Rezensions-Blog 67: Mindstar 2: Das Mord-Paradigma

Posted Juli 5th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

so, kommen wir nach vier Wochen dann endlich mal zum zweiten Fall des De­tektivs Greg Mandel in einer postsozialistischen, vom Klimaschock gebeutelten Welt des Englands der nahen Zukunft. Wer dachte, dass Peter F. Hamilton schon mit dem ersten „Mindstar“-Roman sein ganzes Pulver verschossen hatte, der sollte sich getäuscht sehen. Das war alles durchaus noch ausbaufähig, und hier hat er dann wirkungsvoll weitere Facetten seines Schreibtalents gezeigt – Facet­ten, die er schließlich später zu den vielfältigen Einzelvignetten seines „Arma­geddon-Zyklus“ veredelt hat.

Auch Leser, die wie ich mit „Armageddon“ recht eigentlich begonnen haben, Hamilton kennen und schätzen zu lernen, werden hier noch faszinierende Dinge entdecken können, selbst wenn die Mindstar-Romane natürlich älteren Datums sind. Und ich glaube, wenn ich unten auf die Parallele zu Sherlock Holmes hin­weise, dann ist das durchaus nicht übertrieben, das hat schon Methode.

Also, Freunde, zum zweiten Mal in Folge – auf ins Abenteuer:

MINDSTAR 2: Das Mord-Paradigma

(OT: A Quantum Murder)

von Peter F. Hamilton

Bastei 23208

518 Seiten, damals 14.90 DM

Übersetzt von Thomas Schichtel

Gut zwei Jahre sind vergangen, seit Gregory Mandel (Freunde nennen ihn Greg), der Veteran des parapsychisch begabten MINDSTAR-Bataillon im Auftrag der milliardenschweren Konzernerbin Julia Evans den Saboteur ihres Konzerns gefunden und dabei fast nebenbei auch noch den totgeglaubten Präsidenten der Sozialistischen Volkspartei Englands entdeckte, der als „Spinne im Netz“ tödliche Pläne zum Wiederaufstieg zur Macht schmiedete.

Seither aber hat er sich gesagt: der Fall ist der letzte, den er als parapsychischer Detektiv durchführt. Der Job ist zu belastend, zu gefährlich, und man wird schließlich nicht jünger. Seine Geliebte Eleanor hat ihn dabei nachdrücklich un­terstützt, und die finanzielle Dankbarkeit Julia Evans´ half dabei, sich in den Ru­hestand zurückzuziehen. Inzwischen ist Greg begeisterter Farmer, kämpft im hitzegeschwängerten Südengland, das nach wie vor unter den Folgen der klima­tischen Erwärmung leidet, gegen eine Kaninchenplage und wünscht sich nur seine Ruhe. Seine Eleanor hat er geheiratet, und alles könnte nun gut sein.

Tja, wenn es da nicht Edward Kitchener gäbe.

Edward Kitchener, schrulliger und exzentrischer Nobelpreisträger für Physik, hat sein Heim in Launde Abbey zu einer Art Elitecollege ausgebaut, wo er jedes Jahr eine kleine, handverlesene Schar von Talenten ausbildet und hier neue Ideen und Projekte ausbrütet. Nach außen ist der Landsitz absolut sicher abgeschirmt, und es herrscht eigentlich eine Atmosphäre des entspannten Arbeitens. Wenn da nicht Kitcheners geheime Schrullen wären.

Nach außen gilt er als ruppig und barsch, doch kommt im Laufe der Geschichte schnell heraus, dass Kitcheners Libido mehr als intakt ist. Konkret: er geht mit jeder Studentin, die in Launde Abbey ist, über kurz oder lang ins Bett. Nun wäre das bei einem 67jährigen Mann vielleicht verwerflich, aber er nötigt sie schließ­lich nicht direkt. Als er diesmal jedoch sowohl mit der überaus promiskuitiven Rosette Harding-Clarke UND mit der jungen Isabel zugleich Sex hat, bahnt sich offenkundig ein Problem an.

Mitten in der Nacht wecken furchtbare Schreie die restlichen Studenten, und als sie endlich an Kitcheners Schlafzimmer stehen, entdecken sie grauenerfüllt das, was von ihrem Mentor übriggeblieben ist – ein Mörder hat ihn regelrecht zerfleischt. Das Rätsel um Kitcheners Mord ist es schließlich, das Greg Mandel auf den Plan ruft.

Nein, eigentlich hat er Eleanor versprochen, nichts dergleichen mehr zu tun, und das ist auch korrekt. Aber es gibt eine einzige Person, die ihn augenklim­pernd und flehend anzuschauen vermag und ihn erweichen kann – Julia Evans. Und Julia MUSS unweigerlich an Greg denken, weil er ihr der einzige zu sein scheint, der die verfahrene Situation zu lösen versteht. Denn sie fürchtet, dieser Mord sei nicht nur die irrsinnige Tat eines vollkommen Wahnsinnigen, sondern ein Anschlag auf den Konzern EVENT HORIZON, dem sie vorsteht.

Kitchener, das kristallisiert sich allmählich heraus, hat für EVENT HORIZON an revolutionären Technologien geforscht, unter anderem, so wird gemunkelt, an einem Sternenantrieb und an einer Methode, das Energieproblem der Welt zu lösen.

Doch selbst Greg Mandel gerät rasch mit seiner Gabe an die Grenzen: er spürt es herkömmlicherweise, wenn jemand auf seine Fragen nicht die Wahrheit sagt. Aber alle Studenten scheinen „clean“ zu sein. In der Nacht des Mordes herrschte heftiges Unwetter, das es auch verhinderte, dass jemand das abgele­gene Anwesen erreichte. Doch wie ist es dann möglich, dass jemand das Un­denkbare tat? Ist hier das perfekte Verbrechen gelungen? Ist der Mörder unter Umständen jemand, der seinen Wahnsinn selbst gegenüber einem Übersinnli­chen verbergen kann?

Und was ist mit Gregs Intuition, die ihm diffus sagt, dass vor ein paar Jahren Launde Abbey irgendwie in die Schlagzeilen geriet? Als schließlich ein Verdäch­tiger überführt wird, scheint der Fall vollkommen klar zu sein. Aber Gregs Intui­tion schreit geradezu, dass der Kandidat unschuldig ist.

Nur, wie beweist man das, wenn alle Indizien überwältigend für das Gegenteil sprechen? Und wie ist der Mord wirklich begangen worden? Die Jagd beginnt von neuem, und die Zeit läuft Greg Mandel davon…

Mit dem zweiten MINDSTAR-Roman läuft Peter F. Hamilton von neuem zur Hochform auf. War man als Leser vielleicht der Ansicht, der erste, umfangrei­chere Band könne nicht mehr getoppt werden, wird man hier eines Besseren belehrt. Gewiss: viele Protagonisten, die im ersten Teil ihr intensives Eigenleben erhalten, werden hier gelegentlich als Statisten „vorausgesetzt“ und nicht mehr sonderlich präzise definiert, aber das spürt man eigentlich kaum. Zu viele neue Personen treten hinzu, die man in den neuen komplexen Kontext der Geschich­te einfügen muss, um die Theorien, die man sich als Leser automatisch bildet, zu verifizieren oder zu falsifizieren.

Wer den Roman mit ein wenig Muße liest und sich dazu zwingt, nicht mehr als 50 bis 100 Seiten am Tag zu lesen (well, man kann ihn auch in zwei Tagen ver­schlingen, aber dann ist das Vergnügen denkbar geschmälert, weil man wahr­scheinlich viele Anspielungen und Details überliest, die nachher wichtig wer­den), der hat ein ähnliches „Feeling“, wie wenn man Sherlock-Holmes-Romane liest, und unstrittig hat sich Hamilton auch an diesem Detektiv gedanklich gerie­ben. Er erzählt mit dieser Geschichte einen klassischen „Whodunnit“, eingebet­tet in die nahe Zukunftswelt Englands nach der Klimakatastrophe und der post­sozialistischen Ära.

Allerdings ist das nicht alles, was er erzählt. Er spricht auch davon, wie die junge Konzernerbin Julia Evans, die ja bekanntlich erst 19 Jahre alt ist, sich mit den Medien zickt, und das muss man jetzt wirklich wörtlich nehmen. Es gibt köstli­che Szenen, in denen sie sich über die Berichterstattung aufregt, die… nun… wenig vorteilhaft über ihre Garderobe berichtet. Von ihrem fliegenden Wechsel jugendlicher Lover mal ganz zu schweigen.

Tja, es ist eben doch nicht Geld allein, was zählt, merkt man dabei, und der Leser schmunzelt.

Letzten Endes, und das möchte ich als Qualitätskriterium hervorheben, gelingt es Hamilton, selbst dem intelligenten Leser Sand in die Augen zu streuen (in diesem Fall: mir). Vielleicht habe ich einfach eine gedankliche Schleife zuviel ge­dreht, in jedem Fall lenkte mich Hamiltons Berichterstattung völlig von der rea­len Handlung ab. Am Schluss stellte sie dann zwar nicht so sehr eine Überra­schung dar, aber ich hatte eine ganz falsche Person im Visier. Und solche Fähr­tenkunst ist für einen Autor immer etwas Raffiniertes.

Lasst euch von dem eigentlich sehr ruhigen Roman verführen. Es lohnt sich.

© by Uwe Lammers, 2006

Ja, ja, es gibt nicht immer nur in der modernen phantastischen Literatur inter­essante Entdeckungen zu machen, sondern eben sehr häufig auch gerade dort, wo man die Romane nicht mehr im aktuellen Romanhandel finden kann. Wenn ich immer wieder mal auf Antiquariate und antiquarische Romane verweise, so geschieht das natürlich insbesondere deshalb, um euch von der eher drögen Alltagskost der Gegenwart abzulenken. Ältere Romane von Peter F. Hamilton sind nur ein solches Schmankerl.

Es gibt auch noch ganz andere Sensationen, und auf eine davon möchte ich euch in der kommenden Woche hinweisen – auf ein voluminöses Sachbuch, an dem wohl jeder, den dicke Werke abschrecken, nervös vorbeigegangen ist. Ein Fehler, um es vorab zu sagen. Was dort mit den grässlichen persischen Bettvor­legern beginnt, steigert sich zu einem realen Alptraum, der durchaus mit dem Untergang der Menschheit enden kann, wenn wir in der Gegenwart die falschen Weichen stellen.

Nein, nein, das ist leider keine Science Fiction, es handelt sich um ein Sachbuch, von dem ich auch heute nach fast fünfzehn Jahren annehme, dass es jeder, der an der Zukunft der Welt Interesse findet, mal gelesen haben sollte. Merkt euch den Namen, um den es in der nächsten Woche geht – David Quammen – und lasst euch bitte nicht von der Länge meiner Ausführungen abschrecken.

Ich betone: das ist ein wichtiges Buch.

Mehr in sieben Tagen.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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