Rezensions-Blog 61: Der Mann, der das Geld erfand

Posted Mai 25th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute machen wir mal einen kleinen historischen Exkurs ins 18. Jahrhundert… sagen wir, wenn wir daraus eine moralische Lehre ziehen möchten, dann könn­te man es auch als eine Lektion in Vergesslichkeit und Oberflächlichkeit be­trachten. Denn was in der unten aufgerollten Biografie aufbereitet wurde, ich sage das auch ganz am Schluss der Rezension von 2003 noch ausdrücklich, das kann uns jederzeit wieder passieren.

Gut, vielleicht mit anderen Protagonisten, in anderen Ländern und mit anderen „Legenden“, an die wir „glauben“ sollen… doch wenn man bedenkt, dass das neoliberale Dogma der heutigen Zeit leider bedauernswert stark auf Ellenbo­gendenken und die Behauptung setzt, der Stärkste setze sich durch (die Idee dahinter ist nicht ganz so wichtig, Hauptsache, man kann sie gut vermarkten und vor allen Dingen: schneller vermarkten), dann ist Krise offensichtlich ein Zu­stand, der latent immer im System lauert und nur auf den Moment des Hervor­brechens wartet.

Menschen, die auf dieses System vertrauen, ähneln Glücksspielern, und sagt mir selbst, wenn ihr die Rezension gelesen habt – ist das nicht fatal ähnlich den Ereignissen, die John Law im frühen 18. Jahrhundert in Frankreich ausgelöst hat? Ich denke doch.

Schaut einfach mal selbst:

Der Mann, der das Geld erfand

(OT: The Moneymaker)

von Janet Gleeson

Kremayr & Scheriau, 2001

324 Seiten, geb.

Übersetzt von Michael Müller

Zusammen mit dem Aktienfieber kam es zu einer wahren Orgie, was die Spe­kulation mit Immobilien betraf… Anwesen, die zuvor für bis zu 800 Livre im Jahr vermietet worden waren, ließen sich in zwanzig, dreißig kleine Geschäfts­räume unterteilen, von denen sich jeder für an die 400 Livres im Monat unter­vermieten ließ; eine Summe, die dem durchschnittlichen Jahreseinkommen eines Handwerkers entsprach… Wacklige Schuppen wurden in Hausdurchgängen und auf flachen Dächern errichtet und für gewaltige Summen vermietet… Alle nor­malen Preisvorstellungen gingen verloren. Ein einziges Huhn soll 200 Livre ge­kostet haben, und einer besonders bizarren oder oft verbreiteten Legende der Zeit zufolge soll sich ein Buckliger in ein paar Tagen 150000 Livre damit ver­dient haben, dass er sich gegen einen Maulbeerbaum lehnte und seinen Buckel als Schreibpult anbot, auf dem man Verträge unterzeichnen konnte…“

Und wem verdankt man diesen Wahnsinn, der Paris im Oktober des Jahres 1719 heimsucht und die Armen zu Millionären und bald darauf Millionäre zu Bettlern macht?

John Law.

Wer war John Law?

Heute kennt kaum mehr jemand seinen Namen, und doch tut man gut daran, sich an ihn zu erinnern. Dieses Buch stellt eine überaus abenteuerliche und sehr kurz­weilige Biografie dieses Schotten, späteren naturalisierten Franzosen, einstmali­gen Presbyterianers, späteren Katholiken, vormaligen Glücksspielers und Frau­enhelden und nachmaligen Millionär, mächtigsten Mannes Frankreichs und schließlich meistgehassten Mannes ganz Europas dar.

Er wird unscheinbar im Edinburgh des Jahres 1671 geboren und kommt frühzei­tig mit dortigen Geldwechselstuben in Berührung. Erfüllt von dem Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz und gesegnet mit einen erstaunlichen mathemati­schen Verstand, aber leider auch mit der Fähigkeit, sein Erbteil durchzubringen und mit allerlei Frauen anzubandeln, gerät er am 9. April 1694 in London in massive Schwierigkeiten. Law tötet in einem Duell einen anderen Mann und muss die traumatische Erfahrung machen, die englischen Gefängnisse von innen kennenzulernen. Nur knapp kann er, recht ungläubig, der eigenen Hinrichtung durch die Flucht auf den Kontinent entgehen. Fortan ist England ein Land, in dem er als Krimineller gilt und ihm Gefängnis oder sogar Todesurteil sicher sind.

Law durchquert als Spieler von erstaunlicher Brillanz Europa und lernt schließ­lich in Frankreich Katherine Seigneur, geborene Knowles kennen, die seine Ge­liebte wird und, für damalige Zeiten spektakulär, mit ihm durchbrennt.

Gemeinsam reisen sie weiter durch Europa, nach Venedig und Rom, in die Nie­derlande, und ihre beiden Kinder werden während Aufenthalten in Frankreich geboren. John Law, der in der Zwischenzeit viel über Wirtschaftstheorien gele­sen hat und Zeuge von dem Elend der Massen wird, das insbesondere in Frank­reich herrscht, weil die Staatsverschuldung exorbitante Ausmaße erreicht hat und der Staat ausschließlich mit drakonischen, repressiven Maßnahmen darauf reagiert, entwickelt verschiedene Pläne zur Gesundung der Wirtschaft, die von den königlichen Höfe in Europa aber allesamt ablehnend beschieden werden. Insbesondere der schon hochbetagte Ludwig XIV. hält ihn immer weiter hin, auch als schon erkennbar ist, über welches Talent Law verfügt.

Ludwig XIV. stirbt am 1. September 1715, und anstelle des jungen Thronfolgers wird der Duc d’Orléans Regent, ein guter Freund John Laws. Der Schotte erhält nun die lang ersehnte Gelegenheit, das mit vielen Milliarden Livre verschuldete Frankreich zu sanieren.

Er verfällt auf eine grandiose Idee – statt das vielfach verfälschte und knappe Münzgeld zu vermehren, was nicht möglich ist, beginnt Law, Papiergeld zu dru­cken, eine private Bank zu betreiben und so die Wirtschaft, die völlig darnieder­liegt, anzukurbeln. Doch alles läuft sehr schleppend an, die Menschen misstrau­en dem Papiergeld. Es dauert bis zum August des Jahres 1717, wobei sich die Wirtschaft nur langsam erholt – in diesem Monat erwirbt Laws inzwischen rei­che Bank das alleinige Handelsprivileg für die königliche Kolonie Louisiana, in­dem er die „Compagnie de la Louisiane ou d’Occident“ (später einfach Missis­sippi-Kompanie genannt) gründet.

Um Siedler für die Kolonie zu werben und Geld für den Bau von Transportschif­fen zu erlangen, gibt Law Aktienscheine aus und ködert auf diese Weise die Franzosen, Geld zu investieren. Law ist zu diesem Zeitpunkt „de facto der Herrscher von halb Amerika“. Und das Wunder geschieht, ein Wunder, das so­wohl den Herrscher als auch die zahlreichen Kritiker Laws überwältigt – nach anfänglichem Zögern investieren die Franzosen und die Aktien beginnen mit ei­nem schwindelerregenden, bis heute noch nicht wieder erreichten Wachstum und Wertgewinn, das jedes begreifliche Maß sprengt. Die Wertsteigerungen machen Gewinne in gewaltigem Maßstab möglich, das Land Louisiana wird als Gebiet ausgegeben, in dem sich Smaragdberge und ergiebige Gold- und Silberadern be­finden; eine Kontrolle ist kaum möglich, da die Reise dorthin 6 Monate dauert. Der Wert der Aktien erreicht astronomische Höhen und manchmal binnen Tagen oder Stunden werden unvorstellbare Gewinne durch An- und Verkäufe von Akti­en erzielt.

Laws Ansehen steigt derweil, bis er der mit Abstand mächtigste Mann in ganz Frankreich ist und in den obersten Regierungskreisen verkehrt, er ist ein Komet, der jählings seine Bahn zieht… und dann, ebenso plötzlich, bricht dieses gesamte Gebäude mit einem Donnergrollen in sich zusammen, das ebenso furchterregend ist wie der Aufstieg zu Beginn atemberaubend, märchenhaft war…

Und doch ist dies nicht das Ende vom Lied, leider nicht.

Janet Gleeson gelingt mit dieser fulminanten Biografie eines der bedeutendsten Wirtschaftsfachleute des frühen 18. Jahrhunderts nicht nur, eine heute nahezu unbekannte Persönlichkeit ans Tageslicht zu befördern. Sie versteht es auch auf ausgezeichnete Weise, das Alltagsleben jener Zeit und die Stimmungen der be­teiligten Personen zu skizzieren, die Dramaturgie der gesellschaftlichen Schich­ten wiederzugeben, bis der Leser atemlos an den Zeilen klebt und nicht mehr fortkommt, ehe das Kapitel ausgelesen ist. Und das nächste und übernächste…

Mehr noch: sie schafft es auf bestürzende und gänsehauterregende Weise, eine ganz andere Botschaft herüberzubringen – „Wenn man drei Jahrhunderte später Laws Geschichte aufrollt, hat man unweigerlich das Gefühl, dass sich eigentlich nichts geändert hat. Heutzutage werden Papier und Plastik, ohne dass man dar­über nachdenkt, als Zahlungsmittel akzeptiert, und mit einem Knopfdruck kann man Millionen von Dollar von einem Ende der Welt zum anderen transferieren. Doch hat dieser Fortschritt anscheinend wenig dazu beigetragen, dass wir… we­niger verwundbar sind.“

Auch mir kam das in den Sinn, was sie als nachdenkliches Fazit an den Schluss setzte: „Der ökonomische Zyklus… hat in der jüngeren Vergangenheit den me­teorhaften Aufstieg und anschließenden Absturz asiatischer Wirtschaftssysteme gezeitigt, den finanziellen Zusammenbruch Russlands hervorgerufen und Unsi­cherheit gesät… In der Welt des Bank- und Finanzwesens ragt das Gespenst ei­nes finanziellen Desasters nach wie vor so bedrohlich auf wie im Paris der Ré­gencezeit… Finanzleute, die irgendwelche verrückten Alleingänge wagen, kön­nen immer noch Regierungen erschüttern, finanzielle Erdrutsche gigantischen Ausmaßes ereignen sich nach wie vor…“ Man denke nur an den jähen Ruin der jahrhundertealten Barings-Bank, ausgelöst von den Derivatenspekulationen ei­nes einzelnen Angestellten namens Nick Leeson in den 90er Jahren.

Wer also glaubt, man würde aus dieser Biografie nichts mehr lernen können, weil sie fast dreihundert Jahre zurückliegt, irrt sich. Neben dem Entdecken einer unglaublich spannenden Lebensgeschichte und einer farbenprächtigen Darstel­lung der Zeit vermag das, was John Law damals im guten Glauben an seine menschlichen Ideale entfesselte, noch immer jede Nation der Welt heimzusu­chen.

Und in gewisser Weise sind wir alle, die wir an Scheckkarten glauben und an den bargeldlosen Zahlungsverkehr, so ähnlich wie jene naiven Menschen, die in der Erwartung auf schnellen, großen Profit John Laws Aktien kauften und ins Nichts stürzten, als sein System in sich zusammenbrach.

Auch wir können jederzeit fallen.

Wir sollten daran denken…

© by Uwe Lammers, 2003

Das Buch hatte damals für mich diverse gruselige Aha-Effekte parat, und ich könnte mir vorstellen, das geht euch ebenso, wenn ihr es lest. Vermutlich sind die kumulativen Effekte im Positiven wie Negativen in einer so gründlich globa­lisierten Weltwirtschaft wie der unsrigen einfach noch sehr viel heftiger. Und sie vermögen natürlich entschieden mehr Menschen restlos zu ruinieren.

Ich bin ja relativ nahe an Wolfsburg dran und merke, wie selbst kleinste Enthül­lungen über manipulative Software Aktienkurse ins Bodenlose stürzen lassen können, Haushaltssperren initiieren und Milliardenwerte quasi von heute auf morgen in Rauch auflösen.

Drum bleibe ich dabei, was ich oben eingangs sagte: Krise ist im System der Gegenwart immer schon angelegt, und in unserer heute so geschichtsvergesse­nen Zeit, wo nur die schnelllebige Gegenwart und, mehr noch, die nebulöse, aber meist glorreich ausgemalte Zukunft zählt, da lösen die gedankenlosen Ma­nager und Macher von heute Katastrophen gewissermaßen mit links aus.

Ich glaube nicht, dass uns das unberührt lassen sollte.

Drum halte ich die Lektüre dieses Buches nach wie vor für sehr wichtig, und man sollte daraus auch Konsequenzen für sich selbst und sein eigenes Verhalten gegenüber der Umwelt ziehen. Wenn dieser Weckruf ankommt, hat diese Rezen­sion schon mehr als ihren Zweck erfüllt.

In der kommenden Woche reisen wir noch ein paar Jahrhunderte weiter zurück… ich würde sagen, ins frühe 16. Jahrhundert, eher wohl ins fünfzehnte. Aber: an­derer Kontinent, anderes Sujet. Wenn ihr neugierig seid, was das wohl bedeuten soll, dann schaut wieder rein.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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