Rezensions-Blog 514: Das geheime Verlangen der Sophie M.

Posted Juni 25th, 2025 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute mute ich euch mal harte Kost zu, und ich kann jeden ver­stehen, der nach einer halben Stunde schaudernd den Blogein­trag schließt. Ich denke aber auch, dass ihm oder ihr damit eine interessante, den Horizont erweiternde Erkenntnis verschlossen bliebe.

Wir schauen mit der heute hier publizierten Rezension in das Herz einer bekennenden Masochistin, die schonungslos über ihre sexuellen Vorlieben und grenzwertigen Erfahrungen berich­tet. Und ja, ich erwähne es weiter unten, an manchen Stellen der damaligen Lektüre musste ich mich anno 2017 wirklich ziemlich überwinden, weiterzulesen. Das Buch ist harter Tobak, keine Frage.

Es ist aber auf der anderen Seite eben auch ein unverstellter, klarer Blick in die Tiefen einer menschlichen Seele, für die wir jenseits aller Klischees oder Moralvorstellungen Verständnis ent­wickeln sollten. Die Art und Weise, wie Sophie Morgan mit ihrem sexuellen Begehren umgeht und was sie dafür benötigt, um vollendeten lustvollen Genuss zu erleben, mag von unserer ei­genen Denk- und Lebenswelt sehr weit entfernt sein. Das sollte uns aber nicht dazu verleiten, sie oder Menschen ihrer Neigung vorschnell zu verurteilen.

Toleranz, wie ich sie verstehe, sollte auch einen unvoreinge­nommenen Blick voraussetzen. Wir sind hier nicht bei Friedrich Nietzsche, dies ist kein Abgrund, der seinerseits in uns hinein­schaut und uns womöglich mit dem Virus des Masochismus infi­ziert. Es ist ein Blick, der unseren Horizont weitet, und insofern natürlich auch ein Experiment.

Wer aufgeschlossen, mutig und neugierig ist, lese weiter:

Das geheime Verlangen der Sophie M.

Tagebuch einer unterwürfigen Liebhaberin

(OT: The Diary of a Submissive)

Von Sophie Morgan

Goldmann 15766

320 Seiten, TB (Dezember 2012)

Übersetzt von Gaby Wurster

ISBN 978-3-442-15766-2

Die weibliche Sexualität kennt viele Facetten, sie reichen von unschuldiger, sanfter Zärtlichkeit und Verspieltheit bis hin zu finstersten Sehnsüchten nach peinigender Gewalt und Qual. Der weltweite Hype um die Fifty Shades of Grey“Romane der Autorin E. L. James hat durch die Millionenauflage der insge­samt sechs Bücher stark dazu beigetragen, höchst romantisierte Vorstellungen von sadomasochistischen Phantasien literarisch salonfähig zu machen. Man braucht sich nur beispielhaft das Programm des Verlags „Plaisir d’Amour“ anzusehen, aber auch zahlreiche weitere Verlage sind auf diese Welle mal mehr, mal weniger intensiv aufgestiegen und bedienen das gesteigerte Le­serInnen-Interesse seither mit immer weiteren Epigonenroma­nen.

Doch ist die Beziehung zwischen der unschuldigen, jungen Stu­dentin Anastasia Steele und dem exzentrisch und sadistisch veranlagten und zudem noch gut aussehenden Millionär Christi­an Grey alles andere als realistisch. Und die wirklichen Abgrün­de bleiben darin ausgeblendet, weil sie definitiv erschreckend wären. Auf der anderen Seite gibt es jedoch definitiv Frauen und Männer, die zur Erfüllung ihrer sexuellen Sehnsüchte nach ge­nau diesen „Kicks“ suchen, die auf sie angewiesen sind.

In einer Welt, in der zwar Genderdebatten toben, Queer Theory salonfähig ist, Lesben- und Schwulen-Referate an Universitäten existieren und Demonstrationen gegen homophobes Verhalten stattfinden, ist dieser Teil der menschlichen Sexualität gleich­wohl immer noch eine Dunkelzone. Menschen, die Schmerz und Demütigung ernsthaft benötigen, um sexuelle Erfüllung zu fin­den und die sich darüber definieren, werden nach wie vor ent­weder bemitleidet oder als pervers eingestuft.

Wahre Toleranz sieht meiner Meinung nach anders aus.

Sophie Morgan, eine junge britische Journalistin, beleuchtet in diesem Buch aus der autobiografischen Perspektive genau jene Randsicht. Denn sie ist genau dies, eine „submissive“ Person, die schon recht frühzeitig nach ihrem sexuellen Erwachen ent­deckt, dass es sie zunehmend erregt, wenn sie im Liebesspiel mit Schmerz konfrontiert wird.

Das erste Mal geschieht es, als ein Freund während ihrer Bezie­hung unschuldig dazu animiert wird, „von der Haarbürste Ge­brauch zu machen“ ... entgegen Sophies Vorstellung nutzt er sie dafür, überraschend ihren Hintern zu versohlen. Eine Erfahrung, die ihr Leben definitiv bereichert. Und sie wird, was sie nicht we­nig verwirrt, feucht und ist schrecklich erregt, wann immer sie sich an diesen Moment erinnert.

Es tut ihr gut.

Es klingt vermutlich einigermaßen verrückt, aber sie findet es in der Tat wahnsinnig erotisch, Schmerzen zu suchen und zu erdul­den, es stachelt sie auf und führt Sophie zu atemberaubend in­tensiven Orgasmen … und so sucht sie fortan ganz unweigerlich weitere „Kicks“ dieser Art. Natürlich ist das erklärungsbedürftig. Und psychologisch sucht der Leser unweigerlich Zuflucht bei ir­gendwelchen Kindheitstraumata. Leider wird er dabei in diesem Fall nicht fündig.

Sophie ist durchaus keine Person, die aus einer irgendwie ver­korksten Familie stammt, sondern auf ihre Weise stammt sie aus einem wirklich durchschnittlichen Haushalt, mit biederen El­tern, die sie niemals geschlagen haben. Sie hat keine SM-Ver­wandten in ihrer Ahnenreihe, die sie mit solch einer Form von Sexualität bereits konfrontiert hätten. Sie hat ganz normale Schulen besucht, die üblichen Teenager-Verliebtheiten durchge­macht, und sie ist in keiner Weise auffällig.

Sie hat eben nur entdeckt, dass es sie unglaublich erregt, wäh­rend einer Liebeszusammenkunft den devoten Teil der Bezie­hung darzustellen, sich dem Partner zu unterwerfen und gewis­sermaßen in eine andere Haut zu schlüpfen oder, was vermut­lich besser passt, sich gleichsam zu häuten und ihr wahres, viel­leicht „dunkles“ Ich freizusetzen.

Das Internet macht all diese Dinge deutlich einfacher als in frü­heren Jahrzehnten oder Jahrhunderten, in denen es derlei Nei­gungen natürlich immer schon gab. Es gibt heutzutage breite Foren im Netz, in denen sich Gleichgesinnte austauschen, in de­nen unspezifische Vorstellungen derjenigen konkretisiert wer­den können, die von der Entdeckung ihrer Veranlagung begreif­licherweise verunsichert sind. Sophie stellt etwa schnell fest, dass es Bondage gibt und nimmt diese Form in ihr Liebesreper­toire auf, mit ausgesprochenem Lustgewinn. Sie stellt fest, dass Fesseln und Hilflosigkeit für sie ein weiterer, prickelnder Stimu­lus sind. Dass sie unter Schlägen zwar in Tränen ausbrechen und völlig verzweifelt sein kann … aber dass es auch eine subti­le, variable Grenze gibt, jenseits derer sie eine Sphäre der Emo­tionen erwartet, die fast unbegreiflich intensiv ist und sie voll­ständig enthemmt und so gründlich über die Welt hinaushebt, dass Sophie diese Erfahrung wieder und immer wieder sucht.

Es ist eine Form von Sucht.

Die Submissivität einer Masochistin ist eine Leidenschaft und Sucht in gleichem Maße, aber es kostet Überwindung und Kraft, das auszuloten, wie ihr nachzuspüren. Sophie Morgan macht sich auf die Reise und nimmt uns dorthin mit, in das Grenzland der Pein und Qualen – und doch ist es nicht wie der Ausflug in einen Folterkeller, wiewohl man das manchmal glauben könnte.

Medizinisch könnte man vermutlich sagen, dass die Misshand­lungen die Ausschüttung körpereigener Endorphine befördert, die gleichsam die Unterworfene in einen biochemischen Dro­genzustand versetzen. Zugleich wird durch die Kombination zwi­schen Zärtlichkeit einerseits und Qual andererseits eine neuro­nale Verschaltung der entsprechenden Hirnareale vorbereitet.

Aber das ist nicht alles, jedenfalls nicht in Sophies Fall. Sie ana­lysiert ihre Befindlichkeit durchaus recht prägnant und meint, es sei deutlich mehr als nur eine Art von körpereigener Betäubung, die sie all dies nicht nur erdulden lässt, auf dass sie die „Beloh­nung“ erhält – vielmehr spiele der Faktor der Demütigung eine wesentliche Rolle. Der Zwang, durch seinen dominanten „Herrn“ zu Dingen gezwungen zu werden, die sie eigentlich gar nicht will.

Sophie Morgan betrachtet diese peinigenden Momente, in de­nen sie durchaus wilde, leidenschaftliche Verzweiflung fühlt, die bis zum Hass hinführen kann, als eine bizarre, absichtlich peini­gende Form von Wettbewerb. Denn: natürlich bekommt sie ein Safeword, mit dem sie jederzeit die „Session“ abbrechen kann, wie es in der Szene heißt. Aber sie ist auch ein stolzes Wesen, manchmal bis zur Dummheit stolz, fand ich gelegentlich, und es war durchaus peinigend, manche Seiten des Buches zu lesen … doch ja, sie empfindet es als eine Form von Tapferkeit gegen­über ihrem „Sir“, das Safeword nicht zu benutzen, selbst wenn alles in ihrer Seele danach schreit, genau dies zu tun.

Dies hat zur Konsequenz, dass sie, als Sophie schließlich an James gerät, immer weiter in einen Zirkel der Bestrafung und Bestrafungsverschärfung hineingetrieben wird. Manche Formen der höchst einfallsreichen Peinigung fand ich äußerst extrem, insbesondere dann, wenn sie via Telefon dazu gezwungen wird, sich selbst zu bestrafen, obgleich Sophie gar nichts Falsches ge­tan hat – sie hat gleichwohl ein schlechtes Gewissen und möch­te alles tun, um eventuelle Fehler wieder gutzumachen – auch wenn das beispielsweise bedingt, mit Hilfe von chinesischen Essstäbchen und Gummibändern Folterinstrumente zu erschaf­fen und sie sich selbst peinigend anzulegen … und wer sich das jetzt nicht vorstellen kann, sollte es nachlesen. Es ist allerdings wirklich heftig, das sei nicht verschwiegen …

Das vorliegende Buch ist nicht im strengen Sinne ein „Tage­buch“, wie es der deutsche Verlag apostrophiert hat, und so ro­mantisch das Cover auch sein mag, mit Romantik hat der Inhalt vergleichsweise wenig zu tun. Es handelt sich eher um eine Form von „Beichte“ oder vielleicht auch Autobiografie. Man fühlt sich als Leser ein bisschen ins 18. Jahrhundert nach Frankreich zurückversetzt, wo etwa mit dem Buch „Die weise Thérèse“ des Marquis d’Argens eine Art fingierter Bekenntnisliteratur ent­standen ist. Sophie Morgans Bericht ist recht ähnlich struktu­riert, allerdings sehr viel gegenwartsnäher, rigider und direkter in der schonungslosen Darstellung sexueller Gewalt.

Es muss allerdings auch gesagt werden, dass das Gewand des Buches absolut mitreißend ist – der humorvolle Stil ist ausge­zeichnet übersetzt. Eine Anlaufschwierigkeit kann indes auftre­ten, weil sie gleich im Vorwort schockiert. Wenn man nur das Vorwort liest, wie ich es zu Beginn tat, gerät man vermutlich ganz unweigerlich ins Stocken und hält mit der Lektüre inne (wie es mir widerfuhr). Es empfiehlt sich, dann gleich die Kapitel 1-3 hinterher zu lesen, dann ist man im Lesefluss drin und wird von der eigenen, zuweilen ungläubigen bis erschrockenen Neu­gierde vorangetrieben.

Dass es sich um leichte Kost handelt, würde ich nicht behaup­ten. Ehrliche Kost? Durchaus ja. Interessanterweise wird weni­ger moralisiert, als man vermuten sollte. Das macht die Lektüre dann bemerkenswert, auch wenn mir manche der masochisti­schen Züge der Verfasserin nachgerade unmenschlich hart er­schienen. Ich bin eben ein auf Harmonie bedachter Mensch und würde im Traum nicht auf die Idee kommen, dass es in irgendei­ner Weise erregend wäre, meiner Partnerin Demütigungen, Qua­len oder folterähnliche Handlungen zuzumuten. Tränen rühren mich, ich habe sie mal als das ultimative Lösungsmittel einer Frau beschrieben.

In Maßen mögen solche Praktiken – wie sie eben in den romanti­schen BDSM-Romanen der eingangs erwähnten Reihen und Ver­lage zentral ausgeführt werden – eine anregende Ergänzung des Liebesspiels von Paaren (oder auch Dreiern oder größeren Gruppen) sein. Sie als essenziell für eine Beziehung anzusehen, scheint mir mehrheitlich ein großes Risiko darzustellen. Aber es gibt andererseits auch Menschen, für die diese Art von Sexuali­tät die einzige Möglichkeit darstellt, die romantisch verklärten Höhepunkte der Lust zu erreichen und vollendeten Genuss zu erleben. Man sollte ihnen weniger mit Ablehnung und Abscheu als mit Verständnis begegnen.

Natürlich betont Sophie Morgan ebenso wie die meisten Verfas­serinnen von BDSM-Romanen, dass solche Handlungen nur in Übereinstimmung mit den Wünschen des Partners oder der Part­nerin herbeigeführt werden sollten, und dass sie maßvoll zu bleiben haben. Die Autorin überschreitet hier allerdings den Ru­bikon, um es mal so zu sagen, und sie führt uns an der Hand in einen Bereich der menschlichen Psyche, der tatsächlich dunkel und abgründig zu nennen ist.

Dies tut sie nicht in dem Wunsch, um zu schockieren. Sie möch­te vielmehr damit zum Ausdruck bringen: He, schaut her, ich bin nicht das Produkt einer verkorksten Vergangenheit (wie etwa Christian Grey! Wer James´ Romane gelesen hat, weiß Be­scheid, was ich hier andeuten möchte), das mit Geduld und viel Liebe wieder auf den richtigen Pfad der Tugend zurückgebracht werden muss. Ich bin nicht unglücklich und elend und werde un­terdrückt und misshandelt, weil ich mich dagegen nicht zu weh­ren verstehe. Ich bin auch nicht ein unselbständiges Ding, das einer chauvinistischen, archaischen Macho-Denkweise unter­worfen wird – ich tue es vielmehr aus freien Stücken, behalte meinen eigenen Willen und ziehe Genuss daraus, von meinem Herrn und Meister gezielt und raffiniert über die unsichtbaren Grenzen in meinem Herzen getrieben zu werden.

Sophie Morgan ist, wie sie bis zum Schluss beweist, eine Person, die durchaus ihr eigenes Urteilsvermögen nicht eingebüßt hat und nach wie vor zur Reflexion mehr als imstande ist. Das ver­leiht dem Buch Charakter und hebt es eindeutig von der Ro­mantisierung a la Fifty Shades of Grey“ ab. Wo eine Anasta­sia Steele am Ende von Band 1 bereits nach sechs Hieben das Weite sucht, würde sich Sophie Morgan vorher bereitwillig fes­seln lassen, damit sie den Hieben nicht mehr ausweichen kann. Und sich dann gnadenlos 100 Hiebe versetzen lassen.

Ihre Leidensfähigkeit ist erschreckend, sie übertrifft letztlich so­gar die ihres dominanten Parts. Und noch erschreckender ver­mutlich, welchen ungeschminkten Genuss sie aus all dem zieht. Das sind Emotionen, die E. L. James fremd geblieben sind. Wer also wirklich in den Abgrund schauen möchte, wissen will, was eine wirklich „unterwürfige Liebhaberin“ ausmacht und wie sie sich fühlt, der sollte hier hineinschauen.

Dies ist definitiv ein Buch, das den Horizont für die psychologi­schen Tiefen der menschlichen Seelenabgründe weitet und, so würde ich das wenigstens sehen, die Toleranz auch gegen der Gruppe von Menschen ermöglicht, die sonst in unserer ach so aufgeklärten Gesellschaft nach wie vor tabuisiert und totge­schwiegen werden. Ein bemerkenswertes Werk, dem ich defini­tiv eine Menge interessierter Leser wünsche.

© 2017 by Uwe Lammers

In der kommenden Woche wird es sehr viel entspannter, wenn­gleich auch immer noch dramatisch. Ich stelle euch den dritten Teil von Arthur C. Clarkes und Gentry Lees „Rama“-Zyklus vor.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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