn nicht – schaut wieder rein, dann erzähle ich euch Näheres über ein wirklich bemerkenswertes Sachbuch, das jeden Leser wert ist.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. Diana Gabaldon: „Die geliehene Zeit“. Siehe dazu auch den Rezensions-Blog 55 vom 13. April 2016.

2 Vgl. Diana Gabaldon: „Feuer und Stein“. Siehe dazu auch den Rezensions-Blog 50 vom 9. März 2016.

3 Vgl. Diana Gabaldon: „Der Ruf der Trommel“. Für den Rezensions-Blog in Vorbereitung.

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