Liebe Freunde des OSM,
allein der Titel dieses Romans machte schon allerlei Hoffnung, als ich ihn vor rund sechs Jahren las. Ich schätze es, unverblümte Titel zu lesen, sofern der Inhalt des Buches dem Titel auch gerecht wird. Hier stimmt er auf alle Fälle. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich ihn empfehle.
Als ich ihn wieder aus der großen Schar der noch nicht veröffentlichten Rezensionen auswählte, fand ich es geradezu frappierend (und nicht wenig bestürzend), wie aktuell er zahlreiche heute in Mode befindliche Problemkomplexe wie unter einem Brennglas in sich vereinigt. Das mag zur Folge haben, dass manch einer von euch ihn vielleicht nicht wird lesen wollen. Aber zählen wir doch mal auf, worum es hier – neben einer durchaus heißen erotischen Geschichte – noch so geht.
Wir haben es beispielsweise mit klaren Fällen von Rassismus und gesellschaftlicher Ausgrenzung zu tun. Es geht um Auswüchse von Homophobie. In gewisser Weise deuten sich hier Strukturen an, die heutzutage in der überhitzten Gender-Debatte zu sinnlosen Frontstellungen führen. Wir finden das Thema der Leihmutterschaft vor und gesellschaftliche Heuchelei.
Wenn ich mir dann anschaue, dass zahlreiche Millionen Amerikaner gegenwärtig einen rechtskräftig verurteilten Verbrecher, Rassisten und Sexisten erneut zum Präsidenten gewählt haben, der ausdrücklich eine Pornodarstellerin mit Schweigegeld schmieren wollte, um seine Affäre mit ihr zu vertuschen, dann wird mir schon einigermaßen unbehaglich. Hier wird Bigotterie gewissermaßen auf höchstem Niveau betrieben. Und auch der unten angesprochene Punkt der fehlenden sexuellen Aufklärung an Schulen – oder auch in Bibliotheken – wird zurzeit massiv behindert, indem Bibliothekare verfolgt werden mit dem Vorwurf, in ihren Institutionen würde mit „pornografischer Literatur“ die Jugend verdorben.
Das ist tatsächlich „Amerikas Bücherkrieg“, der auch etwa zum Verbrennen von Harry Potter-Romanen geführt hat (man schaue sich mal die gleichnamige Dokumentation auf Youtube an, die bei ARTE ausgestrahlt wurde). Das ist nichts Geringeres als Zensur, und die Bibliothekarinnen werden mit Rufmordkampagnen und Morddrohungen eingeschüchtert … schweigen wir mal von den in diesem Zusammenhang geschürten Mobbing-Hass gegen die LGBTQ+-Gemeinde in den USA.
Auf einigermaßen bestürzende Weise fand ich also, als ich diese Rezension noch einmal für die heutige Veröffentlichung nachbearbeitete, dass viele der dort angesprochenen Problemfelder heute vielleicht noch mehr akut sind als vor sechs Jahren. Oder vor acht Jahren, als das Buch erstmals auf Deutsch erschien.
Sensible LeserInnen werden feststellen, dass zwischen diesen Buchdeckeln deutlich mehr verbirgt als „nur“ ein seichter erotischer Roman. Richtig gelesen ist es durchaus echter gesellschaftlicher Sprengstoff (und deshalb vermutlich in den USA bestimmt schon von der Zensur aus den Regalen verbannt …)
Lest weiter, Freunde:
Sugar & Spice 1: Glühende Leidenschaft
(OT: Spice)
von Seressia Glass
Knaur 52161, November 2017
384 Seiten (eigentlich nur 360), TB
Aus dem Amerikanischen von Nicole Hölsken
ISBN 978-3-426-52161-8
Die Kleinstadt Crimson Bay liegt im entspannten Hinterland von Los Angeles, ist aber von der Stadt der Engel doch so weit entfernt, dass der Takt der Zeit hier deutlich langsamer geht. Das ist genau richtig für eine begeisterte Köchin wie Nadia Spiceland, die sich vor vier Jahren hierher zurückgezogen hat. Vorher stand sie massiv im Fokus der Öffentlichkeit, moderierte eine prominente Kochshow im Fernsehen … und stürzte dann vollständig ab. Stress, Beziehungsprobleme, Tablettensucht, Skandale – schließlich war es Zeit für einen vollständigen Wechsel.
Dank ihrer während der Therapie kennen gelernten Gefährtin Siobhan Malloy, die im Gegensatz zu der eher dunklen Nadia hellhäutig ist, kommen die Freundinnen überein, in Crimson Bay ein Café aufzumachen, das „Sugar & Spice“. Und weil man hier zwar die Herscher University finden kann, aber definitiv keine Selbsthilfegruppen für ehemalige Suchtkranke, machen die beiden parallel dazu selbst eine auf. Und so stoßen die sexsüchtige Audie (die leider den ganzen Roman hinweg keinen Nachnamen bekommt!) und Vanessa Longfellow zu ihnen.
Sie haben alle so ihre Pakete zu tragen: Nadia ihre überwundene Tablettensucht, die zugleich mit Männerabstinenz einhergeht, Vanessa kämpft immer noch gegen die überwundene Alkoholabhängigkeit an, Audie kann an keinem attraktiven Kerl vorbeigehen, ohne ihn umgehend abzuschleppen … und Siobhan, die älteste Gefährtin in der Runde mit Mitte Dreißig, hat eine achtzehnjährige Tochter, die nicht mehr mit ihr redet, und auch das hat damit zu tun, dass Vanessa sowohl ihre Ehe als auch die Beziehung zu ihrer Tochter mit der Tablettensucht an die Wand gefahren hat.
Dennoch … jetzt lebt es sich eigentlich ganz gut für die Freundinnen in Crimson Bay. Zumindest, wenn man nicht zu genau hinschaut. Wenn man indes ein wenig Einblick hat, erkennt man rasch die wahren und immer noch real existenten Abgründe: Nadia mit ihrer panischen Bindungsangst. Vanessa mit der Vorstellung, ihr Liebesleben sei im Prinzip abgeschlossen, solange sie die Beziehung zu ihrer Tochter nicht wieder kitten kann. Audie, die sich nicht gegen männliche Reize zu immunisieren versteht. Und Siobhan macht ihr Hobby einer Burlesque-Show gewissermaßen neben ihrer Tätigkeit im Café zu ihrem Ersatzleben.
Männer? Auch hier: Fehlanzeige.
Dann aber wird der junge, attraktive Professor Kaname Sullivan (mit irisch-japanischen Wurzeln) auf die intelligente, schöne Nadia aufmerksam. Und überredet von ihren Freundinnen entschließt sie sich kurzerhand dazu, es mit einer kleinen Affäre zu versuchen. Entsprechend seiner Profession als Sexualpsychologe an der Universität, der unter Studentinnen als „Professor Sex“ gilt, wird die sonst so vorsichtige Nadia von dieser Tatsache angestachelt und überreicht ihm gleich beim ersten Date in einem Restaurant kurzerhand eine Fernbedienung für einen Vibrator, den sie angelegt hat … und der Abend treibt sie daraufhin schier in den Wahnsinn. Bald darauf hat Nadia den leidenschaftlichsten Sex aller Zeiten und lässt sich zunehmend auf mehr aufreizende Spielchen mit ihm ein.
Sie entdeckt zu ihrer Beunruhigung allerdings auch, wie aus dieser reinen Sexbeziehung allmählich immer mehr wird. Wie kann es sein, dass sie es so genießt, neben ihm einzuschlafen, an seinen warmen, muskulösen Körper angekuschelt? Wie ist es möglich, dass sie ihm Dinge erlaubt, die sie vorher für undenkbar hielt (etwa gefesselt von der Decke zu hängen oder Intimschmuck zu tragen)? So sehr sie es genießt, mit ihm zusammen zu sein, so verunsichernd ist das alles doch auch für sie.
Und dann kommen ihre Väter ins Spiel … Väter, ja, denn Nadia und ihr Bruder Sergey wurden von derselben Leihmutter ausgetragen. Victor und Nicholas Spiceland leben als schwules Elternpaar zusammen, und sie haben von ihren russischen Wurzeln die Kochleidenschaft an Nadia vererbt. Folgerichtig dreht sich sehr vieles um Kochen – und interessanterweise ist das auch eine Leidenschaft Kane Sullivans (Kaname ist sein voller Name, aber üblicherweise zieht er Kane vor). Während die beiden Verliebten sehr schnell auf einer Wellenlänge schwingen, rauschen unvermittelt Nadias Väter herein und nehmen sowohl Tochter wie Liebhaber ins Kreuzverhör.
Für Kane geht das grundsätzlich gut aus – aber er hat derweil andere Sorgen, die beruflicher Natur sind und seine Stellung an der Universität bedrohen. Als Nadia davon erfährt, wird ihr klar, dass sich eine Entscheidung anbahnt … und sie meint sicher davon ausgehen zu können, wie sie aussieht. Wenn er sich zwischen Karriere und einer stürmischen Beziehung zu einer ehemaligen Tablettensüchtigen entscheiden muss, ist ja wohl offensichtlich, für was er sich entscheiden wird … auch wenn sie weiß, dass es ihr Herz zerschmettert.
Aber ist in diesem Punkt auf ihre Intuition Verlass …?
Mit Seressia Glass entdeckte ich wieder einmal eine mir unbekannte Erotikautorin, die leidenschaftliche Liebesszenen mit interessanten Protagonisten verbindet und dabei zugleich ernsthafte Probleme der amerikanischen Gesellschaft anspricht. Man redet ja gern davon, dass die USA sich schlagwortartig als „Land of the Free“ apostrophieren. Wenn man sich die politische Realität dieses Landes anschaut und den vielerorts offenen Rassismus, vom Sexismus ganz zu schweigen, dann weiß man jedoch, dass das ein sehr brüchiges Schutzschild vor einer sehr viel brutaleren Wahrheit ist. Ähnlich sieht es mit den bizarren Auswüchsen der Heuchelei aus, die als starke Unterströmung in diesem Roman die Liebesbeziehung zwischen Kane Sullivan und Nadia Spiceland (toller Name, echt!) bedrohen.
Kane wird unverhohlen nahe gelegt, er möge doch, um seinen Ruf an der Universität zu festigen, sich „eine Frau zulegen“, also heiraten. Dies werde auch der Universität zugute kommen, wird ihm durch die Blume signalisiert. Als er dann Nadia mit zu einer universitären Veranstaltung mitbringt, zeigt sich jedoch rasch, dass nicht jede Frau wirklich akzeptabel ist. Einen makellosen Ruf haben sollte sie schon (oder wenigstens nach außen hin, doch wehe, ihre Probleme gingen jemals durch die Presse). Nadia Spiceland gilt also auch vier Jahren nach dem Karriereaus noch als gesellschaftlich verbrannt, und wer sich mit ihr abgibt, aufrichtige Gefühle hin oder her, stürzt notwendig ebenfalls ab. Kane ist das so klar nicht, er bekommt es aber bald drastisch zu spüren.
Ich fühlte mich bei diesen leider sehr lebensnahen Darstellungen an die verrückte, arg verklemmte Heuchelei in weiten amerikanischen Kreisen erinnert, was die Darstellung von sexuellen Aktivitäten angeht. Einerseits predigen evangelikale Priester gegen Abtreibungen und dafür, Sex erst in der Ehe erleben zu dürfen und allein zum Zwecke der Fortpflanzung zu praktizieren (als wenn es nicht schon genug Menschen auf der Welt gäbe!).
Auf der anderen Seite werden im gleichen Land Abtreibungsärzte umgebracht, während die Zahlen von Minderjährigen-Schwangerschaften in astronomische Höhen schießen, nicht zuletzt deshalb, weil Aufklärungsunterricht gestrichen wurde, Teenager aber nun eben einmal erotische Erfahrungen machen wollen und auch machen. Jugendliche sind eben einfach so – und wer nicht aufgeklärt wird, kommt dann womöglich mit 16 Jahren schon zu unerwünschtem Nachwuchs. Das macht aus den Mädchen keine Huren, aber aus den notorisch aufklärungsresistenten Eltern ausgesprochene Rabeneltern und eindeutige Mistkerle, die die Verantwortung für das Geschehene heuchlerisch von sich schieben und die Kinder kriminalisieren. Reden wir nicht von den Geistlichen, die kaum besser drauf sind!
Die Erwachsenen hingegen wünschen sich nach außen oftmals eine ehrbare, repräsentable Gattin, aber hinter verschlossenen Schlafzimmertüren soll sie sich dann doch bitte lustvoll und hemmungslos wie eine Hure gebärden … aber natürlich nur beim Ehemann. Andere Verhältnisse werden gern mit Geldzahlungen zum Schweigen verpflichtet, wie wir ja gegenwärtig an höchster Regierungsstelle mitbekommen haben. Doppelmoral und Heuchelei sind noch freundliche Ausdrücke für solch eine bizarre psychologische Verwerfung der Gesellschaft.
Im Falle von Tablettensucht, Alkoholabhängigkeit und sozialgesellschaftlich zerstörerischem Tratsch schlägt Seressia Glass hier in ganz dieselbe Kerbe. Und so wird Nadia Spicelands Neuanfang ebenso wie ihre aufkeimende Beziehung zu Kane Sullivan massiv von den traumatischen Schatten ihrer Vergangenheit verfinstert, bis fast alles den Bach heruntergeht.
„Sugar & Spice“ erinnert zwar vom Titel her zu Beginn etwas an die Spice Girls, aber es entwickelt sich temperamentvoll und einfallsreich weiter, hier wird sowohl eine Lanze für die Underdogs gebrochen als auch für alternative Beziehungsmodelle und für umfassende Toleranz. Und während sich dieser erste von vier Bänden mit Nadia (alias „Spice“) beschäftigt, geht es im kommenden Band um Siobhan („Sugar“), deren Beziehungsspur schon in diesem Roman leicht begonnen hat. Aufmerksame Leser werden das festgestellt haben.
Ich bin sehr neugierig, wie die anderen drei Freundinnen sich so schlagen und sich ihre Leben entwickeln. Eindeutige Leseempfehlung für romantische Seelen, die sich gern auch mit exotischen Charakteren abgeben möchten. Da seid ihr hier genau richtig.
Ach, und warum habe ich oben bei der Seitenzahl differenziert? Ganz einfach: der Roman hört effektiv auf Seite 360 auf, daran schließt sich eine den wahren Umfang verzerrende Leseprobe aus dem zweiten Band an. Hielt ich nicht wirklich für erforderlich, ich werde sowieso weiterlesen …
© 2019 by Uwe Lammers
In der kommenden Woche geht es wieder hinaus in kosmische Weiten. Ich bespreche dann Gentry Lees Abschlussband des Rama-Vierteilers, den Arthur C. Clarke in den 70er Jahren begann. Das wird sich ebenfalls lohnen, versprochen!
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.