Liebe Freunde des OSM,
kommt ihr euch auch manchmal vor wie ein einsamer Rufer in der Wüste, den niemand vernimmt? Nun, mir geht das gelegentlich schon so. Insbesondere, wenn es um dieses Herzensprojekt geht, in das ich leider gegenwärtig viel zu wenig Energie stecke, weil mich das Leben anderweitig so beansprucht, dass ich – und das hat jetzt nicht allein mit dem drückend-schwülen Wetter zu tun, das ich nicht gut vertrage – ständig auf anderen Baustellen unterwegs bin. Krisenmanagement könnte man das hochtrabend nennen. Wir brauchen an dieser Stelle nicht zu wiederholen, dass jenseits dieser persönlichen Baustellen die Welt insgesamt ziemlich am Rad dreht und jede Menge Fehllenkung nicht nur in monetärer Hinsicht geschieht. Dazu braucht man sich nur die Nachrichten anzuschauen oder anzuhören.
Gelegentlich also habe ich das dumme Gefühl, ein einsamer Rufer in der Wüste zu sein, weil die ganze Welt anderswo hinschaut und dieses Problem der Autorennachlässe vollkommen ausblendet … nun, aber dann gibt es Nachrichten wie diese, die ich kürzlich im Internet fand. Die seriöse Webseite des digitalen Börsenblatts des deutschen Buchhandels brachte einen Artikel des österreichischen STANDARD vom 8. Juli 2025, und darin diskutierte die Autorin Helen Slancar den aktuellen Fall Joan Didion.
Ich war schlagartig hellwach.
Gut, eingestanden sei an dieser Stelle, dass ich Joan Didion nur dem Namen nach kenne und meiner Erinnerung zufolge nichts von ihr gelesen habe. Doch darum geht es nicht. Die US-Autorin ist 2021 gestorben, und in der Meldung ging es um die posthume Veröffentlichung nachgelassener Schriften, insbesondere des Werks „Zeilen für John“.
Slancar schrieb: „Der Tod eines Autors – nicht bloß ein literaturtheoretisches Konzept, sondern auch ein Umstand, der vor allem eine Frage aufwirft: Was geschieht mit unvollendeten Werken, den Aufzeichnungen und den Ideen, wenn unsere liebsten KünstlerInnen nicht mehr sind?“
Kommt euch diese Frage auch enorm vertraut vor? Seht ihr, dann geht es euch genau wie mir. Ich las also weiter, da das ja ganz genau den Kern des von mir in dieser Artikelreihe mit Recht aufgeworfenen Gedankens trifft.
Sie schweifte dann ein wenig exemplarisch ab und schockierte mich etwas, als sie etwa vom Fall Terry Pratchett erzählte. Ich wusste Folgendes etwa noch nicht: „Zehn unvollendete Romane befanden sich auf der Festplatte des britischen Fantasy-Autors Terry Pratchett, als sie von einer Dampfwalze überrollt wurde: Kein noch so kleines literarisches Überbleibsel sollte je an die Öffentlichkeit gelangen.“
Das fand ich – ganz wie sie – schon etwas drastisch. Dann kommt sie zum Fall Franz Kafka, den ich auch ganz gern als Beispiel für literarisches Nachleben erwähne. Ein Kommentar des Artikels stellte indes ergänzend sinngemäß klar, dass der Nachlassverwalter Max Brod durchaus nicht, wie ich es auch immer annahm, „Verrat“ an Kafka begangen habe, als er seine Anweisung, seine Schriften zu verbrennen, missachtete. Korrekt sei vielmehr, dass er gar nicht berechtigt dazu war, weil das Eigentum an den Schriften mit dem Ableben des Autors an Kafkas Verwandte übergegangen war. Er hätte diese Handlungsanweisung also gar nicht umsetzen dürfen.
Das fand ich doch sehr erhellend.
Slancar thematisiert eine weitere Problematik, die damit ursächlich in Zusammenhang steht und die uns zweifellos langfristig auch beschäftigen wird: „Das moralische Dilemma [der Veröffentlichung nachgelassener Schriften, UL] verdichtet sich heute in der Frage nach dem Profit: Oft wird mit einem Vorteil für die Nachwelt argumentiert.“
Etwa dergestalt, dass Tagebücher oder sonstige Aufzeichnungen erhellende Informationen auf die Entstehungsprozesse der Werke und das Leben liefern. Da sehe ich als archivgeschulter Historiker eine definitive Parallele zu Akteneditionen, die meist Jahrzehnte nach historischen Geschehnissen die ganzen Hintergründe von politischen Entscheidungen transparent machen und, beispielsweise, auch verklärende oder verzerrende Memoirenliteratur wieder relativieren.
Diese Dimension war für mich immer schon sehr schlüssig, das gilt natürlich auch für Autorennachlässe. Denn wie ich schon wiederholt schrieb: Um die veröffentlichten Werke kümmern sich die Verlage, die Literatur-Agenturen und im letztendlichen Fall die Deutsche Nationalbibliothek (DNB).
Für die meisten oben gemeinten Texte gilt das nicht. Was wäre, beispielsweise, mit dem Großteil meiner unveröffentlichten Werke (schaut euch mal die OSM-Wiki an und versucht mal zu zählen, wie oft hinter den Einträgen „nicht publiziert“ steht … da bekommt ihr aber graue Haare). Ganze Serien und Universen sind hier noch nicht publiziert. Und vieles von meinen Kreativkladden, Notizen, Skizzen und Entwürfen, Listen, Kalendern und dergleichen wird, in Kombination mit den Werken, erst einen umfassenden Blick auf die Entstehungsprozesse ermöglichen. Flankiert von meinem umfangreichen Brief-Oeuvre. Das, ich brauche es nicht zu betonen, natürlich auch unveröffentlicht ist.
Doch kommen wir auf den Slancar-Artikel zurück. Natürlich gibt es neben euphorischen Stimmen, die solche posthumen Veröffentlichungen ausdrücklich positiv konnotieren, auch kritische Stimmen, die das für unmoralisch halten. Und dann wieder Stimmen, die dagegen argumentieren.
Zu letzteren gehört Didions Biografin Tracy Daugherty, die in dem Artikel auch indirekt zu Wort kommt. Ich zitiere noch einmal aus dem sehr lesenswerten Beitrag: „Die Autorin sei nicht naiv gewesen: Dass sie die Aufzeichnungen [Zeilen für John, UL] nicht selbst vernichtet habe, deute darauf hin, dass sie mit deren Publikation gerechnet habe.“
Slancar ergänzt allerdings nachdenklich: „Wie urteilsfähig Didion war, die an Parkinson litt, scheint Daugherty in ihre Rechnung nicht einzubeziehen.“
Wir sehen: Der Fall ist alles andere als simpel. Und zum Schluss schlägt die Verfasserin eine Brücke zur Autorin Didion selbst. Slancar merkt an: „Tatsächlich hat Joan Didion der Nachwelt vieles, aber keine Anleitung vermacht, wie mit ihrem Nachlass umzugehen sei. Einen Hinweis könnte ihr Artikel in der New York Times aus dem Jahr 1998 geben. Darin schreibt sie über Ernest Hemingways Werke, die Jahre nach seinem Suizid veröffentlicht wurden. Der Diskurs scheint bis dato unverändert: Auch Didion kreist gedanklich um die moralische Thematik einer Veröffentlichung ohne Erlaubnis seiner Verfasserin. Auch sie stellt kapitalistische Motiv einem Wert für die LeserInnenschaft gegenüber. Auch sie erwähnt Kafka. Eines jedoch legt sie mit auf die Waage: Schreiben sei Arbeit, Schreiben sei Kunst. Indem man Unvollendetes nach dem Tod einer Autorin bearbeite, spreche man ihr ein lebenslang erarbeitete Handwerk ab.“
Diesen letzten Punkt sehe ich durchaus anders. Ich stehe eher auf dem Standpunkt, dass man als Autor, der aus nachgelassenen Fragmenten eines verstorbenen Verfassers vollständige Werke erschafft, damit in gewisser Weise eine Form der persönlichen Wertschätzung gegenüber den ins Unreine formulierten Ideen und Fragmenten offenbart. Eine Abschwächung der literarischen Präsenz der Verstorbenen sehe ich darin eher nicht.
Gleichwohl: Ihr versteht, warum mich der oben in Auszügen wiedergegebene Artikel so sehr elektrisierte. Und er zeigte mir, dass die anfängliche Vermutung, die ja für einige Unsicherheit sorgen könnte, gottlob durchaus nicht zutrifft.
Der Literaturbetrieb nimmt durchaus Kenntnis vom Ableben von Autoren und davon, dass sie Schriften hinterlassen, die später erst ans Tageslicht befördert werden. Man denke in diesem Zusammenhang auch aktuell an den Fall von Sebastian Haffner – hätte dieser Jahrzehnte vor seinem Ableben geschriebene Roman, der jetzt Furore macht, im Kamin landen sollen oder, sinnbildlich, unter der Dampfwalze? Ich denke nicht.
Die Frage, ob man mit diesen Veröffentlichungen den Willen der Verfasser einen Gefallen tut oder ob dies nicht eher moralisch verwerflich wäre und reiner ökonomischer Gier geschuldet ist, kann auf diese Weise natürlich nicht beantwortet werden. Schätzungsweise würde uns hier nicht mal eine Seance weiterbringen.
Ich kann an dieser Stelle nur erleichternd konstatieren: Das Thema ist äußerst lebendig, und ich werde weiterhin die Augen offen halten nach Beiträgen, die in diese Richtung gehen – und ja, natürlich weiterhin versuchen, die Idee des Autoren-Nachlassarchiv-Projekts mit Leben und Substanz zu füllen. Glücklicherweise fühle ich mich damit nicht alleine. Eine gut befreundete Autorin, mit der ich über dieses Thema rege diskutiere, brachte kürzlich einen weiteren Aspekt dazu ein … aber davon erzähle ich euch beim nächsten Mal.
In der nächsten Woche reisen wir zurück in den Dezember 2024, und ich erzähle euch dann, was ich jenseits der Weihnachtspost noch so kreativ auf die Beine stellen konnte.
Bis bald, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.