Rezensions-Blog 168: Das vielfarbene Land (1)

Posted Juni 13th, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute kommt mal wieder eine Vorstellung einer recht alten Rezension noch we­sentlich älterer Romane. Ich las den „Pliozän-Zyklus“ von Julian May, dessen er­ster Band hier besprochen wird, erstmals 1988, dann wieder 2001 (aus diesem Jahr stammt die vorliegende Rezension), und manches, was ich unten gegen Schluss sage, ist leider bis heute ein Desiderat. So wurde etwa der „Milieu-Zy­klus“, die dreibändige Vorgeschichte des „Pliozän-Zyklus“, leider bis heute nicht ins Deutsche übertragen. Und leider kann man da auch nicht mehr Wolfgang Jeschke bedrängen, denn inzwischen ist er ebenso von uns gegangen wie da­mals die Übersetzerin Rosemarie Hundertmarck.

Gleichwohl gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass sich vielleicht irgendwer mal dieses Siebenteilers komplett annimmt und ihn neu herausbringt – vielleicht Pi­per. Ich meine, wenn schon alte Schinken wie Robert Heinlein neu aufgelegt werden, könnte man doch erwarten, dass qualitativ hochwertige SF mit kom­plexem, sozialkritischem Hintergrund wie die vorliegenden Romane und der „Milieu-Zyklus“ doch auch mal wieder an die Reihe kommen sollten, oder?

Wer also sowohl Zeitreise- als auch Mutantengeschichten, in die Erstkontaktge­schichten und in gewisser Weise Präastronautik eingewoben sind, schätzen kann, sollte diese Romane unbedingt mal suchen. Die Hundertmarcksche Über­setzung ist brillant, emotional und unglaublich kenntnisreich, sie erinnert mich heutzutage deutlich an die Übersetzungen, die das Ehepaar Linckens etwa bei Connie Willis oder Robert Charles Wilson geleistet hat.

Wer also neugierig geworden ist, der folge mir mal durch das Portal in Frank­reich in die Vergangenheit des irdischen Pliozän, sechs Millionen Jahre vor der Gegenwart. Und wer dort die Urzeit erwartet, der hat wirklich keinen blassen Schimmer – die Vergangenheit ist sehr viel farbenprächtiger und exotischer, als sich je einer der Auswanderer vorgestellt hat…

Vorhang auf:

Das vielfarbene Land

(OT: The Many-Colored Land)

von Julian May

Heyne 4300

512 Seiten, 1986

Übersetzt von Rosemarie Hundertmarck

Wenn man depressiv und beladen ist, in der Welt kein Licht mehr sieht und man allem und jedem den Rücken kehren möchte, dann bricht man in unserer heutigen Welt entweder auf und flüchtet vor allem, was man um sich hat – oder man begeht Suizid.

Im Jahre 2110 gibt es für Menschen, die in diese Situation geraten, aber noch eine andere Möglichkeit, sich aus der Wirklichkeit zu entfernen. Diese Lösung ist ein Besuch auf dem alten Planeten Erde, in der Auberge du Portail der alten Madame Guderian…

Die Menschheit wurde schon im Jahr 2013 in das sogenannte Galaktische Mi­lieu aufgenommen, einen Staatenbund außerirdischer Völker, was zur Folge hat­te, dass die Menschheit sich unter den Sternen zerstreute und extraterrestri­sche Touristen natürlich auch die Erde in immer stärkerer Zahl zu besuchen be­gann.

Zur Handlungszeit ist die Erde ein föderal gegliederter Planet, die ehemaligen Länder haben sich in Bundesstaaten verwandelt, die oberflächlich renaturiert und restauriert sind. Die Menschen selbst, inzwischen mit modernster Technik von den Sternen ausgestattet, leben ein im Vergleich zu früher behagliches Le­ben.

Dennoch gibt es Leute, die sich nicht anpassen können.

Da gibt es Menschen, die unter krasser Xenophobie leiden und Außerirdische – von denen nicht wenige psionisch begabt sind – leidenschaftlich hassen. Da gibt es Personen, die mit der Schönen Neuen Welt nicht klarkommen und sich in eine andere Welt hineinsehnen, in der alles schlichter, „natürlicher“ war. Leute, die unfähig sind, anzuerkennen, dass die Menschheit im Milieu nur bestehen kann, indem sie ihre Vergangenheit festspielartig inszeniert und zu Wächtern der eigenen vergangenen Kultur wird (es gibt z. B. bizarre Mittelalterfestivale).

Schon im Jahre 2034, kurz nach der Öffnung der Welt für das Galaktische Mi­lieu, machte der französische Gelehrte Theo Guderian eine Erfindung, von der er annahm, sie könne die Welt verändern (und auf subtile Weise behielt er so­gar recht, freilich, ohne das bis zu seinem Tod zu ahnen!): er schuf ein Zeittor, das die temporale Distanz von sechs Millionen Jahren in die Erdvergangenheit überbrückte und ins Zeitalter des Pliozän zurückreichte. Aber diese Verbindung war einseitig. Man konnte zwar etwas in die Zeit zurückschicken, doch alles, was man von dort holte, alterte binnen Sekundenbruchteilen um Millionen Jah­re und zerfiel zu Staub.

Eine nutzlose Erfindung.

Die Wissenschaftler des Milieus stellten fest, dass man diese Erfindung offenbar nur hier einsetzen konnte, nirgendwo sonst, weder auf der Erde noch auf ande­ren Welten. Damit erlosch ihr Interesse.

Doch nach Guderians Tod erschienen im Laufe der Jahre nach und nach seltsam gekleidete Menschen, die die Witwe anflehten, sie doch durch das Tor in jene Vergangenheit gehen zu lassen – sie würden sich in dieser Welt ohnehin nur umbringen. Und nach kurzem Zögern kam die Lady diesen Wünschen nach und transferierte die Personen gegen ein hohes Reisegeld ins Pliozän.

Anfangs war dies eine illegale Angelegenheit, die aber im Laufe der Jahre von den Behörden immer stärker kontrolliert und legalisiert wurde. Im Jahre 2110 – Madame selbst war ebenfalls hindurchgegangen – hatten mehr als hunderttau­send Menschen das Tor in die Vergangenheit durchschritten, von wo niemals eine Meldung zurückgekommen war. Um Interferenzen mit der menschlichen Geschichte zu vermeiden und das Leben der Frauen zu schützen, hatten sie sich einem sterilisierenden Eingriff zu unterziehen. Denn selbst wenn sechs Millio­nen Jahre Distanz zur Gegenwart eine lange Zeit waren, wenn die Menschen sich dort fortzupflanzen imstande waren, hätte ein Zeitparadoxon entstehen können…

Im August 2110 ist es wieder soweit, dass eine Gruppe von acht Reisenden, die sogenannte Gruppe Grün, durch das Portal in die Vergangenheit geschleust wird. Es ist eine sehr gemischte Gruppe, und zugleich ist es diejenige, die das Pliozän – ungewollt – völlig auf den Kopf stellen wird.

Sie besteht aus Bryan Grenfell, einem liebeskranken Soziologen, dessen angebetete Mercedes Lamballe ohne sein Wissen in die Vergangenheit geflohen ist; aus Stein Oleson, einem hünenhaften Bergarbeiter, dessen Kindheit so ver­murkst wurde, dass er mit der Welt nicht mehr klarkommt und deshalb nun im Gewand eines Wikingers das Weite sucht. Weiter gehört der Gruppe Grün der Raumkapitän Richard Voorhees an, der sein Raumpatent verlor, weil er aus ei­nem Anfall von Xenophobie einem in Raumnot geratenem Außerirdischen nicht half. Dann gibt es Felice Landry, eine hocherotische, zuckersüße Raubtierbändi­gerin, die unglaublich stark ist und panische Angst davor hat, dass Menschen, insbesondere Männer ihr zu nahe kommen. Sie bringt sie lieber um, als sich auch nur berühren zu lassen. Außerdem verfügt sie über starke, aber latente Parafähigkeiten (sogenannte Metafähigkeiten).

Die andere Hälfte der Gruppe besteht aus Elizabeth Orme, einer Meta, die ihre Fähigkeiten durch einen schrecklichen Unfall verloren hat. Physisch vollkommen wiederhergestellt, ist sie dennoch unfähig, zu espern und fühlt sich wie blind, taub und amputiert. Aiken Drum, ähnlich jung wie die achtzehnjährige Felice, ist eine Art moderner Eulenspiegel, jemand, der aus Leidenschaft gegen Gesetze und Ordnungen verstößt und dabei auch vor kriminellen Straftaten durchaus nicht zurückschreckt. Als man ihn vor die Wahl stellt, lebenslange Therapie oder gar Euthanasie zu beantragen, wählt er das Exil. Und dann sind da noch die Or­densschwester Annamaria Roccaro (auch Amerie genannt) und Claude Majew­ski, ein alter Paläontologe. Amerie hat Claudes Frau beim Sterben begleitet und sieht nun, nach Jahren der Sterbebegleitung keinen Sinn mehr darin. Sie möch­te sich nur noch zurückziehen in ein eremitenhaftes Dasein, und dafür scheint ihr das Pliozän der rechte Ort zu sein. Claude entschließt sich, für sie zu sorgen und begleitet sie.

Wie man sieht, eine sehr gemischte Gruppe.

Als sie ankommen, werden sie aber sehr schnell belehrt, dass das „vielfarbene Land“, wie die Bewohner das damalige Frankreich des Pliozän nennen, keines­wegs ein Paradies ist. Empfangen von Menschen, geraten die desorientierten Zeitreisenden in die sogenannte Portalburg, wo man sie einzeln gefangen setzt und unheimliche, riesenhafte Wesen humanoiden Aussehens, sogenannte Tanu, sie auf Meta-Fähigkeiten testen. Diejenigen, die durchfallen, werden von den hier gestrandeten Aliens zu Arbeitszwecken verwendet und versklavt, die anderen, die Parafähigkeiten besitzen, drängt man als Helfer in die Dienste der Tanu.

So wird Gruppe Grün gespalten und macht sehr zwiespältige Erfahrungen mit den Fremden. Elizabeth, deren Metafähigkeiten durch den Transit in voller Stär­ke zurückgekehrt sind, schließt sich ihnen zögerlich an, freilich abgestoßen von der Aussicht, dass sie dazu gezwungen werden soll, mit Tanu-Männern Nach­wuchs zu haben (eine Operation stellt nämlich die Gebärfähigkeit wieder her!). Aiken Drum erweist sich selbst ebenfalls als in hohem Maße latent-psionisch, seine Kräfte werden durch einen silbernen Halsring aktiviert. Felice Landry kann ihre Kräfte erfolgreich durch einen hysterischen Anfall verschleiern und wird der anderen Gruppe zugeteilt. Sie hasst die Tanu sehr rasch heiß und innig und ent­wickelt Fluchtpläne.

Während ihre Gruppe nach Nordosten geführt wird, in Richtung des heutigen Freiburg im Breisgau, wo die Tanu-Stadt Finiah liegt, brechen die anderen nach Süden auf, der Saone und Rhone folgend. Ihr Ziel ist die Hauptstadt der Tanu, Muriah an der Silbernen Ebene, in der Tiefe des noch nicht ganz gefluteten Mit­telmeeres liegend. Hier sollen sie in die Gesellschaft der Fremden aufgenom­men werden.

Doch die Tanu sind nicht die einzigen Außerirdischen, die zu dieser Zeit auf der Erde existieren. Da gibt es auch noch ihre erbitterten Feinde, die gestaltwan­delnden Firvulag. Von den sogenannten Criards, den „Heulern“, mal ganz zu schweigen.

Und ehe sich die Menschen der Gruppe Grün versehen, sind sie mittendrin in dem Machtkampf innerhalb der Pliozän-Gesellschaft, die viele Überraschungen und Schrecken für sie parat hält…

Mit diesem Auftaktband des vierbändigen Pliozän-Zyklus hat Julian May, die heute eher aus Fantasy-Romanen bekannt ist, ein Werk geschaffen, das Respekt einflößt. Jahrelange Recherchen, akribisch-detaillierte Darstellung der urzeitli­chen Erde und der Wissensgebiete der einzelnen Handlungspersonen (beson­ders fällt das im Bereich der Religion und der Paläontologie auf, aber nicht nur) machen das Lesen dieses Werkes zu einem beispiellosen Vergnügen. Natürlich muss man sich erst einmal mit den Personen vertraut machen und damit, dass 140 Seiten lang, während der Einleitungsphase des Zyklus, quasi kaum etwas „passiert“.

Der geduldige Leser wird dafür jedoch belohnt. Die psychischen Interaktionen der Personen und die faszinierenden Verbindungen, Zuneigungen und Antipa­thien, die fast alle im späteren Verlauf eine Rolle spielen, weben ein subtiles Netz, das alle miteinander fest verbindet. Die Autorin ist ein wenig wie Felice Landry Raubtierbändigerin: sie hat den Überblick, der Leser merkt es, dass sie jede Person in- und auswendig kennt und ahnt auch, dass sie gezielt Wissen zu­rückhält.

Als die Gruppe aufbricht, ist der Keim für sehr interessante Entwicklungen gelegt, doch niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, WELCHE genau das sein wer­den. Außer der Autorin Julian May natürlich selbst.

Und außer mir.

Ich habe den Zyklus damals, kurz nach Erscheinen (1988, um genau zu sein, als es nach dem Erscheinen der ersten beiden Bände ein Jahr lang hieß, der Rest KOMME EINFACH NICHT MEHR – was mir fast einen Anfall bescherte!) regel­recht verschlungen, kaum dass er komplett war. Und er hat mir damals wie heu­te enorm gefallen. Die Romane nach dreizehn Jahren noch einmal zu lesen, hat das Romanerlebnis tiefgreifend verändert. Im Gegensatz zu so manchem Werk, das mir beim zweiten Distanz-Lesen nicht mehr gefallen hat, ist das hier unein­geschränkt nach wie vor der Fall. Und das liegt wohl auch daran, dass ich 90 % seines Inhaltes vergessen habe. Damals las ich sehr schnell, heute nehme ich mir mehr Zeit, achte besser auf die Personen, die ich damals eher flüchtig wahr­nahm, und dadurch kann ich die Qualität des Geschriebenen noch besser auf­nehmen.

Doch, dieser Zyklus ist außerordentlich gut, sowohl was die Grundidee angeht als auch die Ausführung, insbesondere aber die Plastizität und die Emotionalität der Charaktere. Wer ihn antiquarisch bekommen kann, sollte das tun. Er ist eine ideale eskapistische Fluchtlektüre, wie man das erwarten kann, doch zugleich thematisiert er sehr schön eine Vielzahl unserer eigenen Probleme, insbesonde­re soziologischer Natur, aber auch ethische Grundfragen (beispielsweise um Fruchtbarkeit bzw. Sterilisierung von Frauen), wartet mit differenzierter und durchweg spannend dargestellter Psychologie auf und beschert zudem den Lesern, die Mutanten-Fans sind, einen Einblick darin, wie wohl realistischerweise kriegerische Auseinandersetzungen unter Mutanten und zwischen solchen und „normalen“ Menschen ablaufen könnten. Von den Themen Zuwanderung und Fremdenfeindlichkeit, die sich hier übrigens ebenfalls mustergültig studieren und mehr oder weniger gut auf unsere Gesellschaften übertragen lassen, sage ich mal nichts weiter.

Eins bleibt freilich noch als bedeutsam anzumerken: es existiert zu diesem Ro­manzyklus ein (zwar später geschriebener, aber das ist egal) Vorzyklus aus drei Bänden. Die Bände tragen nach der Hundertmarckschen Übersetzung am Ende des vierten Teils die Titel „Jack der Körperlose“, „Diamantmaske“ und „Magni­ficat“. Da ich den zweiten in der englischen Fassung seit Jahren besitze, ist klar, dass der sogenannte „Milieu-Zyklus“, wie sie ihn nannte, inzwischen längst komplett vorliegt.

Bedauerlicherweise hat Heyne aus völlig unklaren Gründen niemals Anstalten gemacht, ihn auf Deutsch zu publizieren. Vielleicht lag es am Tod der Übersetze­rin. Wenn jemand Kontakt zu Wolfgang Jeschke haben sollte, wäre es doch schön, wenn ihm mal ein solcher Vorschlag gemacht werden würde. Zum tiefe­ren Verständnis der Hintergründe dieses Zyklus wäre die Übersetzung der „Mi­lieu-Trilogie“ durchaus hilfreich. Und wohl auch ein ähnliches Lesevergnügen…

© 2001 by Uwe Lammers

Na, da kann einem doch schon der kreative Magen knurren, nicht wahr? Mit Recht. In der nächsten Woche reisen wir in die Gegenwart nach Japan zu einem erotischen Erlebnis ganz eigener Prägung. Seid dabei!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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