Rezensions-Blog 86: Die Sechseck-Welt (1)

Posted November 16th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute machen wir mal in einer Rezension eine doppelte Zeitreise – einmal in die sehr ferne Zukunft, also die Romanhandlung selbst, und dann in meine pri­vate Vergangenheit. Das hier vorliegende und vorgestellte Buch, als erster Teil einer Trilogie angekündigt, was dann nicht ganz der Wahrheit entsprach, wie ihr sehen werdet, wurde erstmals 1977 publiziert, also vor fast 40 Jahren. Es hat aber, wie ich finde, an Lesereiz absolut nichts eingebüßt. Und da ich es inzwi­schen dreimal gelesen habe seit etwa 1981, hat das vermutlich einiges zu besa­gen. Immerhin haben sich meine Lesegewohnheiten und Lesevorlieben in der Zeit ja gründlich weiter entwickelt.

Für Leser des Oki Stanwer Mythos ist dieser Roman von Jack L. Chalker deswe­gen so interessant, weil ich ihn erstmals in einer Zeit meines Lebens las, eben um das Jahr 1981 herum, als der OSM seine ersten Konturen zu entwickeln be­gann, als ich ihn verschriftlichte und von der Phase der „Gedankenspiele“ zur papiernen, sagen wir: modernen Form des OSM, überging. Ich könnte mir vor­stellen, dass ihr in dem Roman einige Elemente meines kreativen Hauptwerks durchaus widergespiegelt findet. Und wenn man noch ein junger, glühender Geistfunken am Beginn seines Brennens ist, dann ist man natürlich offen für be­eindruckende Ideen aus fremden Werken.

Das heißt nicht, dass hier eine Form von Plagiat vorliegt, aber „Die Sechseck-Welt“ ist definitiv eine Inspirationsquelle gewesen. Und dann dieser unglaubli­che Antiheld Nathan Brazil… ihr müsst ihn wirklich erleben, Freunde, wenn ihr ihn noch nicht kennt. Das ist ein wenig so wie mit Doctor Who. Wer in der Phantastik den Doctor nicht kennt, hat ein echtes Informationsdefizit. Ich muss­te das auch mit Jahrzehnten Verspätung erkennen. Und inzwischen mag ich den Doctor wirklich außerordentlich gern – möge es euch mit Nathan Brazil und der Sechseck-Welt genauso ergehen.

Es lohnt sich auf alle Fälle.

Die Sechseck-Welt

(OT: Midnight at the Well of Souls)

von Jack L. Chalker

Goldmann 23338

272 Seiten, TB

Januar 1980

Übersetzung von Tony Westermayr

Eigentlich ist es eine Tragödie, was mit der menschlichen Rasse passiert: die Menschheit ist in den Weltraum vorgestoßen und hat Hunderte von Planeten erschlossen, sich neue Gesellschaftsordnungen gegeben, die Hightech und Gen-Tech floriert und ermöglicht es, gänzlich neue, „perfekte“ Gesellschaften zu schaffen. Manche nennen die Kom-Welten „Ameisenstaaten“, in denen die Menschen vor der Geburt bereits uniform gestaltet und nach der Geburt künst­lich in Neutren verwandelt werden, glücklich und zufrieden, in gewisser Weise fanatisch an die Perfektion ihres Staates glaubend.

Das sind Menschen. Nun ja. Einige davon wenigstens.

Aber dies scheint Nebensache zu sein angesichts dessen, was die Menschheit vorfindet, als sie immer tiefer in den Kosmos ausgreift. Denn dort entdecken die Menschen uralte Planeten mit erstorbener Biosphäre, bedeckt von giganti­schen, zeitlosen Ruinenstädten: die Zivilisation der so genannten Markovier (be­nannt nach dem Wissenschaftler Markov, der diese Planeten erstmals fand). Sie sind schon seit langer Zeit Vergangenheit, seit 500.000 Jahren, seit einer Million Jahren, niemand weiß es genau. Niemand weiß, wie sie aussahen, wie sie leb­ten oder – schlimmer noch – woran sie zugrunde gingen!

Denn die Markovier hatten eine perfekte Weltordnung, wie die Menschen sie selbst auch anstreben. Planetare, gigantische künstliche Gehirne, eingebettet in die Planetenkruste ihrer Welten, befähigten sie, ihre Gedanken zu materialisie­ren, sich alles zu wünschen, was sie benötigten. Die Markovier waren quasi Göt­ter.

Aber sie sind alle tot.

Niemand weiß, weshalb. Und wenn Vollkommenheit zur Vernichtung führt, muss das jedes Volk beunruhigen, das nach Vollkommenheit zu streben begon­nen hat. Konsequenterweise sind Markovierwelten deshalb Forschungsobjekte geworden, seit Jahrhunderten. Bislang hat aber niemand ihr Rätsel lösen kön­nen.

Eine weitere Forschungsexpedition auf den toten Markovierplaneten Dalgonia offenbart zweien der Beteiligten – dem Leiter Elkinos Skander und dem hochin­telligenten Studenten Varnett – , dass das nicht stimmt. Das Markovier-Gehirn von Dalgonia ist nicht tot. Beide sind besessen von dem Gedanken, mit dessen Hilfe die Welt zu verbessern, doch Skander tötet sieben Mitglieder der For­schergruppe und duelliert sich dann mit dem flüchtigen Varnett… als sich der Boden auflöst und sie durch einen gespenstischen Schacht ins Innere des Mar­kovierplaneten zu fallen scheinen…

Obwohl die Expedition kein Notsignal ausgesandt hat, wird der Raumfrachter STECHEKIN unter dem Kommando des kleinen, müden Raumpiloten Nathan Brazil alarmiert und kommt zu Hilfe. An Bord befinden sich außer ihm drei Pas­sagiere: ein feister Rauschgifthändler namens Datham Hain, das ihm hörige Mädchen Wu Julee, die ihm sexuell zu Diensten sein muss, und die Kom-Bürge­rin Vardia Diplo 1261, geklont und geschlechtslos, hochintelligent und rund 15 Standardjahre alt, zumindest von der Entwicklung her.

Sie folgen den Spuren von Skander und Varnett – und fallen ebenfalls in den jäh erscheinenden Schacht, der sie ins Nirgendwo reißt. Und hier beginnen erst ihre Abenteuer.

Auf einmal befinden sie sich alle in einem gigantischen technischen Komplex, der Sechseck-Welt genannt wird, der eine ganze Planetenoberfläche umfasst. Ein alter Bekannter Nathan Brazils erwartet ihn, wenn auch monströs verän­dert: entfernt entspricht er der Kreuzung einer drei Meter langen Schlange mit einem enthaarten Walross. Auch er war einst ein Mensch, Serge Ortega, Raum­pilot wie Brazil auch, der aber vor langer Zeit in die „Schacht-Welt“ hineinfiel, durch ein Raumportal der Markovier.

Denn diese haben die Sechseck-Welt geschaffen und das hier noch quickleben­dige markovische Planetargehirn kontrolliert alles.

Es gibt viel zu kontrollieren: 1560 Hexagonflächen, entfernt mit einer Art von Biotop-Reservat zu vergleichen, bedecken die Oberfläche der Welt von Pol zu Pol. Manche bestehen nur aus Meeresoberflächen, andere nur aus Wüsten, da­zwischen gibt es verschiedenste, extreme Mischformen. In jedem Hexagon lebt eine spezielle Rasse, alle sind mehr oder weniger intelligent, die meisten eher weniger menschenähnlich. Die Technologiestufen sind von Hexagon zu Hexagon verschieden, und das Gehirn kontrolliert, dass die Hochtechnologie-Völker jene mit geringerer Technologie nicht problemlos unterjochen können. So funktio­niert Fusionstechnologie in einem Nicht-Tech-Hex eben nicht. Dafür können die unter Umständen ihre Angreifer verzaubern oder mit organischem Gas in die Primitivität zurückversetzen.

Es gibt auch eine Reihe von Allianzen zwischen den Völkern, und in der so genannten „Zone“ am Pol der Welt diplomatische Vertretungen jedes Volkes. Or­tega vertritt sein Heimathexagon, das der Ulik, das ihm seine neue Gestalt ge­geben hat. Und er macht den Neuankömmlingen klar, dass er sie durch das Por­tal auf die Welt draußen „loslassen“ muss und es keine Rückkehr ins menschli­che Imperium gibt.

Mehr oder weniger schockiert fügen sich alle dem Druck, der auf sie ausgeübt wird und gehen durch das Portal, um in verschiedenen Hexagen der Schacht­welt wieder aufzuwachen. Aus Vardia Diplo wird ein intelligenter Baum im He­xagon Czill, Datham Hain erwacht als insektoide Brüterin im akkafischen Reich wieder, Wu Julee, durch die Schwammsucht schon so gut wie tot, findet sich desorientiert als weibliche Zentaurin in Dillia – und erleidet bald darauf den Schock ihres Lebens, als sie Nathan Brazil wieder trifft. Er hat ihr versprochen, sie zu suchen, nur… alles, was sich an ihm verändert hat, ist seine Kleidung.

Er ist anders.

Er hat auch ein Ziel: von Ortega konnte er mehr über Skander und Varnett er­fahren und ihr Ziel, die ursprüngliche markovische Gleichung zu verändern, die die Grundlage aller Materie ist. Dazu wollen die beiden Rivalen Macht über das markovische Gehirn der Sechseck-Welt gewinnen. Wenn sie das tun, können sie in ihrer Unwissenheit sich selbst und alles intelligente Leben im Kosmos auslö­schen.

Nathan Brazil sucht also seine vertrauenswürdigen Gefährten, erfährt die Liebe Wu Julees und bricht in Richtung Äquator auf, zum so genannten „Schacht der Seelen“…

Es ist äußerst vergnüglich und kurzweilig, diese Odyssee durch die Spielwelt Chalkers nachzuvollziehen. Ich sage deshalb Spielwelt, weil die Hexagonform frappierend an Rollenspielkarten erinnert und manches in diesem Roman den Rollenspielcharakter sehr unterstreicht. Dass der Roman als „Fantasy“ etiket­tiert wurde, sollte die Leser hingegen nicht irritieren. Die Grenzen der SF zur Fantasy hin sind in diesem Werk stark fließend.

Als ich „Die Sechseck-Welt“ etwa im Jahre 1981/82 noch in Wolfsburg das erste Mal las, befand sich meine kreativ-schriftstellerische Genese gerade in einer frühen Hoch-Explosionsphase. Entsprechend beeinflussten eine Menge dieser hier im Buch enthaltenen Gedanken in gewisser Weise dann meine eigenen Werke. Der Begriff der „Primärenergie“ etwa, den Chalker hier formuliert, fand Niederschlag im Oki Stanwer Mythos (OSM), meinem kreativen Hauptwerk, wenngleich ich diese Energie grundlegend modifizierte. Die gottähnlichen, aber nicht Göttern entsprechenden Markovier haben im OSM durchaus in den Bau­meistern ihre Entsprechung. Und so weiter. Sehr viele, faszinierende Parallelen zu meiner frühen Schaffensperiode machen diesen Roman und den insgesamt fünfbändigen Zyklus zu einer für mich sehr lieben Lektüre, selbst nach dem drit­ten Lesen im Laufe von 20 Jahren.

Freilich muss ich am Ende gestehen, dass mir Chalkers Neigung zum Happy End und zur vollständigen Abrundung der offenen Fragen etwas gegen den Strich geht. Der Roman wird dadurch zu rund, zu glatt, zu künstlich. Und das Hinterfra­gen der Motive der einzelnen Protagonisten ziemlich zum Schluss wirkt arg ge­künstelt und zeigt, dass der Autor mit der Dimension der von ihm selbst aufge­worfenen Schwierigkeiten einfach nicht zurechtkam. Dennoch: zwei intensive Lesetage voller Vergnügen und Überraschungen sind sicher. Und wie gesagt: es geht ja noch weiter…

© by Uwe Lammers, 2001

Ich konnte gar nicht fassen, wie alt diese Rezension ist und verlegte gedanklich, ehe ich sie hier hochlud, irgendwo in das Jahr 2005 oder 2006. Ach, weit ge­fehlt! Es ist tatsächlich schon satte fünfzehn Jahre her… schockschwerenot! Ein­fach unglaublich. Aber es ist eine schöne Entdeckung, euch auch so alte, gelun­gene Rezensionen zu guten Büchern zugänglich zu machen.

Sehr viel jünger ist die in der kommenden Woche. Auch sie behandelt ein Buch, das ich schon viele Male gelesen habe… vier Male, um genau zu sein. Und ihr werdet eine weitere Reise mitmachen, in den eisigen April des Jahres 1912 auf den Nordatlantik, um eine weitere Legende kennenzulernen…

Seid neugierig, wohin es euch verschlägt, meine Freunde!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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