Wochen-Blog 233: 75 Fragmente… und was die Folge war

Posted August 20th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ihr wisst als langjährige „Follower“ meines Blogs, dass die kreative Welt eines Autors nicht nur aus fertigen Geschichten besteht, ganz besonders nicht die meine. Während viele Schriftsteller aber aus den noch nicht vollendeten Wer­ken gern ein Geheimnis machen und nicht mal die Titel der Fragmente nennen mögen, geschweige denn ihre Zahl, ist das bei mir immer schon anders gewe­sen. Ich kämpfe, wenn man diesen draufgängerischen Terminus verwenden mag, „mit offenem Visier“.

Ihr habt ebenfalls Kenntnis von zahlreichen meiner Fragmente. Jeden Monat tauchen in der Übersichtsrubrik „Work in Progress“ regelmäßig solche einge­klammerten Werke auf, an denen ich mal mehr, mal weniger intensiv weiterge­arbeitet habe. Inzwischen hat die Menge an Fragmenten, das gebe ich ehrlich zu, die Summe von mehr als 300 überschritten. Dazu zähle ich allerdings auch solche OSM-Episoden, die ich abschreibe und kommentiere, wonach sie aus dieser Liste wieder entschwinden.

Ihr merkt daran – die Liste ist nicht endlos, und sie wuchert auch nicht ins Un­begrenzte, es gibt durchaus ein Licht am Ende des Tunnels. Aber in Zeiten wie den gegenwärtigen, wo mir sehr wenig Zeit zum kreativen Arbeiten bleibt, ros­tet allerlei auf üble Weise ein. Das gilt auch für den Bereich der Fragmente. Um das verständlicher zu machen, sei etwas ausgeholt:

Daheim in meiner Schreibklause gibt es für die Fragmente im Wesentlichen drei große „Schubladen“, sag ich mal, auch wenn der Terminus unpassend ist, wie ihr gleich sehen werdet. Ich untergliedere die Fragmente in solche, die dem Ar­chipel zugehörig sind, in solche, die OSM-Ideen ausbrüten und solche, die an­derweitig entstanden sind. Letztere umfassen mehr oder minder phantastische Ideen, aber eben auch Fragmente historischer Aufsätze, von denen viele schlummern.

Die OSM-Fragmente werden in grauen Ordnern untergebracht (wie alle OSM-Werke grundsätzlich in graue Ordner einsortiert sind), die Archipel-Fragmente ruhen in roten Ordnern (der gesamte Archipel-Kosmos ist rot gewandet, er füllt ein ganzes Regal bei mir und wuchert schon etwas darüber hinaus), die sonstigen Fragmente lagern in blauen Ordnern.

Nun kam jüngst der Tag, da ich die Archipel-Fragmentordner wieder einmal durchsah und mit einiger Frustration feststellte, dass die Vorsatzblätter nicht völlig aktuell waren – einige dort verzeichnete Geschichten fanden sich in Wahrheit in anderen Ordnern. Solche „Baustellen“ zu entdecken, das nervt mich immer wieder. Wie soll man mit unvollkommenen Ordnungsunterlagen ar­beiten? Da sind ja Folgefehler unvermeidlich, und am Ende regiert das Chaos. Nee, dachte ich mir also, das muss ich ändern!

Die Verzeichnisse der vorliegenden fünf Archipel-Fragmentordner zu aktualisie­ren, erwies sich als gar nicht mal schwierig. Als ich dann aber daran ging, die Geschichten passend in die Ordner abzuheften, trat das nächste Problem zuta­ge (ist immer so: hat man ein Problem gelöst, findet man das nächste Schlupf­loch des Chaos… muss wohl ein Naturgesetz sein).

Worum ging es?

Um die Aktualität der Ausdrucke.

Ich sah mir einige davon an und entdeckte die handschriftlichen Vermerke „Ak­tualisieren!“, die auf manchen davon standen. Das zeigte mir zumindest, dass mir aufgefallen war, wo Handlungsbedarf bestand. Und eine flüchtige Lektüre zeigte immer deutlicher, wie wichtig das war: Da gab es nicht korrigierte Schreibfehler. Da waren zu breite Ränder (die auf Ausdrucke hinwiesen, die schon über 10 Jahre alt waren). Und dass das „ß“ in vielen Dokumenten noch nicht an die aktuelle Rechtschreibung angepasst war, das schmeckte mir selbstverständlich auch nicht.

Okay, dachte ich finster, dann muss ich wohl in den sauren Apfel beißen. Auf ans Durchsehen, Korrekturlesen, Neuausdrucken. Mir war klar, dass das nicht eine Frage von wenigen Stunden sein würde. Nicht bei fünf Aktenordnern Frag­mente!

Ich zählte anhand der aktualisierten Vorsatzblätter und stöhnte: „75 Fragmente! Das ist doch jetzt nicht mein Ernst! Das glaube ich nicht!“

Nun, aber es waren halt 75 Fragmente… okay, darunter befanden sich auch sol­che Geschichten wie „Die neue Strafe“, „Abenteuer im Archipel“, „Rhondas Aufstieg“, „Verlorene Herzen“ und ähnliche, wo ich eigens vermerkt hatte, dass sie eigenständige Romane waren und eigene Ordner besäßen. Diese Dinge konnte ich also ausklammern, das würde ich mir später vornehmen. Im Fall von „Die neue Strafe“ hatte ich ohnehin schon vor Monaten einen kompletten Neuausdruck gemacht, da gab es also keinen akuten Handlungsbedarf… aber für die Majorität der Fragmente sah das leider anders aus.

Leider oder… nun ja… vielleicht auch zum Glück.

Glück war, dass ich gerade ein paar Tage seltenen Urlaub hatte. Ein langes, ent­spanntes Wochenende lag hinter mir, und ich spürte sowieso den Drang, zu schreiben. Und ihr wisst seit dem Blogartikel 224, dass ich in Richtung des Ar­chipels driftete. Das war also genau die richtige Zielrichtung, ein wenig wie eine abschüssige Straße für einen erschöpften Radfahrer, der Kräfte sparen und sich treiben lassen kann.

Es konnte also nicht wirklich überraschen, was passierte. Es verdutzte mich aber durch seine Intensität dennoch.

Nachdem ich schon das Fragment der Story „Tengoor und Malisia“ binnen ei­nes Tages von 5 auf 19 Seiten erweitert und dann ausgedruckt hatte, ging es mir mit dem Folgefragment „Wandlungen“ noch sehr viel heftiger.

Das Fragment stammt vom 29. Juli 2003, ist mithin also mehr als 14 Jahre alt. Und der Ausdruck war erst alt! Er stammte aus dem Jahre 2004 und umfasste 4 Seiten. Unspektakulär? Auf den ersten Blick: ja. Mein Blick in die digitalen Dateien zeigte mir allerdings, dass das Fragment dort inzwischen 7 Seiten um­fasste, also fast doppelt so lang war. Klarer Aspirant für einen Neuausdruck.

Ich ging die Story also an und wollte an und für sich nur ein wenig nachfeilen… und dann blieb ich daran kleben. Das hatte nichts mit dem Honig zu tun, wirk­lich nicht… also… na ja, vielleicht doch. Denn damit ging eigentlich alles los. Aber damit ihr das versteht, braucht ihr einen kleinen Crashkurs, worum es in der Geschichte geht. Dann könnt ihr wahrscheinlich nachvollziehen, warum ich daran auf einmal so festhing:

Es handelt sich um eine Story, die in der Frühzeit der Archipelmetropole Asmaar-Len spielt, spätestens 835 oder 836 (das ist noch nicht völlig geklärt). Das ist kurz nach der Handlungszeit des Romans „Antaganashs Abenteuer“, von dem, als dieses Fragment entstand, noch nicht mal ein Zipfel zu sehen war. Asmaar-Len ist zu dieser Zeit nicht viel mehr als eine zusammengewürfelte Ansiedlung von Gebäuden in dichtem Urwald an der Küste der Insel Coorin-Yaan, und die Adeligen, die vom fernen Südkontinent hierher geflohen sind und sich eine neue Heimstatt aufbauen, haben jede Menge Probleme.

Problem 1: Das tropische Klima, das den meisten von ihnen auf den Kreislauf schlägt, etwa der Adeligen Carin aus dem Aylaarin-Clan, mit dem die Geschichte anfängt.

Problem 2: Die hier lebenden Archipel-Insulaner huldigen einer Liebesreligion, in der ihre Göttin Neeli und der Sonnengott Laraykos im Zentrum stehen. Und fleischliche Vereinigung zu jeder nur denkbaren Tages- und Nachtzeit ist ihre Vorstellung von Gottesdienst. Weswegen die Majorität der Exilanten sie wenigs­tens als unzüchtige Zeitgenossen einstuft, die zügellosen Mädchen sogar unver­blümt als „natürliche Huren“.

Daraus folgt Problem 3, das direkt in die Geschichte führt: Die kleine Aylaarin-Familie beschäftigt eine Haussklavin namens Solange und seit jüngstem auch einen Gärtner, der Büsche roden und Beete anlegen soll. Als die Hausherrin Carin die beiden in der Vorratskammer dabei ertappt, wie sie pikante erotische Spiele treiben, in die sie ungehörigerweise Honig einbeziehen, reißt ihr der Ge­duldsfaden.

Wenig später ist Solange nackt gefesselt in einer verschlossenen Kammer und soll darauf warten, bis der Hausherr heimkehrt, um sie entsprechend zu be­strafen… dummerweise hat Carins Gatte absolutes Verständnis für Solanges Fri­volität… so etwas läge diesen Mädchen einfach im Blute, er könne sie nicht gu­ten Herzens bestrafen. Auf der einen Seite. Auf der anderen kann er seine Gat­tin aber auch nicht völlig enttäuschen, und man muss ja auch an den eigenen Ruf denken…

Vertrackte Zwickmühle? Natürlich. Aber es gab eine Lösung, die mir während der Überarbeitung des Fragments spontan auffiel. Denn da war auch noch die Haustochter Fiona, die sich nun ihrerseits bereit erklärte, die „unverschämte Sklavin“ zu maßregeln.

Die Eltern nahmen das mit Überraschung, aber auch mit Erleichterung zur Kenntnis… nun, sie hätten sich nicht so früh freuen sollen, dachte ich mir, wäh­rend ich diesen Teil weiter ausarbeitete und aus wenigen Skriptzeilen eine Seite nach der nächsten wucherte. Denn Fiona hatte durchaus ihre eigenen Pläne mit Solange, und da sie sich nun mit ihr im Bestrafungszimmer einschließen konnte und Solange gefesselt war, konnte sie ihre Neugierde nun in jederlei Weise be­friedigen, die ihr durch den Sinn ging.

Rasch musste sie allerdings feststellen, dass die Situation deutlich anders war, als sie sich das gedacht hatte. Statt dass Solange inzwischen vor Furcht und Za­gen verging und um Gnade bettelte, schien sie sich in ihren Fesseln durchaus behaglich zu fühlen, sehr zu Fionas Verständnislosigkeit. Sie versuchte, sich das irgendwie rational zu erklären – und es schien eins auf der Hand zu liegen: ihr Vater Ranshoy hatte Solange in einem Dorf an der Nordküste Coorin-Yaans als Sklavin erworben. Bestimmt war sie in ihrem Heimatdorf schon auf ähnliche Weise gefesselt und dann gezüchtigt worden, und sicherlich war das der Grund, weshalb sie überhaupt in die Sklaverei verkauft worden war.

Nein, völlig falsch, widersprach Solange vergnügt. Ganz verkehrt.

Das mit der Fesselung stimmte schon, aber sie verband damit ganz andere, un­geheuerliche und sehr erregende Erinnerungen. Und sie besaß außerdem eine verwirrende mythologische Erklärung, warum Fesselungen für Sklavinnen kein Grund zum Schrecken seien… jedenfalls nicht für jene, die treue und gläubige Anhängerinnen der Göttin Neeli und ihrer Tochter Shareena seien.

Schlimmer noch: Solange konnte überzeugend nachweisen, dass Fionas Klug­heit ganz nutzlos war, sofern es ihr nicht gelänge, ihren eigenen Körper und sei­ne Reaktionen zu verstehen. Von Orgasmen hatte Fiona jedenfalls noch keine Kenntnis… und so wurde atemberaubend schnell die Situation gründlich verän­dert. Und (der Teil ist noch nicht ausgearbeitet) so erweist sich Solange letzten Endes als Lehrmeisterin der Adelstochter, und sie bewirkt durch die Macht ihrer Worte und ihres Körpers eine fundamentale seelische Wandlung Fionas, die man durchaus als eine Art erotisches Erweckungserlebnis bezeichnen könnte…

Es war schon dunkel, als ich endlich die rauchenden Finger von der Tastatur nehmen konnte. Ich lächelte breit und dachte mir: Ja, da sieht man mal wieder, wie gut es sein kann, Fragmente ein paar Jahre liegen zu lassen und zwischen­zeitlich jede Menge Bücher zu lesen. Nicht zuletzt die Tatsache, dass ich etwa „Shades of Grey“ und zahlreiche andere romantische BDSM-Romane verschlun­gen hatte, wirkte hier deutlich nach. Vieles, was dort über die mentale Wand­lung von Frauen im Dunstkreis sadomasochistischer Gedanken und im Rahmen der dominant-devoten Beziehung geschrieben wurde, half mir deutlich, die oh­nehin im Archipel schon dergestalt angelegten Strukturen weiter auszuarbeiten.

Denn machen wir uns nichts vor – die Legende der Neeli-Tochter und ihrer Mo­nate auf der Archipel-Insel Nor’bu’shonya, wo sie als gedemütigte Sklavin lebt und ihren Ruf als stolze Schutzherrin der Sklavinnen erwirbt (was ich schon 2003 in der Story „Geboren aus der Brandung“ – bisher unveröffentlicht – er­wähnt hatte), das ist ganz zentral eine BDSM-Geschichte. Das ist wohl der zentrale Grund, warum ich sie noch nicht schreiben konnte. Mangelnde Fach­kenntnis… aber wahrscheinlich ändert sich das in der näheren Zukunft.

Als es also Abend wurde, war das Fragment von dem vormals 4seitigen Aus­druck nicht auf 7 Seiten angewachsen, wie ich das ursprünglich intendiert hat­te… jetzt umfasste es vielmehr 25 (!) einzeilige Seiten, und ich hätte durchaus noch weiterschreiben können.

Wow, dachte ich mir – das nennt man mal kreativen Überdruck. Hervorragend! Und ich genoss das wunderbare Gefühl, jedes Gespür für die verflossene Zeit vergessen zu haben. Zwischendrin war – mal wieder – das Teelicht unter der Teekanne erloschen, die CD war an ihr Ende gelangt, das Tageslicht geschwun­den… es kümmerte mich alles nicht. Ich war weg, fortgespült im Schreib-Flow, und das war das verdammt Beste, was mir passieren konnte.

Ihr könnt davon ausgehen, dass das ganz unbezweifelbar noch öfter geschehen wird, wenn ich andere Archipel-Fragmente nachbearbeite. 75 Fragmente klingt also auf den ersten Blick nach einer geradezu erdrückenden Last… aber das sehe ich differenzierter. Es ist mehr eine Art von Kartenblatt, ein Karussell der Möglichkeiten, die sich so aufreizend präsentieren und mich verlocken, den einen oder anderen Pfad favorisiert zu verfolgen.

Gewiss, die Qual der Wahl bleibt bestehen, und es ist absolut wahrscheinlich, dass mich diese Fragmente zu weiteren Werken aufstacheln werden. Doch bin ich zuversichtlich, was die Inspirationskraft dieser Geschichten angeht – sobald ich mehr Schreibzeit besitze, werden einige dieser Werke, und nicht nur die kür­zeren davon, abgeschlossen werden können. Und der Horizont wird sich wieder weiten, sobald die Menge an Fragmenten entsprechend ausgedünnt ist. Ich be­trachte Fragmente nicht nur als Problem, wie es vielleicht eingangs angeklun­gen sein mag, sondern als eine Form von kreativer Reservebank, voll von unbe­kannten Talenten und Handlungslinien… und ja, beizeiten plaudere ich gern wieder wie aus dem heutigen Anlass aus dem kreativen Nähkästchen.

Ach, die verständliche Frage, die sich euch jetzt aufdrängt, wann wohl „Wand­lungen“ fertig sein und, vielleicht noch zentraler, wann ihr sie lesen könnt, die kann ich leider nicht beantworten. Als Prophet tauge ich nicht, schon gar nicht hinsichtlich meiner flatterhaften kreativen Ader. Aber seid versichert, sobald die Geschichte beendet ist, werdet ihr darüber in den „Work in Progress“-Artikeln natürlich informiert. Und zweifelsohne auch, sobald ich mich dazu entschließe, die Story ans Licht der Öffentlichkeit zu hieven.

Ansonsten lasst euch einfach mal überraschen.

In der kommenden Woche erzähle ich euch, was im leider kreativ recht ereig­nisarmen Monat Mai dennoch das Licht der Welt erblicken konnte.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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