Rezensions-Blog 81: Das Haus gegenüber

Posted Oktober 12th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

achtet eigentlich jemand mal, wenn er durch eine ganz alltägliche Straße geht, jemals auf „das Haus gegenüber“? Da ist eins, das fünf bis sechs Stockwerke hat, in dem Familien wohnen, alte Leute nach dem Ende ihres Berufslebens, vielleicht auch schrullige Personen, die man gelegentlich aus dem Fenster schauen sieht… aber was mag in diesem Gebäude wirklich vor sich gehen? Kann man darüber Geschichten erzählen, phantastische noch dazu? Über selt­same Menschen, die andere traditionell zum Essen einladen beispielsweise? Oder über merkwürdige, kauzige Leute, die ständig das Licht brennen lassen? Über jemand, dem man vielleicht im Treppenhaus begegnet, der ständig Bret­ter, Seile und dergleichen nach oben transportiert, als ob er etwas Wichtiges, Monumentales baut?

Vielleicht, ja.

Im Jahre 1982 unternahmen zwei Franzosen den Versuch, über so etwas schein­bar ganz Alltägliches zu schreiben wie ein „ganz normales Haus“ in Paris. Und zugleich etwas über die Träume, Phantasien und grässlichen Alpträume, die sich gleichwohl ebenso in diesen Mauern eingenistet haben, unentdeckt und unbe­rührt vom Alltagsleben ringsum.

Ich habe mich mit einiger Verspätung in dieses Abenteuer gestürzt und dabei einen heute natürlich längst vergriffenen Roman entdeckt, der zweifelsohne eine Neuentdeckung durch aufmerksame Leser verdient. Folgt mir in ein ganz bescheidenes Mehrfamilienhaus in Paris:

Das Haus gegenüber

(OT: L’Immeuble d’en Face)

Von Jean-Pierre Andrevon & Philippe Cousin

Heyne 4858, 1992

272 Seiten, TB

Aus dem Französischen von Georges Hausemer

ISBN 3-453-05381-8

Schon der Untertitel auf der Vorsatzblattseite lässt den neugierigen Leser stut­zen: „Roman in zehn Episoden und fünf (bis sechs) Stockwerken“. Er blättert wei­ter und stößt tatsächlich nach dem Inhaltsverzeichnis auf einen Hausplan mit den Mietparteien – und auf das erste Rätsel des Buches. Denn anstelle des drit­ten Stockwerks sind nur Fragezeichen eingezeichnet. Was mag das heißen? Sind die Mieter des dritten Stocks unbekannt? Sind die Räume nicht belegt? Und warum folgt im Inhaltsverzeichnis – nach Stockwerken vom Erdgeschoss bis zum fünften Stock sortiert – auf die zweite Etage gleich die vierte?

Fürwahr, es scheint ein eigenartiges „Haus gegenüber“ zu sein, dieses Gebäude in Paris in der Rue de Saintonge Nr. 5. Normalerweise geht man achtlos an Ge­bäuden dieser Art vorbei, von denen es in Paris Hunderte geben mag. Doch das Autorenduo schickt uns in zehn Episoden auf einen Rundgang durch dieses Haus, und in jeder der miteinander verflochtenen Geschichten lernen wir Be­wohner und Schicksale kennen, bis wir das Haus schließlich von Grund auf ken­nen gelernt haben.

Eine gruselige Erfahrung, kann ich euch sagen, und eine sehr lesenswerte. Folgt mir einfach in den Episodenroman und macht euch selbst ein Bild:

Da ist zum Beispiel der Junggeselle Jacques-Pierre Hougremont im Erdgeschoss links (in der Geschichte „Dieses Licht, das aus dem Dunkeln kommt“), in dessen Wohnung absonderlicherweise Tag und Nacht das Licht brennt… schrullig? Ja, aber es gibt da noch einen beunruhigenden anderen Grund, den man schon alptraumhaft nennen kann. Aber dies ist ja alles erst der Anfang.

Direkt gegenüber wohnt der pensionierte Polizist Hector Poi (nachzulesen in „Der zerstückelte Mann“), der regelmäßig Briefe mit seinem in Breteuil-sur-Noye lebenden Freund Adolphe Zibold wechselt. Nach einer Weile kündigt er seinen Besuch bei Adolphe an, taucht aber nicht auf. Und seine Briefe werden auf bestürzende Weise immer wirrer und hören schließlich ganz auf. Adolphe beschließt besorgt, nachsehen zu lassen, was mit seinem alten Freund los ist… eine Nachforschung, die ein grässliches Rätsel zutage fördert…

Auf der ersten Etage links wohnt der mäßig erfolgreiche SF-Schriftsteller Jerôme Pensedur („Der Mann, dem die Außerirdischen alles wegnahmen“), der eines Ta­ges überraschend Besuch von einem Alien bekommt, das mit einer akribischen Erfassung seines gesamten Hausrates beginnt, um ihn sodann verpacken zu las­sen. Aber das ist leider noch lange nicht alles…

Genau gegenüber auf der ersten Etage („Die Wände haben Beine“) lebt der alte, pensionierte Soldat Léon Lessourd, dessen Wohnung voll gestellt ist mit alten Erinnerungsstücken. Léon hadert mit der Welt, mit der Jugend von heute, mit den Ausländern, eigentlich mit fast allem… und grässlich wird es für ihn, als nach dem verschwundenen Jerôme Pensedur ein junges Pärchen, mutmaßlich ausländischer Abstammung, in die gegenüberliegende Wohnung einzieht. Von dem Moment an wird sein Leben zu einem nie gekannten Alptraum und ver­wandelt sich in einen unentwegten, hasserfüllten Kriegszustand…

Auf der zweiten Etage links lebt der junge Georges mit seinen Eltern („Georges wollte auf die dritte Etage“). Seit Jahren leidet er an den Folgen eines Verkehrs­unfalls. Er wurde von einem Auto angefahren, und seither ist er querschnittsge­lähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen, der allerdings so raffiniert gebaut ist, dass er damit Treppen erklimmen kann. Dennoch… den dritten Stock des Hau­ses und alle darüber liegenden, die kennt er nur vom Hörensagen. Und wen auch immer er von den Bewohnern befragt, die dort oben wohnen – entweder hört er, das mit dem dritten Stock sei ein Irrtum des Architekten gewesen (denn tatsächlich gibt niemand zu, im dritten Stock zu wohnen, die Parmentiers und die Lehureux sagen stets, sie wohnten im vierten Stock), oder das Stockwerk sei unbewohnt. Aber Genaueres scheint niemand zu wissen.

Und schließlich vernimmt Georges direkt über sich nachts eine Stimme, die sei­nen Namen flüstert. Jemand im dritten Stock. Eine Frau, eindeutig, er ist sich ganz sicher… und als seine Eltern dann eines Tages ohne ihn in Urlaub fahren, macht er sich auf den Weg in den dritten Stock, den rätselhaften…

Direkt gegenüber wohnt die Familie Goulot („Krieg ist Krieg“). Drei Kinder, zwei Jungen, ein Mädchen, ein Au-pair-Mädchen namens Fourmille, Roger und Me­lanie Goulot, die Eltern. Er ist ein Versicherungsagent… aber auch er lebt ein zweites Leben, und dies ist das ziemlich ungeheuerliche Leben als Oberfeldwe­bel. Als er eines Tages mitten in der Woche Besuch von einem Offizier in voller Uniform bekommt und man ihm erklärt: „Es ist Krieg!“, da verwandelt sich seine Wohnung in eine Gefechtszone ohnegleichen, wie man sich das gar nicht vor­stellen kann…

Die dritte Etage ist, wie gesagt, ein gewisses Problem, dem man in der Ge­schichte um Georges näher kommt. Gehen wir also die Treppe hoch in den vier­ten Stock.

Links lebt die Familie Parmentier, wohlbeleibte Personen mit sechs kleinen Kin­dern im Alter von drei bis acht Jahren, die seit vielen Jahren mit dem Ehepaar Mageollet befreundet sind („Gastfreundschaft“). Sie sind ein Ehepaar, das gern gut und viel isst, und doch haben sie inzwischen ein ernstes Problem – die kuli­narischen Wochenenden, die immer im Wechsel stattfinden, arten längst in eine Art von Wettkampf aus. Und die Familie Parmentier lebt nun schon gerau­me Zeit in prekären Finanzverhältnissen. Dennoch haben sie so etwas wie Ehre und Schamgefühl. Und schließlich führt dies zu einer grässlichen Entwicklung, die man nur noch alptraumhaft nennen kann…

Direkt gegenüber auf der vierten Etage lebt das Ehepaar Lehureux, die Eltern der fünfjährigen Amelie („Was verstopft den Abfluss?“). Eigentlich könnte diese Familie ganz harmonisch genannt werden, wenn man davon absieht, dass Papi immer erschöpft und genervt von seinem Beruf ist. Da die Geschichte aus der Perspektive der kleinen Amelie erzählt wird, geht sie auf eine süß-schaurige Weise unter die Haut. Denn es gibt hier schon ein Problem: der Abfluss in der Essküche ist immer wieder mal verstopft, und Papi erzählt gruselige Geschich­ten, was wohl im Abfluss stecken mag. Mal meint er, es sei ein „verlorener Rie­senwurm“, aber seit neuestem meint er, es sei eine „Abflussgiraffe mit Haaren auf den Augen“, was sich die kleine, sehr phantasiebegabte Amelie ganz schrecklich vorstellt. So einsam in der Finsternis des Abflussrohres eingesperrt, das muss doch furchtbar sein. Und eines Nachts, als sie nicht schlafen kann, be­schließt das kleine Mädchen, dieses arme Wesen aus dem Abfluss zu befreien…

In der fünften Etage links lebt ein junges Ehepaar, Francine und François Douchy („Die junge Tote vom fünften Stock“), doch ist die hübsche Francine eigentlich mehr ein blasser Schatten als irgendetwas sonst… und eines Tages schwindet sie dann völlig dahin und wird im Sarg die Treppen hinab getragen. Die ganze Mieterschar des Hauses nimmt Anteil an dem tragischen Todesfall. Aber bald darauf hört man dann wieder Frauenlachen aus der Wohnung des Witwers – und macht eine bestürzende Entdeckung, als eine Delegation von Mietern dem scheinbar pietätlosen Witwer ihre Aufwartung macht…

Ja, und dann war da ebenfalls auf dem fünften Stock noch der hünenhafte Aus­tralier („Der Australier“), der schon durch den ganzen Roman geistert als je­mand, der unentwegt Bretter, Seile und Nägel hinauf in den fünften Stock trägt und permanent zu zimmern, zu sägen und zu basteln scheint. Was, um alles in der Welt hat dieser hünenhafte Mann vor? Man erfährt es gegen Ende des Ro­mans auf abenteuerliche Weise…

Nein, man kann es wahrlich nicht normal oder durchschnittlich nennen, dieses „Haus gegenüber“, das Haus in der Rue de Saintonge Nr. 5. In einer wilden Mi­schung aus abenteuerlichen Alltagsgeschichten mit leicht phantastischem Touch, mal im Horrorbereich, mal im eindeutigen Science Fiction-Bereich, ent­führt uns das Autorenduo in einen häuslichen Mikrokosmos der ganz besonde­ren Art. Da die Geschichten – leicht – ineinander verschoben sind, empfiehlt es sich durchaus, von der vordersten zur hinteren Geschichte vorzugehen, so halt, wie man es in einem landläufigen Roman auch tut. Es ist, kann ich versichern, ein äußerst kurzweiliges Lesevergnügen mit einer Menge unglaublicher Überra­schungen und gelegentlichen Seitensteps in surreale Gefilde.

Dass die Geschichten nicht immer vollständig in derselben Welt zu spielen scheinen – besonders deutlich bei dem Goulot-Kapitel und dem um den armen Jerôme Pensedur – , tut der Gesamtkomposition keinen Abbruch, wie ich finde. Man wird davon nur umso stärker überrumpelt. Es mag ein wenig schade sein, dass dieser schon 1982 veröffentlichte Roman neun Jahre brauchte, bis er in deutscher Übersetzung vorlag. Sicherlich aber ist es zu bedauern, dass ich nach seinem Wühltisch-Kauf im Februar 1994 mehr als zwanzig Jahre brauchte, bis ich die Zeit fand, ihn zu lesen. Er lohnt sehr die raschere Lektüre.

Ach ja… und vergesst das Titelbild mit dem toten Vogel und den Kerzen, das hat keinen Inhaltsbezug. Da herrschte erkennbar Mangel an einem gescheiten Co­ver, wie so häufig bei Heyne zur damaligen Zeit. Der Inhalt des Buches entschä­digt euch dafür hinreichend.

Neugierige Leser, die in der Phantastik der Gegenwart nicht mehr genug inter­essanten Lesestoff vorfinden, sollten nach diesem Buch Ausschau halten. Es lohnt sich.

© by Uwe Lammers, 2015

Ja, das ist schon ein rechtes Leckerli für Leute, die unheimliche phantastische Geschichten lieben und ein wenig über den Tellerrand schauen wollen. Es lohnt sich in der Tat, die Stunden und Tage in diesen Episodenroman zu investieren.

In der kommenden Woche machen wir einen weiteren spektakulären Ausflug, Seite an Seite mit einem netten jungen Mädchen, das eine unerwartete, aben­teuerliche Reise macht und dabei unter anderem auf einen verrückten Hutma­cher und ein weißes Kaninchen mit Uhr stößt.

Wer schon Bescheid zu wissen glaubt, worum es hier geht, der lasse sich in sie­ben Tagen dennoch etwas überraschen.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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