Rezensions-Blog 95: Um Haaresbreite

Posted Januar 18th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

man unterstellt ja Krimis gern, sie seien auf die mikroskopische Perspektive ge­eicht und hätten deutlich mehr mit Mikromilieustudien zu tun als mit der großen Politik. Sie seien mithin – ähnlich, wie man das gern der Science Fiction unterstellt – Eskapismus in Reinkultur und darum (das sagt man als Kritiker dann weniger deutlich, aber es schwingt mit in den Diskussionen) von „minde­rer Qualität“ als die so genannte „Hochliteratur“.

Ich bin bekanntlich nicht dieser Ansicht, und ein schönes Beispiel für einen Ro­man, in dem historische Akkuratesse einerseits, politisches, waches Gespür an­dererseits und eine packende Handlung zudem noch eine raffinierte Symbiose eingehen, liegt in dem Werk vor, das ich euch heute als Leseempfehlung ans Herz legen möchte.

Gerade in Zeiten, in denen Staaten den Austritt aus Staatenbünden propagieren (schauen wir uns das Beispiel Schottland an oder auch das Beispiel Großbritan­nien), da erhält der im Buch geschilderte Separatismus Quebecs einiges an Plausibilität. Und der Rekurs auf uralte Verträge, um nationalstaatliche Allein­gänge zu sanktionieren, war immer schon ein probates Mittel… einmal, um Kriege anzuzetteln (wie es Slobodan Milosevic für Serbien im späten 20. Jahr­hundert getan hat) oder um die Autonomie zu erklären.

Unpolitisch ist das vorliegende Werk also gewiss nicht, sondern es regt sehr zum Nachdenken an. Außerdem ist es ein packender, geschickt geschriebener Thriller. Folgt mir zunächst ins Jahr 1914 und dann in die kontrafaktische Gegen­wart des Romanjahrs 1989:

Um Haaresbreite

(OT: Night Probe)

Von Clive Cussler

Goldmann 9555

April 1990 (ursprünglich 1981 erschienen)

400 Seiten, TB

ISBN 3-442-09555-7

Aus dem Amerikanischen von Helmut Kossodo

Geheimdiplomatie ist von Nachteil. Wer sich mit dem politischen Tagesgeschäft auskennt und überdies ein wenig mit der Historie, dem ist bekannt, dass Ge­heimdiplomatie immer schon ein heimtückisches Geschäft war und unendlich viel Leiden ausgelöst hat, wann immer sie letzten Endes tagesmächtig wirksam wurde. Man muss hier nicht auf das Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes verweisen, um das zu begreifen.

Dieses Buch hier legt ebenfalls Zeugnis davon ab.

Man schreibt den 28. Mai 1914, als die Weltgeschichte auf spektakuläre Weise entgleist, und fast würde dieses doppelte Desaster, der „Tag des Todes“ spurlos in den Annalen der Geschichte untergehen. Die Welt am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist eine Zeit voller verwitternder Imperien, verschuldeter Nationen und wilder, hochfliegender Pläne. Einer davon würde das Antlitz der Welt ver­ändern. Ausgehandelt wird er von dem Briten Harvey Shields und seinem politi­schen Gegenpart auf amerikanischer Seite, Richard Essex. Während Shields per Schiff unterwegs ist nach London, sitzt Essex bequem in dem Prachtzug Man­hattan Limited und ist auf dem Weg nach New York. Doch in dieser stürmischen Nacht kommt der Manhattan Limited nicht ans Ziel. Die Brücke über den Hud­son stürzt ein, und alle hundert Insassen fahren geradewegs in den Tod.

Zeitgleich wird das Schiff, das Harvey Shields sicher nach England transportieren sollte, während eines Verkehrsunfalls im dichten Nebel gerammt und geht un­ter. Der geheime Vertrag kommt niemals in London an. Präsident Woodrow Wil­son beschließt daraufhin, alle Ausarbeitungen, die dazu angefertigt wurden, vernichten zu lassen. Alle Spuren werden vertuscht.

Im Februar 1989, der Handlungszeit dieses Romans – also nach der Abfassung klar acht Jahre in der Zukunft spielend, erschüttern politische Unruhen Kanada. Charles Sarveux, der Premierminister Kanadas, hat Schwierigkeiten mit einer separatistischen Strömung, die den französisch sprechenden Teil Kanadas, die Provinz Quebec, abspalten und an Frankreich angliedern will. Es scheint nach zwei gescheiterten Referenden inzwischen soweit zu sein, dass man das nicht mehr verhindern kann. Auch sein Stellvertreter Henri Villon sympathisiert mit den Separatisten von der Free Quebec Society (FQS), die allgemein als Terroris­ten angesehen werden und denen jedes Mittel Recht zu sein scheint, um die Loslösung aus dem Commonwealth zu betreiben.

Zu dumm, dass auch Sarveux schöne Ehefrau Danielle mit diesen Zielen durch­aus sympathisiert. Und als dann auch noch die USA durch das kanadische Ener­gieversorgungsprojekt „James Bay“ gewissermaßen erpressbar gemacht wer­den, sieht die Lage höchst angespannt aus.

In dieser Situation wird durch einen angeheuerten Killer namens Foss Gly ein Mordanschlag auf den Premierminister verübt, den Sarveux aber ganz knapp überlebt. Die Dinge im Norden stehen also definitiv nicht gut. Aber das ist noch lange nicht alles.

Der neue Sicherheitsberater des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Alan Mercier, stolpert derweil über ein offensichtliches Geheimprojekt, das er als Geldvergeudung ansieht – das Projekt „Kriechwanze“, das mehrere hundert Mil­lionen Dollar verschlungen hat. Die Spuren führen zur National Underwater and Marine Agency, der NUMA, unter Admiral James Sandecker. Merciers Nachboh­ren führt dazu, dass hier der Zeitplan beschleunigt wird – doch das nützt nur wenig, weil das Experimental-U-Boot „Kriechwanze“ mit seinem Kommandan­ten Dirk Pitt beinahe versehentlich torpediert und versenkt wird… vor kanadi­schen Gewässern. Hier macht Pitt allerdings eine phantastische Entdeckung, die nur leider, leider auf dem Gebiet von Quebec liegt.

Ebenfalls parallel recherchiert Korvettenkapitän Heidi Milligan – aus dem Vor­läuferroman „Der Todesflug der Cargo 03“ als Nebenperson bekannt! – in Prin­ceton für ihre Doktorarbeit über die Marineangelegenheiten während der Präsi­dentschaftszeit von Woodrow Wilson. Hierbei stößt sie auf einen rätselhaften Begriff, den „Nordamerikanischen Vertrag“, von dem sie noch nie gehört hat. Aber in den amerikanischen Archiven kommt sie bei den Recherchen nach die­sem Begriff nicht weiter. So kontaktiert sie Bekannte in der britischen Botschaft, die dieses unverfängliche Thema dann nach London zu Recherchezwecken wei­terleiten… und völlig unerwartet in ein grässliches Hornissennest stechen.

Man merke: Geheimdiplomatie wird auch nach 75 Jahren nicht zu einen stump­fen Messer oder sonst wie irrelevant, sondern gleich einem hochpotenten Gift wirkt so etwas auch über Jahrzehnte oder manchmal fast über ein Jahrhundert oder zwei hinweg.

Der britische Geheimdienst sieht sich jedenfalls auf einmal genötigt, einen alten Agenten namens Brian Shaw zu reaktivieren und ihn kurzerhand auf Heidi Milli­gan anzusetzen. Ziel: Herauszufinden, was sie über den Nordamerikanischen Vertrag weiß. Der betagte Shaw, ein höchst talentierter und auch liebestech­nisch selbst im hohen Alter äußerst leidenschaftlicher Mann, erledigt den Job mit Bravour… allerdings muss er entdecken, dass Heidi zwischenzeitlich mit ei­ner weiteren Person Kontakt aufgenommen hat, nämlich mit Dirk Pitt von der NUMA.

In Kanada stirbt derweil der greise Leiter der FQS eines offenbar natürlichen To­des. Foss Gly als Attentäter und Killer wird hier immer deutlicher als ernsthafte Bedrohung sichtbar, ein Mann, der skrupellos über Leichen geht und ständig Aussehen und Mordmethoden ändert. Und als Dirk Pitt schließlich im präsidia­len Auftrag auf die Suche nach dem untergegangenen Manhattan Limited einer­seits und nach dem Wrack der „Empress of Ireland“ andererseits geschickt wird, stehen Foss Gly und Brian Shaw schon Gewehr bei Fuß, um zu verhindern, dass Pitt auch nur eines der beiden Exemplare bekommt.

Dass sie es schließlich aber auch noch mit einem leibhaftigen Geisterzug zu tun bekommen und einem spurlos verschwundenen Räuber aus dem Anfang des Jahrhunderts, das liegt nicht so ohne weiteres auf der Hand…

Mit „Um Haaresbreite“ liegt erneut ein Roman aus der Frühphase der Dirk Pitt-Abenteuer vor. Vieles, was aus späteren Büchern vertraut ist, fehlt hier noch und ist nicht einmal angelegt. Es seien nur genannt der Supercomputer „Max“ in der NUMA-Zentrale, der Historiker Julien Perlmutter, der später wichtige Parts der Recherche übernimmt, und auch hier werden munter die Frauen vor­nehmlich promiskuitiv beschrieben – hier Danielle Sarveux und Heidi Milligan. Man spürt als erfahrener Cussler-Leser, dass der Autor das passende „Rezept“ seiner Geschichten noch nicht gefunden hatte, und das wirkt bei der Zweitlek­türe – bei mir lag sie gut 25 Jahre nach der Erstlektüre – durchaus erfrischend, weil man nicht wirklich sagen kann, wie sich die Storyline entwickelt. Ich hatte vieles von der Handlungsstruktur gründlich vergessen und konnte in den drei Lesetagen auf spannende Weise meine Erinnerung auffrischen.

Das Fazit des Romans fällt darum positiv aus. Zum einen wird – mit Erfolg – ver­sucht, ein minimales historisches Kontinuum zwischen dem Roman „Der Todes­flug der Cargo 03“ und dem vorliegenden Roman herzustellen versucht (was übrigens anschließend in „Tiefsee“ meiner Erinnerung zufolge noch fortgesetzt wird). Zum zweiten fällt die Fülle von moralisch völlig indifferenten und darum schwer einzuschätzenden Personen auf – das Ehepaar Sarveux, Villon, Heidi Milligan und Shaw seien hier genannt, man kann auch den amerikanischen Prä­sidenten ins Boot holen. Das macht die Geschichte schwer kalkulierbar und er­höht den Reiz des genauen Lesens.

Vollends heimtückisch ist dann aber das Titelbild, das wunderbar zum Roman passt und doch so überhaupt gar nicht… wer diesen Widerspruch auflösen möchte, muss das Buch lesen, es ist sehr interessant. Und dann ist da natürlich dieser faszinierende britische Agent, der „heute“ Brian Shaw heißt und angeb­lich „in Westindien“ vor 25 Jahren gestorben sein soll, weil er damals zu be­kannt und berühmt für die Gegenseite war. Ich persönlich halte „Westindien“ für einen Übersetzungsfehler und nehme eher an, es waren „the Westindies“ gemeint, also die westindischen Inseln, d. h. die Karibik. Man vergleiche außer­dem mal die Buchstabenanzahl des Namens Brian Shaw mit einem Agentenna­men, den Dirk Pitt in diesem Buch erwähnt, nämlich „James Bond“. Da gibt es diesen köstlichen Dialog zwischen Pitt und Shaw, den ich noch kurz ansatzweise zitieren möchte:

James Bond wäre stolz auf Sie gewesen.“

Bond?“

Ja. Sie sollen ihm sehr nahe gestanden haben.“

Shaw seufzte müde. „Den gibt’s nur in Romanen.“

Tatsächlich?“

Wenn man dann noch weiß, dass sich Ian Fleming während eines Aufenthaltes in der Karibik (!) von einem Buch eines Ornithologen namens James Bond zur Namensgebung seines Agenten inspirieren ließ, und wenn man sich dann Shaws raffinierte Vorgehensweise und vor allen Dingen seinen Erfolg bei Frauen ansieht, seine Vorliebe für alte Automobile und dergleichen, dann muss man wirklich blind sein, um nicht zu begreifen, vor wem sich Clive Cussler hier ver­beugt hat… und die Hommage ist beeindruckend ausgefallen. Fleming wäre stolz auf ihn, nehme ich an.

Ja, das ist eindeutig einer der soliden, gut lesbaren Cussler-Romane, der auch nach der langen Zeit und als „Wiederholungstat“ einfach gute Laune verbreitet und sich lohnt.

Klare Leseempfehlung.

© by Uwe Lammers, 2015

Ja, ihr spürt, dass ich den Roman genossen habe, nicht wahr? Warum sollte ich das leugnen? Und da wir uns hier in einem Blog befinden, in dem das Prinzip gilt, dass immer auch ein Kontrastprogramm gebracht wird, schicke ich euch kom­mende Woche auf eine grässliche Achterbahnfahrt durch die russischen Wei­ten.

Was das genau bedeutet? Ach, lasst euch da einfach mal überraschen. Ich freue mich auf euren nächsten Besuch hier.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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