Rezensions-Blog 93: August 1914

Posted Januar 4th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

vielleicht verdreht ihr die Augen und denkt „Oh Gott, schon wieder der Erste Weltkrieg?“ Möglich ist dies, und ich könnte euch vollkommen verstehen. Den­noch schlage ich vor, ihr verwendet ein wenig Zeit darauf, diesen Rezensions-Blog zu lesen. Das wird euer Nachteil nicht sein und vielleicht ein Interesse wecken, von dem ihr denkt, dass es gar nicht existiert.

Das Buch „August 1914“ zeigt euch einen tiefen Blick auf den Ausbruch des Ers­ten Weltkriegs, wie man ihn in den üblichen Lektionen des Geschichtsunter­richts nicht erhalten kann, und ich bin so verwegen, zu behaupten, dass die Kenntnis dieses Buches auch für die Gegenwart immer noch nützlich ist – weil die von Barbara Tuchman hier differenziert ausgeführten historischen Informa­tionen fundamentale Strukturen offenbaren, die auch in aktuellen Konflikten nach wie vor Geltung besitzen.

Ich sage weiter unten, dass der Erste Weltkrieg prototypisch für Konflikte im 20. Jahrhundert war, in ihrer lang gezogenen, verworrenen, der Logik oftmals wi­dersprechenden Realisierung. Das ist, und das muss man nicht eigens betonen, das bekommt man quasi tagtäglich in den Nachrichten mit, auch heute sympto­matisch für Bürgerkriege, ethnische Konflikte oder etwa den „Krieg gegen den Terrorismus“, den man vermutlich deshalb nicht gewinnen kann, weil hier der Gedanke des Auslöschens des Gegners vor dem Gedanken des Verstehens des Gegners steht. Wer aber schon die Strategie und die Natur des Gegners nicht begriffen hat, der versagt an der selbst gestellten Aufgabe, einen Konflikt zu be­enden.

Dies lässt sich exemplarisch leider auch aus dem „Plan 17“ des französischen Generalstabs und allem, was folgt, lernen. Insofern ist das unten wortreich re­zensierte Buch alles andere als allein historisch und „von gestern“. Es ist brand­aktuell, und so kann es auch gelesen werden.

Stürzt euch in dieses Furcht erregende Abenteuer, Freunde:

August 1914

(OT: The Guns of August)

von Barbara Tuchman

Heyne-Sachbuch 53

(gekürzte Übersetzung)

432 Seiten, 1966

Übersetzt von Grete und Karl-Eberhard Felten

Alles beginnt mit einem Begräbnis, gleichsam dem Abgesang einer ganzen Epo­che – nur weiß von letzterer Tatsache niemand, als im Mai des Jahres 1910 der König Eduard VII. von England zu Grabe getragen wird. Neun Majestäten geben dem Toten das letzte Geleit, gefolgt von fünf Thronerben, vierzig kaiserlichen oder königlichen Hoheiten, sieben Königinnen sowie eine Schar von hohen Würdenträgern aus siebzig Ländern.

König Eduard VII. steht für die Vergangenheit, doch was nun zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraufdämmert, ist gleichsam die Götterdämmerung für das Ges­tern, die Geburt eines blutigen Zeitalters, das alle Werte des Einst in Frage stellt und viele von ihnen unwiderruflich zerstampfen wird, im August 1914.

Seit den Tagen des durch Bismarck geschmiedeten Deutschen Reiches preußi­scher Prägung, das seine Adelung im Spiegelsaal zu Versailles im Frühjahr 1871 erlebte, steuert dieses monarchische Europa auf einen Abgrund zu. Der macht­besessene deutsche Kaiser, Wilhelm II., der seinen „Platz an der Sonne“ sucht und seinem Reich Weltgeltung verschaffen will, ist ein schlechter Diplomat und Taktiker. Infolgedessen vollendet er das, was Bismarck zeit seines Lebens zu ver­hindern suchte: die Einkreisung Deutschlands. Dem Duo der im Herzen Europas gelegenen Monarchien Deutschland und Österreich-Ungarn gegenüber steht die Entente, die nichts so sehr fürchtet wie ein starkes, übermächtiges Deut­sches Reich.

Die Franzosen, im Krieg 1870/71 verheerend geschlagen, wissen nur zu gut, dass die Deutschen lediglich auf eine Gelegenheit warten, ihren Sieg zu erneu­ern. Im französischen Generalstab wird in Erwartung eines weiteren Krieges der „Generalplan 17“ entworfen, in dem alle Eventualitäten enthalten sein sollen. Es ist DER Plan für die Zertrümmerung deutscher Machtphantasien, und im Laufe von vielen Jahren, bald Jahrzehnten, wird dieser Plan zur übermächtigen, fixen Idee.

Auf der Gegenseite steht der greise deutsche General Alfred von Schlieffen, der den nach ihm benannten Plan entwickelt, um die französische Gefahr, der er sich sehr wohl bewusst ist – wollen doch die Franzosen das okkupierte El­sass-Lothringen zurückerobern, das gebietet ihnen der Nationalstolz – , ebenfalls endgültig auszuschalten. Der Schlieffen-Plan besitzt indes eine fundamentale Schwäche: er sieht zwingend die Verletzung des neutralen Belgien vor. Aber wenn er funktioniert, so prophezeit Schlieffen, wird nach 39 Kriegstagen Paris fallen. Und den Sieger, so behauptet ein späterer deutscher Politiker, der zum größten Verbrecher seines Jahrhunderts werden soll, frage niemand danach, wie er den Sieg errungen habe…

Beide Pläne werden auf unendlich tragische Weise scheitern, in einem Konflikt, wie ihn die Welt noch niemals gesehen hat.

In drei großen Abschnitten entwickelt die amerikanische Historikern Barbara Tuchman die Geschichte jenes verworrenen, schwierigen und blutigen Konflikts, oder wenigstens der Vorgeschichte und die Schilderung des ersten Kriegsmo­nats (das Buch reicht wirklich nur bis zum 5. September, also bis zum Vorabend der entscheidenden Schlacht an der Marne). Und dennoch reicht dieser Zeit­raum völlig aus, um dem Leser klarzumachen: in diesem Moment war der Krieg im Grunde genommen entschieden. Freilich war das den wenigsten Zeitgenos­sen so präsent. Und wenn sie es ahnten, wurden ihre Ahnungen ignoriert, weg­gefegt von Wunschdenken.

Im ersten Teil – „Pläne“ – werden die oben angedeuteten Pläne entwickelt, in den historischen Kontext und die jeweilige nationale Denksphäre eingebettet. Die Deutschen und Schlieffens Vorstellung eines finalen Sieges über Frankreich (Kapitel 2). Die Franzosen und ihr Plan 17 (Kapitel 3). Die Engländer und das Problem ihrer fehlenden Armee, die Frage, ob sie sich überhaupt einmischen sollen (Kapitel 4). Und dann ist da noch die legendäre „russische Dampfwalze“ (Kapitel 5), die als Kampfmittel der dritten Entente-Macht die ostpreußische Grenze bedrohen kann. Jene Armee, die letzten Endes trotz ihrer Niederlage entscheidende Bedeutung erhält.

Der „Kriegsausbruch“ füllt die nächsten neun Kapitel, Kapitel voller Illusionen und falscher Vorstellungen dessen, was vor ihnen liegt. Nach den tödlichen Schüssen auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sa­rajewo, die lediglich ein Vorwand für das sind, was nun folgt, beginnt eine ver­heerende Maschinerie von Automatismen und Missverständnissen zu rollen.

Österreich-Ungarn ist mit der – an und für sich völlig ausreichenden – Entschul­digung der serbischen Regierung nicht zufrieden und erklärt dem kleinen Land den Krieg. Serbien hat allerdings Entente-Schutzmächte, so, wie auch Öster­reich-Ungarn eine Schutzmacht besitzt: Deutschland.

Ehe sie alle verstehen, was passiert, werden die Kriegserklärungen zugestellt, und zur allgemeinen Überraschung des Lesers ist die Reaktion durchaus nicht allseitiges Entsetzen.

Vielmehr muss man das, was nun kommt, als eine gewisse Form von… ja, fast allseitiger Genugtuung und Zufriedenheit verstehen. Eine seltsame Vorstellung für uns heute Lebende, die wir schaudernd wissen, wohin das führte. Doch ver­gegenwärtigt man sich die damals allgemein vorherrschende Anschauung, ein Krieg „reinige die Luft“ und sei sozusagen alle paar Jahrzehnte einfach „nötig“, gleichsam eine evolutionäre Notwendigkeit, dann wird vieles verständlicher. Ohne dass es deshalb weniger monströs wäre.

Allgemein herrscht überdies die Ansicht, dass der kommende Konflikt eine Neu­auflage des Krieges von 1870/71 sein würde. Jeder könnte, bei genauer Prüfung der Tatsachen, schon vorher ahnen, dass das nicht der Fall ist. Schließlich hat sich die Technik dramatisch weiterentwickelt und die Armeen sind erheblich größer geworden. Aber hier kommt der erste Faktor ins Spiel, der noch blutige Konsequenzen haben wird: Selbstüberschätzung.

Alle Seiten halten sich für hinreichend gerüstet. Jede Seite ist sich sicher, dass ihre Pläne alle Eventualitäten abdecken. Sie sind sich gewiss, dass sie dem Geg­ner in jedem Fall überlegen sind. Das gilt für General Joseph Jacques-Césaire Joffre auf der französischen Seite ebenso wie General Helmuth von Moltke im deutschen Generalstab. Diese Selbstsicherheit überträgt sich auf die Soldaten, und so kommt es zu den sattsam bekannten, irrwitzigen Szenen von Militärkon­vois, deren Insassen lachend und fröhlich an die Front ziehen und fest über­zeugt sind, wieder zu Hause zu sein, „ehe das Laub fällt“. Für viele trifft das zu, allerdings kehren sie (mit Glück) in Särgen wieder heim. Eine Menge anderer Soldaten werden indes auf den Schlachtfeldern Frankreichs im Artilleriebeschuss buchstäblich zermahlen, und auch dies beginnt im August 1914.

Das deutsche Ultimatum an Brüssel ist eine der ersten Überraschungen für die Entente-Verantwortlichen, denn sie kennen den Schlieffen-Plan nicht. Die deut­sche Regierung wird gleich im Gegenzug ebenfalls überrumpelt, denn die Bel­gier denken nicht im Traum daran, den deutschen Armeen freien Durchgang zu gewähren. Sie übergeben auch, als es brenzlig wird, keine ihrer Festungen. Stattdessen leistet das kleine Land erbitterten Widerstand – so erbitterten Wi­derstand, dass bald das Wort vom „Franctireur“ die Runde macht, und die Inva­soren damit beginnen, reihenweise Zivilisten erst zu inhaftieren und dann an die Wand zu stellen. Dörfer und Städte sinken in Schutt und Asche, und Löwen und die berühmte Bibliothek sind nur ein kleiner Teil des grausigen Puzzles, das sich nun über Jahre entfalten und unendliches Leiden über die Menschheit bringen soll.

Schlimmer noch: der belgische König muss erschüttert erfahren, dass General Joffre, den er um Hilfe ersucht, die Anwesenheit deutscher Truppen in Belgien für ein Ablenkungsmanöver hält. Joffre denkt nicht daran, eigene Truppen abzu­stellen, um Belgien zu schützen. Der Grund liegt im Plan 17 des französischen Generalstabs: er zielt darauf, die deutsche Mitte zu durchdringen und tief nach Deutschland vorzustoßen, um dann gleichsam die Armeen des Feindes von hin­ten aufzurollen.

Joffre rechnet nicht mit einem Schlieffen-Plan, und er unterschätzt notorisch die Stärke des Gegners. Aber diese Fehler hält er nicht einmal für möglich: Plan 17 ist unfehlbar, und „was immer der Gegner tut, ist für uns ohne Belang und unwichtig“. Aufklärung ist unbedeutend.

Der Leser schüttelt in ohnmächtigem Entsetzen den Kopf.

Doch dies ist nur ein kleiner Teil des Alptraums August 1914.

Kämpfe“, so der dritte und längste Teil des Buches, führt den Leser unter ande­rem ins Mittelmeer zum Schlachtschiff Goeben und konfrontiert ihn zum ersten Mal intensiv mit den, vorsichtig ausgedrückt, wirren Kommunikationslinien. Im Seeverkehr mag man das ja noch begreifen, aber an Land setzt sich das fort. Im Anfang des Vormarsches der Deutschen und Franzosen, als die Korps noch Kontakt miteinander halten, ist es nicht so ausgeprägt. Aber recht bald geht die Übersicht über das, was an der viele hundert Kilometer langen Front vor sich geht, völlig verloren.

Die belgischen Festungen leisten Widerstand und werden eingekesselt. Sie bin­den deutsche Truppenteile. Und die Belgier vertrauen auf ihre Festungspanze­rungen – ein weiterer schrecklicher Fall von Selbstüberschätzung. Sie erleben eine tödliche Überraschung, als die Deutschen neue Geschütze in Stellung brin­gen…

Die Franzosen lauern derweil darauf, dass die mittleren Armeen stark genug ausgedünnt werden, um den Vorstoß zu wagen. Im Elsass kommt es zu den ers­ten Zusammenstößen von weit überlegenen deutschen Truppen und den un­vorbereiteten französischen Einheiten, deren Schulung nicht einmal das Aushe­ben von Schützengräben enthalten hat. Warum auch? Ihr Motto, das einzige, das General Joffre unterstützt, heißt Élan. Das Voranstürmen mit aufgepflanz­tem Bajonett gilt als heldenhaft und führt zu Tausenden von Opfern, die von deutschen Maschinengewehren sehr unheroisch niedergemäht werden.

Tote, die man Joffre und seiner Sturheit im wesentlichen zuzuschreiben hat.

Dann ist da die Frage des britischen Expeditionskorps.

Mit Sir John French wird ein zwar charismatischer, aber draufgängerischer Sol­dat zum Anführer ernannt. Auf dem Kontinent gelandet, erweist er sich indes plötzlich als das genaue Gegenteil, als jemand nämlich, der tunlichst seine Trup­pen aus dem Kampf generell heraushält, zumal nach dem ersten katastrophalen Zusammenstoß mit den feindlichen Armeen. Ob er damit seine Verbündeten im Stich lässt und in den Tod schickt, scheint unwesentlich zu sein.

Joffre kann French nicht so befehlen wie seinen eigenen Untergebenen, und bald traut selbst der britische Generalstab French nicht mehr – doch können sie ihn nicht abberufen, ohne die Moral der Truppe völlig zu untergraben (Sir John French bleibt bis 1915 Oberbefehlshaber des britischen Kontingents).

In den Feldern und Dörfern von Lothringen, den Ardennen, Charleroi und Mons bricht die französische Offensive auf grauenhafte Weise in sich zusammen, und aus den Trümmern dieser Schlachtfelder, von denen die verletzten Überleben­den geradezu panisch flüchten, desillusioniert und unter Schock stehend, er­hebt sich der Plan 17 nie wieder. Aber es gibt keine Alternativpläne. Von nun an muss improvisiert werden, um die unaufhaltsame Flut der deutschen Armeen irgendwie zurückzudrängen. Nein, nicht zurückzudrängen – aufzuhalten. Einfach nur aufzuhalten!

Die Armeen verlieren auf beiden Seiten den Kontakt miteinander, das gilt auch für die eigenen Armeen untereinander. Sie marschieren in unterschiedlichem Tempo vorwärts oder weichen zurück. Manche, etwa die Briten, pausieren nach tagelangem Rückwärtsmarsch schließlich und lassen sich nicht mehr in die fran­zösischen Pläne einfügen.

General Joffre und die französische Regierung hoffen auf ein Wunder, das sich im fernen Osten ereignen soll, denn dort hat inzwischen die russische Mobilma­chung begonnen und bedroht Ostpreußen.

In Ostpreußen geht der Schreckensruf „Die Kosaken kommen!“ schon längst um, aber Evakuierungspläne gibt es im Grunde genommen keine. Das Ziel des deutschen Generalstabes ist es, auf Zeit zu setzen: die Russen würden viele Wo­chen brauchen, um die Soldaten ihres Riesenreiches zu aktivieren (ein reales Problem), bis dahin sei man mit Frankreich fertig und genügend Armeen stün­den zur Verfügung.

Denkt man.

Bis dahin steht General Hartmann von François mit seinen Truppen zur Verfü­gung, um eventuelle Gegner abzufangen. Gegner, deren Position er nicht kennt, deren Stärke unbekannt ist und deren Pläne schleierhaft sind. Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen. Zudem gibt es auch reichlich Reibereien persönli­cher Natur zwischen François und seinen direkten Vorgesetzten, was letzten En­des bei der Schlacht von Gumbinnen zur direkten Befehlsverweigerung führt (womit François allerdings die Schlacht gewinnt). Ähnliches kommt auch an der Westfront vor.

Am 29. August, als sich General Samsonow, der Oberkommandierende der rus­sischen Truppen, in einem Wald bei Tannenberg erschießt, weil er mit den Kon­sequenzen seiner Niederlage nicht mehr leben kann, hoffen die Franzosen nach wie vor darauf, dass die Russen ihnen zu Hilfe kommen. Zum Teil nimmt das ab­struse Formen an, etwa auch in England: hier gibt es ernsthaft Meldungen von Tausenden, ja, Zehntausenden von Kosaken, die heimlich bei Nacht und Nebel quer durch Schottland transportiert werden, um an der französischen Front eingesetzt zu werden: „Ein Einwohner von Aberdeen, Sir Stuart Coats, schrieb seinem Schwager in Amerika, 125.000 Kosaken seien in Pertshire über seinen Grund marschiert. Ein aktiver englischer Offizier versicherte Freunden, 70.000 Russen seien unter ‚strengster Geheimhaltung‘ über England an die Westfront gegangen. Nachdem man erst von 500.000, dann von 250.000, später von 125.000 gesprochen hatte, blieb es schließlich bei 70.000 bis 80.000, also einer dem eigenen Expeditionskorps genau entsprechenden Zahl. Die Geschichte verbreitete sich nur von Mund zu Mund, denn infolge der offiziellen Zensur kam nichts in die Zeitungen – außer in den Vereinigten Staaten…“

Phantomrussen, die es niemals gab.

Und schließlich, kaum vier Wochen nach Beginn der Kämpfe, ist General Joffre bereit, Paris aufzugeben und die Truppen an der Seine hinter Paris neu zu for­mieren. Er lässt General Joseph-Simon Gallieni, den neuen Oberkommandieren­den von Paris im Stich, die Einwohner der Hauptstadt flüchten in Scharen. Die Regierung wird nach Bordeaux evakuiert.

Und Gallieni gibt am 5. September 1914 desillusioniert einen Geheimbefehl an die Distriktkommandeure von Paris heraus: „…sie sollten alle Einrichtungen ih­res Bezirks melden, die zerstört werden müßten, ehe sie in die Hände des Fein­des fielen. Selbst Brücken im Herzen der Stadt wie der Pont Neuf und der Pont Alexandre sollten gesprengt werden. Zu General Hirschauer sagte er, wenn der Feind durchbrechen sollte, müsse er ‚einen leeren Raum‘ vor sich haben…“

Man stelle sich das vor: Paris als „leerer Raum“, eine brandgeschwärzte Schutt­wüste, vergleichbar dem Moskau, in das Napoleon 1812 einmarschieren wollte. Der Louvre ein Raub der Flammen inklusive allem, was er enthält, Notre Dame ein ausgebranntes Gerippe… man mag es sich nicht ausmalen.

Der Grat zwischen kontrafaktischer Spekulation und der realen Wirklichkeit ist in diesem Fall gefährlich schmal, und es ist bestürzend, sich auszumalen, was passiert wäre, wenn nicht zwei deutsche Armeekorps nach Tannenberg abge­stellt worden wären. Was geschehen wäre, wenn die Kommunikation besser funktioniert hätte. Wenn die Oberkommandierenden der einzelnen Armeeteile besser miteinander interagiert und die „Chemie gestimmt“ hätte, wie man gerne sagt.

Vieles von den Ereignissen, die in diesem Buch akribisch beschrieben werden, ist heute vergessen. Der Erste Weltkrieg und besonders sein Ausbruch, das ist etwas, das schon im Dämmer der Vergangenheit verblasst und bedeutungslos scheint. Doch in diesem Konflikt zerbrach nicht nur das militärische Ethos des 19. Jahrhunderts, die Vorstellung von prächtigen militärischen Siegen zu Pferd, von heldenhaft vorwärtsstürmenden, dem Tod trotzenden Soldaten. In diesem Konflikt zerbrach vor allen Dingen das Bild, ein Krieg sei eine kurze, schnell zu führende Auseinandersetzung, in der es besonders auf die klare Planerfüllung ankomme, der im Generalstabsquartier am „grünen Tisch“ entwickelt wird.

Die Kriege des 20. Jahrhunderts, und dieser war der erste, in dem man es bei­spielhaft sah, erwiesen sich letztlich als wirr, durchzogen von Undurchschaubar­keiten und Zufällen, in denen Selbstüberschätzung und mangelnde Aufklärung zum absoluten Desaster führten. Barbara Tuchmans große Stärke ist die knappe, pointierte Darstellung der wesentlichen Protagonisten dieses Kampfes, die mit­unter gnadenlose Einarbeitung zeitgenössischer Zitate und das Ausrollen eines grandiosen Panoramas von atmosphärisch dichten Schilderungen und Stim­mungen. Zusätzlich vernetzt sie alles miteinander und entwickelt so einen dia­chronen Blick auf die Ereignisse, bei denen insbesondere die Personen selbst und ihre Erwartungen ausschlaggebende Faktoren darstellen. So belebt sie auf ausgesprochen faszinierende Weise die Vergangenheit von neuem.

Der ungläubige Leser, der den Ersten Weltkrieg im wesentlichen nur aus arg re­duktionistischen Darstellungen in Geschichtsbüchern kennt, erlebt hier einen scheinbar bekannten Krieg aus völlig anderer Perspektive. Seine Erwartungen werden ständig in die Irre geführt, und durch die minutiöse Aufarbeitung der Geschehnisse, denen die Autorin nicht vorgreift, ist es beinahe, als lese man einen historischen Roman oder folge der Kamera eines Regisseurs bis in die vor­dersten Reihen des Kampfes. Es ist ein beängstigendes, beeindruckendes Erleb­nis. Das Buch ist zu Recht ein Klassiker der Geschichtswissenschaft, der aus gu­tem Grund noch heute zur Pflichtlektüre derjenigen gehört, die sich über den Ersten Weltkrieg informieren möchten.

Leider kann man das von heutigen Werken manchmal nicht mehr sagen. So muss ich bedauerlicherweise konstatieren, dass ich beim Nachschlagen man­cher Namen und Begriffe während meiner Tuchman-Lektüre doch ein wenig enttäuscht war von der „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“.1

Weshalb?

Nun, die von mir festgestellten Lücken in Hinblick auf die Schlacht von Gumbin­nen und General von François sind vermutlich nur einige wenige von denen, die in diesem über tausendseitigen Werk zu finden sind. Wäre es, so meine kriti­sche Frage, denn zuviel gewesen, einen Anhang zu bringen mit den wichtigen Schlachten und den bedeutenden Generälen und Offizieren, damit hier nicht wieder nur „Tannenberg, Tannenberg, Hindenburg, Hindenburg, Ludendorff“ re­petiert wird? In Ostpreußen passierte noch mehr als nur das, und wer die Tuch­man liest, bekommt das gut mit.

Dasselbe widerfährt uns bei Sir John French und der sehr ambivalenten Rolle, die er besonders im August 1914 spielte. Davon beispielsweise, dass French sein schlussendliches Versagen, das Tausende von französischen Soldaten das Leben kostete, noch unmittelbar während des Krieges selbst als jene Hilfe um­deutete, ohne die Frankreich untergegangen wäre (was man nur als glatte Lüge interpretieren kann, die den Zeitgenossen auch durchaus bewusst war), ist in dem kurzen biografischen Eintrag in der Enzyklopädie keine Rede. Er liest sich ohnehin mehr wie eine Hagiografie. Es mag bei zahlreichen anderen Einträgen ebenso sein.

Es ist also bedauerlich, dass die Enzyklopädie in wesentlichen inhaltlichen Punkten hinter einen Stand zurückfällt, der vor 40 Jahren bereits öffentlich er­reicht war. Wiewohl die Enzyklopädie natürlich unmöglich alle Ereignisse, Per­sonen oder Details des monumentalen Ersten Weltkrieges bringen kann, dafür geschah einfach viel zuviel, erhält doch der Glanz dieser großen Fleißarbeit ein paar hässliche Schrammen, wenn man genauer nachrecherchiert.

Wer also die Enzyklopädie Erster Weltkrieg sein eigen nennen sollte, ist gut be­raten, nicht alles, was darin steht, für bare Münze zu nehmen und zudem, wenn er sehr packende und historisch zutreffende Beschreibungen des Konflikts wünscht, zusätzlich auf das alte, aber noch immer wunderbare und mit Gewinn zu lesende Buch von Barbara Tuchman zurückzugreifen.

Wie gesagt, es ist zu Recht ein Klassiker. Und wer immer den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und die Nazizeit verstehen möchte, sollte es unbedingt lesen.

© by Uwe Lammers, 2005

Puh, das waren viele Worte, zugegeben. Und harte Kost, auch das will ich gern eingestehen. In der nächsten Woche geleite ich euch zurück auf die phantasti­sche Sechseck-Welt, dann wird es etwas ruhiger und weniger umfänglich, ver­sprochen!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003.

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