Rezensions-Blog 42: Der große Eisenbahnraub

Posted Januar 13th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wer bei dem Titel jetzt an Ronald Biggs und Konsorten denkt und im zwanzigs­ten Jahrhundert landet, mag zwar über die jüngere Vergangenheit gut orientiert sein, aber er irrt sich gewaltig im Stoff des vorliegenden, ausgezeichneten Ro­mans. Dafür muss man noch ein gutes Jahrhundert weiter zurückreisen, in die viktorianische Epoche und die Zeit des Krimkrieges.

Da ich heute aber noch finde, dass mir die Rezension so gelungen und launig ist, verbieten sich eigentlich ausführliche Einleitungen. Ich lasse euch einfach gleich mal so auf dieses sehr vergnügliche, raffinierte Buch los und hoffe, dass diejeni­gen, die es kennen, die Rezension gelungen finden… und diejenigen, die nach der Lektüre der Rezension neugierig geworden sein sollten, worauf ich immer spekulieren möchte, sich umgehend auf die Suche nach dem Werk begeben.

Schauen wir es und mal näher an:

Der große Eisenbahnraub

(OT: The Great Train Robbery)

von Michael Crichton

Knaur 60291, April 1994 (eigentlich: 1976)

352 Seiten, TB

Aus dem Englischen von Hans-Joachim Maass

ISBN 3-426-60291-1

Die Weltgeschichte wimmelt von unwahrscheinlichen Begebenheiten, und eine der vielleicht unwahrscheinlichsten führte im Jahre 1855 zu etwas, was man aus der Nachbetrachtung heraus als das perfekte Verbrechen bezeichnen könnte, jedenfalls als eine Wunschphantasie für einen jeden Verbrecher – und damit ist es kaum weniger unwahrscheinlich als die Ursache selbst. Dennoch sind beide Ereignisse vollständig real.

Als im Jahre 1847 in der Geburtskirche in Bethlehem ein silberner Stern durch osmanische Offizielle entfernt wurde, konnten die Verantwortlichen sich in ih­rer kühnsten Phantasie nicht vorstellen, dass dieses an und für sich banale Er­eignis letzten Endes zum Tode von wenigstens 165.000 Menschen führen sollte, darunter rund 37.500 Russen und 22.000 Engländer.

Der kleine Anlass führte nämlich letzten Endes zu einem militärischen Waffen­gang, der auf den ersten Blick mit dem Heiligen Land und der Geburtskirche in Bethlehem so gar nichts zu tun hatte – zum Krimkrieg, der am Schwarzen Meer zwischen 1853 und 1856 tobte. Dort standen die Engländer, die Franzosen, das Königreich Sardinien und das Osmanische Reich als Alliierte dem Russischen Reich gegenüber.

Man sieht keinen Zusammenhang? Nun, ich sagte schon, dies ist eine sehr un­wahrscheinliche, aber wahre Geschichte. Die Hintergründe sehen wie folgt aus:

Das Russische Reich versuchte schon seit langem, sich Teile des Osmanischen Reiches einzuverleiben (dies galt als „kranker Mann am Bosporus“, weil seine Macht seit langem dahinschwand) und war dafür stets auf der Suche nach ge­eigneten Anlässen. Die Entfernung des Sterns aus der Geburtskirche Jesu in Bethlehem stellte einen solchen Anlass dar – der Zar sah die Christen in der Re­gion Palästina gefährdet und bestand darauf, die alleinige Schirmherrschaft über sie auszuüben. Dadurch kollidierte er mit dem osmanischen Sultan und seinen Rechten in der Region und ebenfalls mit den Vorstellungen des christli­chen, französischen Kaisers. Um nun die russischen Pläne wirksam zu durch­kreuzen, kam es letztlich zu einem 1853 eskalierenden militärischen Konflikt, in deren Strudel auch der frühere französische Erbfeind England einbezogen wur­de.

Es mag für diese kurze Skizze der Hintergründe genügen, dass die Briten schließlich mit mehr als 26.000 Soldaten auf dem Kriegsschauplatz zugegen wa­ren, der sich letztlich auf die Krimhalbinsel am Schwarzen Meer konzentrierte. Und wie das natürlich mit Soldaten ist, so mussten sie ihren Sold erhalten. Er wurde in Goldbarren gezahlt, und jede Lieferung umfasste einen Wert von 12.000 Pfund Sterling (heute mehrere Millionen Euro). Dieser Sold wurde in England mit einem speziell gesicherten Eisenbahntransport via Frankreich und von dort weiter an die Krim transportiert. Und damit sind wir bei dem zweiten unwahrscheinlichen Faktum – bei dem großen Eisenbahnraub.

Der Kopf des Unternehmens hieß, wenigstens heißt es allgemein so, Edward Pierce. Nach den Beschreibungen von Zeitgenossen war er ein eleganter, distin­guierter Mann Anfang der Dreißig mit rotem Vollbart, kleidete sich erlesen und wirkte darum äußerst seriös. In Wahrheit war er Einbrecher und hieß womög­lich ganz anders. Seine Biografie liegt im Dunkeln. Was man jedenfalls weiß, ist, dass er seit 1854 den Plan verfolgte, das Unmögliche zu wagen – nämlich den London-Paris-Express zu überfallen und das Krimgold zu erbeuten. Etwas, was mit Fug und Recht für ausgeschlossen gehalten wurde und was Pierce noch da­durch zu erschweren gedachte durch den Umstand, dass es niemand mitbe­kommen sollte!

Das Gold wurde in zwei tonnenschweren Safes der renommierten Safebau-Fir­ma Chubb via Eisenbahn transportiert. Jeder Safe verfügte über zwei unter­schiedliche Schlösser, und wer sich mit Safes der damaligen Zeit auskennt, der weiß, dass es nicht viele Möglichkeiten gab, an die Inhalte zu kommen. Kombi­nationsschlosser waren noch unbekannt, so dass man im Grunde genommen nur drei Möglichkeiten besaß, an den Inhalt zu kommen: entweder, man raubte die Safes zur Gänze (was sich hier natürlich aus verschiedenen Gründen verbot), man verlegte sich auf langwierige und umständliche Aufbohraktionen (dafür war weder Zeit, noch ließ Pierces Plan, dass der Raub unbemerkt bleiben sollte, ein solches Vorgehen zu)… und drittens konnte man sich die Schlüssel besorgen oder wenigstens Duplikate davon herstellen. Dazu musste man sie freilich erst mal in die Finger bekommen.

Pierce wählte den letzteren Weg als einzig gangbaren… jedenfalls auf den ers­ten Blick schien er der einzig gangbare zu sein. Wenn man genau hinschaute, ließ sich mit Fug und Recht auch daran zweifeln. Denn diese vier Schlüssel wa­ren auf drei verschiedene (geheime) Orte verteilt und wurden überall stark be­wacht. Die Wachmänner galten als unbestechlich, und aus begreiflichen Grün­den konnten die Verantwortlichen gut schlafen – es war unmöglich, dieses Gold zu bekommen, völlig ausgeschlossen.

Nun, Pierce war indes ein raffinierter Kopf, sehr geduldig und einfallsreich. Und mit Hilfe von „Baldowerern“, „Schlangenjungen“, Taschendieben, Dirnen, einem Mann aus dem „Auferstehungsgewerbe“, einem Leoparden, viel Bleischrot, Lug und Trug, dreistem Auftreten, einer Leiche und einer gewissen Lebensmüdigkeit gelang schließlich doch das Manöver, das im Jahre 1855 bald als „großer Eisen­bahnraub“ in die Geschichte eingehen sollte. Denn das Erlangen der Schlüssel war ja nur die halbe Miete – nun galt es, das Gold aus einem fahrenden Zug zu stehlen, und zwar so, dass es keiner merkte…

Wie das alles genau umgesetzt wurde, rekonstruiert der im Jahre 2009 verstor­bene Bestsellerautor Michael Crichton in diesem Werk, einem seiner packen­den frühen Romane. Die genaue literarische Einordnung des Buches ist ein we­nig schwierig. Einerseits ist es natürlich ein Roman und damit – was beispiels­weise die Dialoge angeht – mehrheitlich fiktiv. Andererseits gibt es weite Passa­gen erklärenden und erläuternden Inhalts, die Crichton unzweifelhaft aus Sach­büchern über das viktorianische Zeitalter übernommen hat und die dem Roman ein schillerndes Lokalkolorit verleihen.

Man lernt viel über Scotland Yard, über Safebau in England, über die Etiketten der guten Gesellschaft, über die Rolle der Frau im viktorianischen Zeitalter, über die bizarren Vorstellungen, die sich die Leute von Eisenbahnen machten, eine ganze Menge über die Untiefen des organisierten Verbrechens und seine vielfäl­tigen Erscheinungsformen, illegale Tierkämpfe, viktorianische Sittenvorstellun­gen und dergleichen… es ist also zu sagen, dass dieser Roman entgegen der Vorstellung, die manche Leute von historischen Romanen haben, alles andere als „Geschwafel in interessanter Kulisse“ ist. Das Buch ist darum eine zutiefst anregende Lektüre, die gleichzeitig das Wissen über jene Zeit wieder auffrischt und neugierig auf die historischen Hintergründe macht.

Gleichzeitig ist es ein ausgezeichnetes Lesevergnügen, das an vielen Stellen die Gewähr für lautes Auflachen bietet und hervorragend unterhält. In der Tat ist es so flott geschrieben und übersetzt, dass man sich nur schwer von den Zeilen losreißen kann. Und als Leser fiebert man in gewisser Weise mit dem „finsteren Genie“ des Edward Pierce mit, der über ein Jahr harte Arbeit in das Unterneh­men Eisenbahnraub steckt, und irgendwie wünscht man ihm den Erfolg, den er schließlich auch hat.

Wie das genau vonstatten geht, soll hier nicht verraten werden. Und natürlich ist das auch noch nicht das Ende der Fahnenstange, denn selbstverständlich wird der Raub dennoch entdeckt und die Strafverfolgung setzt ein. Was immer noch nicht das Ende der Geschichte ist…

Alles in allem war der von Michael Crichton spannend aufgearbeitete Stoff für Hollywood so interessant, dass es den Roman schließlich verfilmte. Die Hauptrolle des Bösewichts Edward Pierce – den übrigens selbst Queen Victoria gern kennen gelernt hätte! – wurde, äußerst passend, mit dem einstigen James Bond-Mimen Sean Connery besetzt, womit die Verfilmung zu einem Erfolg wur­de.

Sowohl der Film als auch, insbesondere, das Buch, lohnen also die Aufmerk­samkeit des historisch Interessierten. Und wer danach noch mehr über den Krimkrieg (der seinen Namen, streng genommen, zu Unrecht trug) erfahren möchte, sei auf die WIKIPEDIA-Seite „Krimkrieg“ verwiesen, wo auch ausführli­che Literaturangaben zu entdecken sind.1

© by Uwe Lammers, 2009

Fürwahr, eine schöne Entdeckung habe ich da damals gemacht, und das Buch ist noch immer ein leckeres Schmankerl in meiner Büchersammlung… ich sollte es beizeiten mal wieder lesen.

In der kommenden Woche nehme ich euch an der Seite von Dr. Henry Jones jr. mal wieder auf die Abenteuerjagd mit. Wer neugierig ist, schaue in einer Wo­che wieder herein.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 In der Version vom 6.4.2009 fehlt freilich eine Referenz auf dieses Buch.

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