Rezensions-Blog 409: Die Schätze von Rande

Posted Juni 21st, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Schatzsuche ist, würde man in der – in meinen Augen eher lä­cherlich anbiedernden – Sprechweise der Gegenwart vermutlich sagen, „gleichsam Teil meiner DNS“. Das ist natürlich Schwach­sinn, aber so reden die Leute vielfach heutzutage, in Interviews, in Zeitschriftenartikeln und Fernsehsendungen (wobei sie dann munter in die deutsche Rede die englische Floskel „DNA“ ein­flechten, aber konsequent vergessen, sie auch englisch zu beto­nen, wiewohl das „A“ für „Acid“ steht … ich bevorzuge, wenn überhaupt nötig, die deutsche Abkürzung DNS und entziehe mich diese anglophilen Anbiederung).

Ich für meinen Teil pflege stattdessen zu sagen, dass ich schon im Kindesalter fasziniert von Schätzen war. Da ging es mir durchaus sehr ähnlich wie den Unternehmerbrüdern Rick und Marty Lagina in der Dokumentationsserie „The Curse of Oak Is­land“. Die Welt war für mich damals als Kind einfach unendlich weitläufig, und überall konnte es von verborgenen Schätzen wimmeln. Während ich die quasi vor der Haustür nicht wahr­nahm (noch heutzutage werden bei Erdarbeiten in Deutschland ständig jahrtausendealte Relikte und Schatzhorte gefunden), er­wärmte ich mich sehr für Piratenschätze, versunkene Kulturen in fernen Ländern und dergleichen.

Ähnlich geht es auch dem Amerikaner John S. Potter jr., als er in den frühen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in Südeuropa weilt und das Tauchen mit der gerade frisch erfundenen Aqualunge erlernt. Denn hier hört er auf Mallorca von einer versenkten Schatzflotte direkt vor der französischen Küste und denkt sich: Das kann doch nicht so schwer sein, auf diese Weise durch eine Tauchexpedition reich zu werden.

Und so macht er sich auf zur Bucht von Vigo, und das Abenteu­er nimmt seinen Lauf. Einfach mal weiterlesen:

Die Schätze von Rande

(OT: The treasure Divers of Vigo Bay)

von John S. Potter jr.

Georg Westermann Verlag, 1964

260 Seiten, geb.

Aus dem Amerikanischen von Eva Spiegel

Gelegentlich entdeckt man die interessantesten Schätze eben nicht auf dem Grund des Meeres, sondern im eigenen Bücherre­gal. So verhielt es sich auch mit diesem im Jahre 2001 antiqua­risch gekauften Buch, das gleichwohl durchaus auch mit versun­kenen Schätzen auf dem Meeresgrund zu tun hat. Der Leser wird jedoch rasch merken, dass dies nicht eben das Kostbarste ist, auf das man hier treffen kann.

Wir müssen uns auf eine Zeitreise einstellen, um das Buch wirk­lich würdigen zu können als das, was es ist. Der amerikanische Autor John S. Potter jr. hat es im Verlag Doubleday & Company in New York bereits 1958 publiziert und die – höchstwahrschein­lich gekürzte – Version ist dann 1964 in Braunschweig erschie­nen, und dies zu einer Zeit, als internationale Standard Buch­nummern (ISBN) wohl noch kein Thema waren. Das Buch besitzt jedenfalls keine und ist gewiss nur noch antiquarisch zu erhal­ten. Es lohnt allerdings durchaus den Versuch, es zu erwerben, wie man noch sehen wird.

Alles beginnt mit einem Ausflug nach Mallorca Mitte der 50er Jahre. Der junge Potter (über dessen biografischen Hintergrund man leider sehr wenig erfährt) lernt hier das Tauchen mit der damals noch neuen Aqualunge, die Jacques-Yves Cousteau und sein Kollege Gagnan 1943 entwickelt haben. Begeistert von die­ser Erleichterung des Tauchens, wird Potter schwach, als er schließlich bei einem Madridaufenthalt in einem Buch den Satz liest: „Oder nehmt Vigo an der Nordwestküste Spaniens; an Reichtum kommt nichts den Schätzen in dieser Bucht gleich, wo die größte Silberflotte der Geschichte ruht.“

Schatztauchen! Das klingt unglaublich spannend.

Vigo liegt quasi direkt um die Ecke, tauchen kann er auch … und so begeistert sich John S. Potter für die Schatzsuche. Er organi­siert eine Gruppe von Gleichgesinnten, holt eine Konzession für die Schatzsuche ein, besorgt sich das technische Equipment und gründet eine Finanzierungsgesellschaft – und los geht das Abenteuer.

Er hat freilich noch keine Ahnung davon, WIE abenteuerlich es werden wird …

Die Geschichte selbst, dessen Folgen der junge Amerikaner nachspürt, reicht zurück in die Zeit des spanischen Erbfolgekrie­ges (1701-1714). Ausgangspunkt ist eine Seeschlacht. Sie fand am 23. Oktober 1702 in der Bucht von Vigo vor der galizischen Küste statt (nach damals gültiger englischer Zeitrechnung am 12. Oktober), und es standen sich auf der einen Seite die spa­nisch-französische Allianz, auf der anderen eine englisch-nieder­ländische Flotte gegenüber.

Admiral Sir George Rooke und Philipp van Almonde versuchten, die spanische Silberflotte, die in der Bucht von Vigo ankerte, in ihren Besitz zu bringen. Im Verlauf des erbitterten Kampfes ge­gen die Kommandanten François Louis Rousselet de Chateau-Renault und Manuel de Velasco wurden alle spanisch-französi­schen Schiffe (30 an der Zahl) entweder in Brand geschossen, liefen auf Riffe und sanken bzw. gerieten erobert in die Hand der Angreifer. Mit der Zahl von ca. 800 Toten auf alliierter Seite und rund 2000 Toten auf der Seite der Franzosen und Spanier ist das Gefecht historisch eher klein dimensioniert, es war auch in keiner Weise kriegsentscheidend, da viel von den Schätzen der Silberflotte vor der Attacke auf dem Landweg in Sicherheit ge­bracht werden konnte.

Dennoch wurde mit den Schiffen viel an Silberschätzen ver­senkt, und noch Ende des 19. Jahrhunderts konnte der französi­sche Schriftsteller Jules Verne imaginieren, dass sein mythischer Kapitän Nemo einen erheblichen Teil seines Reichtums aus den versunkenen Galeonen in der Bucht von Vigo bezog.

John S. Potter jr. jedenfalls ist 1957 überzeugt davon, dass die Schätze noch auf dem Grund der Bucht liegen (zumindest zum Teil) und man sie sich mit der überlegenen Technik einfach nur noch holen muss. Er fühlt sich den Tauchern früherer Expeditio­nen, die mit klobigen Helmtaucherausrüstungen mühsam auf dem Grund herumwanken mussten (man vergleiche hierzu etwa die sehr nützlichen Illustrationen von Gustave Doré in den Jules-Verne-Büchern, eben auch in „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“), weit überlegen. Und so brechen er und seine Freunde frohgemut auf, nachdem sie ein wenig in Archiven und publizierten Büchern gewühlt haben, voller Elan und Begeiste­rung, in wenigen Wochen, spätestens Monaten als gemachte, reiche Männer von der Bucht von Vigo zurückzukehren.

Was folgt, ist eine Geschichte erstaunlich vergnüglicher Ernüch­terung. Und das ist durchaus kein Widerspruch.

Die spanische Provinz Galizien Mitte der 50er Jahre – der Dikta­tor Franco ist noch an der Macht – , wo die Bucht von Vigo nun einmal liegt, ist, vorsichtig formuliert, alles andere als fort­schrittlich oder auch nur aufgeschlossen dem Fremden gegen­über. Vom ersten Moment an muss der tatendurstige Schatzsu­cher das begreifen:

Es gibt Probleme mit dem Zoll, der seine „ausländische“ Ausrüs­tung nicht passieren lassen möchte, auch erweisen sich die Straßen als schlaglochübersäte Pisten, manchmal nicht mehr als bessere, unbefestigte Feldwege, die oftmals – ohne eine Art von Geländer – am schwindelerregenden Abgrund vorbeiführen.

Der Gegenverkehr ist ebenfalls gewöhnungsbedürftig: Maulesel, Viehherden und gelegentlich altersschwache Busse überwiegen (ich überlasse dem Leser das Vergnügen, zu lesen, was über die motorisierte Technik hier geschrieben wird – „abenteuerlich“ wird der Sache eigentlich nicht mehr gerecht, das ist schon ein Stück heftiger). In den Dörfern Galiziens rennen munter Kinder und Tiere über die Straßen, ohne sich um Autos zu scheren, und gelegentlich bleibt Potter in Menschenaufläufen stecken. Wenn er nicht Störenfried ist, dann ist er „Sensation“. Das hat seine guten wie schlechten Seiten.

Die Begrüßung an der Bucht ist ähnlich unerwartet: das wich­tigste Wort hier lautet „mañana“, was man auch mit „patiencia“ oder „Geduld“ übersetzen könnte. Und die Menschen hier sind arm. Arm und misstrauisch. Beides erweist sich als ungeahntes Hindernis für die Schatzsuche. Wer – wie der naive Potter – glaubt, mit Geld könne man gewiss und selbstverständlich die Hilfsbereitschaft oder Auskunftsfreudigkeit der Bewohner anfa­chen, macht die verblüffende Entdeckung, dass diese Freigebig­keit ganz andere Reaktionen auslöst.

Man dreht ihm etwa ein untaugliches Schiff mit einem noch un­brauchbareren Motor an. Von der Crew ganz zu schweigen, die eigentlich nicht zu verwenden ist (aber wegen der Arbeits­schutzbestimmungen, das erfährt Potter schnell, ist es fast un­möglich, der Crew zu kündigen! Er versucht es natürlich trotz­dem). Die Fischer sind aus interessanten Gründen wenig bereit, ihm zu helfen, die Technik versagt immer wieder, die Schiffe, die doch einfach so auf dem Grund der Bucht liegen sollen, scheinen sich versteckt zu haben, das Wasser ist eisig kalt und überaus schlammig …

Man kann sich kaum eine abenteuerlichere Geschichte vorstel­len als das Panorama, das John S. Potter jr. hier entwirft und vor dem jugendlichen Lesepublikum (denn das Buch ist ja schließ­lich bei Westermann in der Jugendbuchreihe erschienen) aus­breitet. Es ist ein mächtig unterhaltsames Garn, das den Leser des Öfteren vor Unglauben in lautes Lachen ausbrechen lässt und vor allen Dingen zwei Dinge zeigt:

Wie oberflächlich und naiv der Autor anfangs an die Expedition heranging, zum anderen aber auch, wie faszinierend provinziell und doch zugleich mit gewisser Bauernschläue die Bevölkerung vor Ort die lang währende Anwesenheit der Ausländer hin­nimmt, sie teils buchstäblich „ausnimmt“, dann aber auch wie­der eine seltsame Form von schrulligem Respekt entwickelt. Die Beziehung zwischen dem Tauchteam und der Ortsbevölkerung wandelt sich auf bemerkenswerte, höchst amüsante Weise, und es ist einfach ein Mordsvergnügen, das nachzulesen.

Gewiss, wer auf Gold und Silber aus ist, wird vielleicht ent­täuscht aus dem Buch wieder auftauchen. Dasselbe mag den Lesern widerfahren, die sich brennend für die Seeschlacht von Vigo interessieren.1 Und wer mehr über das Schicksal des in die­sem Buch genannten britischen Admiral Clowdisley Shovell er­fahren möchte, der sei auf Dava Sobels ausgezeichnetes Buch „Längengrad“2 verwiesen. Doch wie erwähnt, man wird durch andere Arten von Schätzen und vergnüglichen Schilderungen alltagsgeschichtlicher Art mehr als entschädigt.

Ein wenig bedauerlich ist indes, dass der Verlag meinte, er müs­se den Titel des Buches abändern (vielleicht, um vor ungerecht­fertigten Erwartungen geschützt zu sein). Aber das Buch nach der doch wenig bekannten „Straße von Rande“, einem Verbin­dungsstück der Bucht von Vigo zur Bucht von San Símon, zu be­nennen, war doch wenigstens etwas unglücklich. Zumal erhebli­che Teile des Buches gar nicht von Rande handeln. Und auf dem Umschlag etwas von „Tiefseetauchern“ zu murmeln, wobei aus der Handlung klar hervorgeht, dass unterhalb von 50 Metern das Tauchen mit der damals handelsüblichen Aqualunge nur un­ter höchster Lebensgefahr möglich ist, das grenzt schon an Feh­linformation.

Ansonsten jedoch ist es ein sehr amüsantes, unterhaltsames Buch, das zur Lektüre empfohlen werden kann. Kurzweil ist ga­rantiert.

© 2007 by Uwe Lammers

Natürlich können die Leser, die hier auf gehobene Gold- und Sil­berschätze aus dem Meer hofften und nun lange Mienen ma­chen, enttäuscht sein. Aber wie ich es betont habe, der eigentli­che Wert des vorliegenden Buches liegt nicht wirklich in geho­benen Preziosen vom Meeresgrund. Das wäre sozusagen nur das Sahnehäubchen auf dem Abenteuer.

Hier kann man sehr viel mehr davon ausgehen, dass der Weg gleichsam das Ziel ist und man so auf die faszinierenden Klei­nigkeiten hingewiesen wird, die abseits des intendierten Zielpfa­des liegen. Unterhaltsam geschrieben, mitreißend übersetzt und abenteuerlich im wortwörtlichsten Sinne ist das ein Leseaben­teuer, das wirklich die investierten Stunden Lektüre wert ist.

Bis nächste Woche dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Diese Leser seien dann auf das Buch des belgischen Tauchers Robert Stenuit, der auch in diesem Buch Teil des Tauchteams ist, hingewiesen, das 1959 im Ullstein-Verlag unter dem Titel „Die Schatzsucher von Vigo“ erschien. Ebenfalls hilfreich und interessant ist die Internetseite „Seeschlacht von Vigo“ in der Online-Enzyklopädie WIKIPEDIA.

2 Vgl. Dava Sobel: „Längengrad“, Berlin 2001. Vgl. dazu auch den Rezensions-Blog 101 vom 1. März 2017.

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