Rezensions-Blog 374: Visum für den Sirius

Posted Oktober 18th, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

manchmal grabe ich in dem reichen Fundus von geschriebenen Rezensionen ein paar wirklich alte Werke aus. Jetzt – vom Schreibzeitpunkt dieser Zeilen ausgesehen also am 1. Januar 2022, obwohl ihr sie sehr viel später lesen werdet – ist sogar diese Rezension bereits „historisch“. Sie ist selbst schon 20 Jah­re alt. Die Storys, über die ich damals also berichtete, haben in­zwischen schon 55 Jahre auf dem Buckel und mehr.

Aber gerade unter den nachgewachsenen Fans der Phantastik mag es vielleicht den einen oder anderen Liebhaber von SF-Kurzgeschichten geben, der beim Namen Robert Silverberg auf­horcht und antiquarisch nach diesem alten Buch zu suchen be­ginnt, wenn er/sie die folgende Rezension gelesen hat.

Um euch eine erste Orientierung zu geben, ob das Werk viel­leicht etwas für euch ist, schaut einfach mal weiter und macht euch ein eigenes Bild, ob sich das für euch lohnt:

Visum für den Sirius

von Robert Silverberg

Goldmann 0212

128 Seiten, TB

Übersetzt von Tony Westermayr

Erstauflage: 1966

ISBN 3-442-23212-0

Man zählt Robert Silverberg nicht umsonst zu den ganz Großen der amerikanischen Science Fiction. In diesem Band sind sechs seiner Geschichten aus den 60er Jahren enthalten, die laut Um­schlagtext „Roboter, Zeitreisen, fremde Kulturen, gesellschaftli­che Veränderungen“ sowie „ein Monstrum mit Käferaugen“ zum Inhalt haben.

Vergessen wir diese kuriosen Worte. Sie treffen nicht zu. Worum aber geht es in den Geschichten nun wirklich?

Die Titelstory Visum für den Sirius entführt uns in die Zukunft der Erde und zeigt den tristen Alltag von David Carman, Konsu­ment 6. Klasse. Seine Aufgabe in der durchorganisierten irdi­schen Gesellschaft besteht darin, Visumanträge zu bearbeiten … wobei „bearbeiten“ zu hochtrabend ist. Streng ge­nommen handelt es sich nur um ein Sortieren in verschiedene Ablagekästen. Aber … das ist nicht das Problem. Das Problem besteht darin, dass die Erde Krieg führt. Mal gegen den Prokyon, mal – wie momentan – gegen das System Sirius. Und der Wirt­schaftslenker, der diese Nachrichten verkündet, muss bei militä­rischen Niederlagen leider die Preisspirale für alltägliche Güter immer weiter anziehen. Was Carman an den Rand des Ruins führt.

Schließlich fällt er die Entscheidung, sich aus dem tristen Da­sein zu lösen und sich als Soldat zum Sirius versetzen zu lassen, um endlich etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu tun und dem ewigen Preisdruck zu entkommen. Dieser Spontanent­schluss hat fatale Folgen für den weiteren Verlauf seines Lebens …

Die Schmerzverkäufer konfrontiert den Leser mit der höchst un­sympathischen Gestalt des Sendeleiters Northrop. Er ist Expo­nent einer neuen gesellschaftlichen Attraktion: des Mitleidens. Das ist durchaus nicht positiv gemeint. Vielmehr werden die Zu­schauer und Miterleber neuronal mit einem leidenden Menschen verkoppelt, um den vollen physischen Schmerz zu erleiden, den der Patient in dem Augenblick der Operation verspürt. Weswe­gen Northrop natürlich darauf aus ist, Kontrakte mit Versehrten und deren Angehörigen zu schließen, die ausdrücklich beinhal­ten, dass der Verletzte beim BEGINN der Operation NICHT be­täubt werden soll.

Als ein alter Mann mit einem faulenden Bein eingeliefert wird und die Angehörigen sich störrisch zeigen und gegen diesen Kontrakt wehren, tritt Northrop selbst auf den Plan und geht ih­nen um den Bart. Der Kontrakt kommt schließlich zustande, aber er hat höchst zynische Konsequenzen …

Gleich und gleich entführt uns in eine Welt der ferneren Zu­kunft, in der Terra die isolationistische Tendenz ein wenig wieder gelockert hat. Aber nur ein wenig. Außerirdische dürfen die Erde nur unter strengen Auflagen betreten. Um diese ein wenig zu umgehen, gibt es das sogenannte Corrigan-Institut. Es führt Ex­traterrestrier auf der Erde ein und hält sie streng unter Ver­schluss – mit Besucherzeiten. Man kann es als eine Art professionellen Zoo mit intelligenten Bewohnern betrachten.

Bei einer solchen Anwerbeaktion – und die Außerirdischen sind überaus scharf darauf, dabei mitzumachen! – kommt es zu tu­multuarischen Szenen. Grund dafür ist jemand namens Ildwar Golb, der auf den ersten Blick wie ein ganz normaler Mensch aussieht, sich aber als Alien ausgibt. Mit einem hartnäckig um­gesetzten Trick, der unter anderem mit einem Beinahe-Mord und einem Quasi-Selbstmord zu tun hat (sehr lesenswert!) ge­lingt dieser Plan.

Golb ist ein sehr geschäftstüchtiger Mann. Das merkt auch Cor­rigan. Und er erkennt, dass sie aus demselben Holz geschnitzt sind. Nur ist für ZWEI solche Personen im Institut wirklich kein Platz …

Mutter ist die Beste! ist eine ziemlich unglaubliche Geschichte einer außergewöhnlichen Frau, erzählt von einem ihrer 31 Söh­ne, die physisch alle absolut identisch sind. Sie zieht die künst­lich befruchteten und so geteilten Embryonen im Geheimen heran und lenkt sie von Kindesbeinen an in enge Berufssparten – der Erzähler soll beispielsweise Historiker werden – , um zu beweisen, dass prinzipiell die Anlagen zu allen möglichen Karrieren im Individuum angelegt sind und es überwiegend von der Erziehung abhängt, was man schließlich wird. Der Ansatz geht in Richtung des Behaviorismus und der heutigen IQ-Forschung. Das Ende des Experiments ist hingegen ausgesprochen grausig und wohl einzigartig in der Menschheitsgeschichte …

Der Entreiher ist schon eine faszinierende Entwicklung: der Mensch braucht sich nicht mehr jahrelang dem Raumflug auszu­setzen, sondern er wird einfach … na ja … quasi in einen Schuh­karton eingesperrt, kondensiert in energetische Form, zeitlos von einem Raumschiff transportiert und dann wieder in die Nor­malform zurückverwandelt, wobei für ihn keine Zeit vergeht.

Die Frage, was mit der GESELLSCHAFT zwischendurch passiert, klärt die Story Trauernd hinterblieben nicht, was zeigt, dass sie nicht gut durchdacht ist. Beispielsweise sagt Silverberg durch den Mund eines Technikers: „Obwohl die Reise nach Marathon zweihundertdreiundachtzig objektive Jahre in Anspruch nimmt, wird es sich für Sie nur um Sekunden handeln.“

Das impliziert nach meiner Interpretation, dass jemand, der von der Erde nach Marathon reist, für fast sechshundert Realjahre verschwunden ist (eventuell ist das aber ein Übersetzerproblem gewesen). Mithin ist die Situation, in der sich Peter Martlett be­findet, einfach lächerlich: sein Bruder, der auf Marathon wohn­te, ist bei einer Reise mit dem Entreiher schlicht verschwunden, also abgeschickt worden, aber nie angekommen. Peter kommt nach Marathon, um dort die Angelegenheiten seines Bruders zu ordnen.

Was er nicht ahnen kann, ist, dass zu diesen „Angelegenheiten“ auch zwei Frauen gehören, die voneinander nichts wussten, de­nen Peters Bruder aber leichtsinnigerweise Hochzeitsverspre­chen gemacht hatte. Und da Peter seinem Bruder unheimlich ähnlich sieht … Nun, ich denke, das Problem ist offenkundig …

Die Unsichtbaren sind nicht WIRKLICH unsichtbar. Sie scheinen es nur zu sein – und die Gesellschaft des Jahres 2104 ist es, die sie hervorbringt. Dies ist eine grausame Art der Bestrafung, die einer sozialen Ächtung gleichkommt und ungeahnte Schwierig­keiten schafft. Wer gegen die Gesetze der Gesellschaft verstößt, wird mit einem unabwaschbaren Siegel auf der Stirn gekenn­zeichnet und für eine bestimmte Zeit damit stigmatisiert. Von nun an muss er nicht mehr arbeiten, aber niemand auf den Straßen darf ihn sehen, mit ihm reden oder ihn beachten.

Anfangs genießt der Bestrafte diese Tatsache, denn nun kann er auch boshafte Dinge begehen. Stehlen. In Frauenbadehäuser gehen. Dinge beschädigen. Allerdings gibt es auch Nachteile, die er bald kennenlernt: wenn er es zu dreist treibt, kann es auch ohne Weiteres passieren, dass er mit einem Kessel brü­hend heißen Wassers malträtiert wird. Der Verursacher, hier ein Koch, wird dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden, schließlich kann dieser ja sagen, er habe niemanden dort ste­hen gesehen …

Ebenso prekär ist es, wenn man in der Zeit krank wird. Es exis­tieren keine robotischen Ärzte, menschliche Ärzte müssen aber die Unsichtbaren ignorieren, selbst wenn sie vor ihren Augen sterben. Der Protagonist, zu einem Jahr Unsichtbarkeit ver­dammt wegen gesellschaftlicher Kälte, wandelt seinen Charak­ter im Laufe der Zeit vollkommen …

Diese Storysammlung, wiewohl fünfunddreißig Jahre alt, zeigt Robert Silverberg als eloquenten, geschickten Erzähler. Glei­chermaßen ist aber auch deutlich in vielen Geschichten zu er­kennen, wie sehr sie sich an der Oberfläche halten. Einzig Mut­ter ist die Beste! und Die Unsichtbaren transportieren wirklich sehr unangenehme, langfristige Schlussfolgerungen moralischer Tiefe, die anderen enthalten eher Allerweltsweisheiten wie „Bei Krieg werden die Dinge generell teurer“ usw. Der moralische Anspruch ist in den Werken überall spürbar, aber dafür wird sichtlich die Logik zurechtgebogen. Die Künstlichkeit muss man daher als Manko anführen, besonders signifikant in der Titelsto­ry und in Trauernd hinterblieben.

Der unbestreitbare Vorteil ist die ausgezeichnete Lesbarkeit der Geschichten, die zweifellos im Ablauf einiger Jahre doppelte Les­barkeit ermöglicht. Ich nehme an, dass Silverbergs Talent mehr die Form des Romans benötigt, in der er sich richtig austoben kann. In Kurzgeschichten läuft er – zumindest noch zu dieser Zeit – Gefahr, oberflächlich und seicht zu werden. Wer keine sehr hohen Ansprüche an Science Fiction-Literatur stellt, ist bei Silverbergs Kurzgeschichten aus dieser Zeit deshalb genau richtig.

© 2002 by Uwe Lammers

In der kommenden Woche landen wir sehr viel näher an der Ge­genwart und in einem völlig anderen Genre. Da kommen wir zu einem sehr talentierten Paar von Killern, die unvermittelt einen sehr komplizierten Auftrag erhalten, was zu ungeahnten Kompli­kationen und Enthüllungen führt …

Das wird lustig“, würde Black Widow wohl sagen, denke ich, und sie hätte recht. Davon könnt ihr euch in sieben Tagen an dieser Stelle überzeugen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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