Rezensions-Blog 62: Die aztekische Zeitung

Posted Mai 31st, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es ist schon etwas kurios mit der Geschichtswissenschaft… sie geht mitunter in­teressante Wege. Wir kennen da beispielsweise so beeindruckende Wiederbe­lebungen wie das Reenactment, wenn begeisterte Geschichtsfans historische Ereignisse – häufig Schlachten – in originalen Uniformen und nicht selten auch an authentischen Orten nachvollziehen. Wir kennen Mittelaltermärkte. Und in der Science Fiction kommt es zudem nicht eben selten zu Zeitreisen, in denen dann auf die ganz eigene Weise die Vergangenheit zu neuem Leben erwacht.

Letzteres erlebe ich gerade, wenn ich mich mal mit mehr, mal mit weniger Ge­nuss durch die frühen Schwarzweißepisoden der Kultserie „Doctor Who“ hin­durchgrabe. Da gibt es in der ersten Staffel auch einen Zyklus, der „The Aztecs“ heißt, und der kam mir in den Sinn, als ich diese Rezension wieder ausgrub.

Denn wie schon im originellen Fall der „griechischen Zeitung“ (vgl. dazu bei In­teresse den Rezensions-Blog 12 vom 17. Juni 2015) reisen wir heute in ein di­daktisches und vergnügliches Jugendbuch mit vielen Bildern zurück und ins 16. Jahrhundert. Vorhang auf für einen Blick auf die aztekische Kultur:

Die aztekische Zeitung

(OT: The Aztec News)

von Philip Steele

Kinderbuchverlag (kbv) Luzern

36 Seiten, gebunden

Übersetzt von Christa Holtei

Wie bereitet man die extrem brutale und blutrünstige Kultur des aztekischen Volkes halbwegs kindgerecht auf und macht sie sogar zu einem spannenden, manchmal bisweilen humorvollen Abenteuer? Am besten geht man spielerisch heran und versetzt sich als einfacher Bürger in das Leben der damaligen Zeit. Das kann man vermittels eines Rollenspiels tun, aber wenn die Kinder noch sehr viel kleiner sind, tut es auch eine virtuelle Zeitung.

Natürlich besaßen die Azteken keine Zeitung im heutigen Sinne, die meisten Menschen waren damals Analphabeten, und wenn man schon lesen und schrei­ben konnte, hatte man gewiss anderes zu tun, als Zeitungen zu erstellen oder zu lesen. Viel eher war man dann mit Kriegsdienst, Opferung von Gefangenen, All­tagsarbeit oder Gebet beschäftigt. So jedenfalls stellt man sich gemeinhin den Alltag von Azteken vor.

Nun ja, die Azteken-Zeitung macht auf originelle Weise noch andere Seiten des altmexikanischen Lebens ausfindig. So erfährt der Leser – natürlich – einiges über die Geschichte des aztekischen Volkes, wie sie zu ihrer Heimat Tenochtit­lan im Texcoco-See kamen und warum sie sich nicht an einem anderen Ort nie­derließen, der etwas anheimelnder war.

Man wird darüber informiert, wer die großen Herrscher waren, wo ihre Stärken (und manchmal Schwächen) lagen, hört von der Ausbildung der Krieger schon in der jüngsten Jugendphase, natürlich bekommt man auch eine Menge über Tempel, Götter und Aberglauben zu hören. Letzteres äußert sich auf höchst ori­ginelle Weise in flehentlichen Fragebriefen an einen Doktor. Lauschen wir mal kurz:

Frage: „Mein Gesicht ist geschwollen. Soll ich heißes Gummi in die Ohren rei­ben?“

Antwort: „Nein, das hilft nur bei Ohrenschmerzen. Was Sie brauchen, ist gebra­tenes Chamäleon. Wenn Sie das essen, müssen Sie sich übergeben und werden das Gift in Ihrem Körper los. Ihr Gesicht wird dann abschwellen.“

Oder auch diese Bemerkung ist ein wenig haarsträubend:

Frage: „Ich bekomme ein Kind. Worauf soll ich achten?“

Antwort: „Sie haben sicher schon eine gute Hebamme, die bei der Geburt dabei sein wird. Befolgen Sie nun noch diese einfachen Regeln:

1) Wenn Sie im Dunkeln nach draußen gehen, nehmen Sie Asche gegen die bö­sen Geister mit. Es könnte Ihrem Kind schaden, wenn Sie einen Geist sehen.

2) Kauen Sie kein Gummi, oder der Mund Ihres Kindes schwillt an.

3) Sehen Sie nicht in eine Sonnenfinsternis, oder Ihr Kind wird verkrüppelt gebo­ren.

4) Beten Sie täglich zu einer der Göttinnen der Frauen, z. B. Toci.“

Alles klar? Kein Wunder, dass darunter steht: Vorsicht: Wir raten unseren Le­sern, die hier erwähnten Heilmittel nicht ohne ärztlichen Rat anzuwenden.

Verständlicherweise!

Natürlich erfährt der geneigte Leser auch eine Menge über diese rätselhaften Spanier, die militärisch trotz ihrer geringen Zahl solche Erfolge erzielt haben. Ein altgedienter General der aztekischen Armee erklärt, wie diese Erfolge zustande kamen, und einer seiner denkwürdigsten Aussprüche lautet: „Sie kämpfen nicht wie normale Menschen… der Hauptgrund für einen Krieg sind die Gefangenen, die unsere Priester im Großen Tempel opfern. Diese Opfer sind unsere Pflicht ge­genüber den Göttern. Aber die Spanier machen keine Gefangenen, sie töten auf dem Schlachtfeld… wir könnten das nicht. Es wäre eine Beleidigung für die Göt­ter…“ Eine interessante Aussage, von der ich nicht genau weiß, ob sie historisch korrekt ist.

Worüber man leider wenig erfährt – auch wenn es angedeutet wird – ist die Rolle der Frau in der aztekischen Gesellschaft, aber es schimmert deutlich in den Artikeln durch, dass sie nicht allzu viele Rechte besaßen. Die Gesellschaft ist sehr krass kastenartig organisiert und in einer gewissen Hinsicht sehr inflexi­bel. Aufstieg ist nur entlang ganz genau festgelegter Hierarchiestufen möglich, und die sind ausschließlich für Männer geöffnet, Frauen bleibt eigentlich nicht viel mehr übrig als Ehefrau, Mutter oder Sklavin zu werden. Wenig erstrebens­wert.

Wie auch bei der Wikinger-Zeitung1 ist diese Ausgabe ausgesprochen bunt, lie­bevoll gemacht, bis in die ornamentalen Details an der besprochenen Kultur ausgerichtet. Es gibt neckische Kleinanzeigen, kesse Übertreibungen und wirk­lich schön gemachte Zeichnungen (beispielsweise von spanischen Kriegern).

Amüsant wirkt es indes, wenn man im ersten Artikel allerdings zu lesen beginnt und sofort über folgenden Satz stolpert: „Generationen von Geschichtenerzäh­lern haben berichtet, dass diese Reise (nach Tenochtitlan, UL) um 1100 n. Chr. begann…“ Wobei natürlich geflissentlich den ganzen Band über vergessen wird zu erwähnen, dass die Azteken mit der christlichen Zeitrechnung erst im Jahre 1519 Kontakt bekamen, und es die Zeitrechnung ihrer Feinde und nachmaligen Vernichter war. Aber offensichtlich war es zu kompliziert, die aztekische Zeitrechnung für diese Ausgabe umzurechnen und zu Grunde zu legen. Aber wenigstens eine Erwähnung wäre schön gewesen. Am Ende des Bandes wird schließlich zumindest darauf hingewiesen, dass die Azteken damals andere Namen für die genannten Länder besaßen.

Doch mit Ausnahme solcher Details ist diese „Zeitung“ für einen kindlichen Ein­stieg in das Thema des Aztekenreiches schon ganz hilfreich. Respekt für die di­daktische Leistung dieser Aufbereitung.

© by Uwe Lammers, 2003

Ihr merkt, vor über zehn Jahren stolperte ich über eine ganze Serie solcher Wer­ke, und da sie alle äußerst kurzweilig waren, habe ich eine Menge davon rezen­siert. Es ist zwar zu vermuten, dass man sie heute samt und sonders nur noch antiquarisch bekommen kann… aber das lohnt sich allemal.

In der kommenden Woche kehren wir zu einem alten Bekannten zurück – zu Peter F. Hamilton. Nachdem ich „Fallen Dragon“ (d. h. „Sternenträume / Dra­chenfeuer“, vgl. dazu den Rezensions-Blog 15 vom 8. Juli 2015) und seinen „Ar­mageddon-Zyklus“ verschlungen hatte, machte ich mich auf die Suche nach weiteren seiner Werke und stieß auf eine Person namens Greg Mandel.

Kennt ihr nicht? Na, dann wird es aber höchste Zeit. Nächste Woche erfahrt ihr an dieser Stelle mehr.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Diese Rezension ist in Vorbereitung für den Rezensions-Blog.

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