Rezensions-Blog 452: Der Leibwächter

Posted April 16th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

also, ich lasse schon mal die Katze aus dem Sack – diesmal geht es nach North Carolina in eine recht verzwickte Familienge­schichte. Strukturell ließ ich zwar 2019, als ich das Buch las und rezensierte, ziemlich wenig gute Haare an ihm, aber wenn man mal ein wenig genauer nachliest, werdet ihr entdecken, dass ich dem Werk an sich absolut nicht ablehnend gegenüberstand.

Ohne Frage versteht die Autorin einiges von Kindern und Pro­blemfamilien, das spürt man recht schnell. Was das Aufbauen einer gescheiten Storyline und dem Personalbestand dann eher nicht sagen kann … aber vertraut mir, darauf kommt es eigent­lich gar nicht mehr so zentral an, wenn man sich erst mal in die Geschichte hineinsaugen lässt.

Sehr tiefgründig würde ich sie immer noch nicht nennen, aber doch recht interessant und lesenswert – Entspannungslektüre, die nach einem dramatischen Buch wie dem der vergangenen Woche durchaus angemessen ist.

Also, im Detail geht es um Folgendes …

Der Leibwächter

(OT: Say No To Joe?)

Von Lori Foster

Pavillon 77114

384 Seiten, TB (2006)

Aus dem Amerikanischen von Michael Koseler

ISBN 978-3-453-77114-7

Auf Klappentexte ist kein Verlass – meistens nicht. Hier haben wir wieder so ein Beispiel, wo der Klappentext genau das Ge­genteil von dem aussagt, was im Roman geschieht (schweigen wir mal von dem nicht minder irreführenden deutschen Titel!) … skeptischere Geister als ich könnten das als böswillige Irrefüh­rung des Lesers interpretieren, aber ehrlich, darauf kommt es in diesem Fall gar nicht an. Der Roman ist so mitreißend und ver­gnüglich geschrieben und vor allen Dingen übersetzt, dass man diesen Fauxpas ebenso schnell vergisst wie die zahlreichen gro­tesken Trennungsfehler (so wird der Mädchenname „Willow“ no­torisch durch das gesamte Buch mit „Will-ow“ falsch getrennt). Man gewinnt darum rasch den Eindruck, dass beim Lektorat hier in diesem Billiglabel von Heyne mächtig gespart worden ist. Das ist schade, denn die Geschichte ist, wiewohl von der Kern­substanz her äußerst durchsichtig, doch sehr unterhaltsam.

Worum geht es im Detail?

Joe Winston ist in seinem Leben schon vieles gewesen – Polizist, liebender Familienangehöriger für die Kinder seiner Geschwis­ter, schlussendlich Kopfgeldjäger in den USA, und ein höchst er­folgreicher noch dazu. Ein Hüne von Mann, der scheinbar allem gewachsen ist und der zudem aufgrund seines Charismas und seines phantastischen Körpers reihenweise Mädels ins Bett zieht. Aber er ist eines definitiv nicht: ein Mann, der sesshaft wird und eine Familie gründet. Vorher setzt er Mädchen mit ent­sprechenden Gedanken im Kopf kurzerhand vor die Tür oder sucht seinerseits das Weite.

Das alles ist der jungen und attraktiven Luna Clark absolut be­wusst. Und tief in ihrem Herzen mag sie Joe Winston auch über­haupt nicht. Sie hat zuletzt als Assistentin einer Wahrsagerin gearbeitet und beim einzigen Mal, bei dem Joe ihr nahe kam, nachdrücklich gezeigt, was sie von solchen Annäherungsversu­chen hält, nämlich gar nichts. Seither sind die beiden wie Hund und Katze und meiden einander. Dummerweise ist Luna recht gut mit Joes Brüdern befreundet, und sie laufen sich deshalb häufiger über den Weg als gewünscht. Als von Luna gewünscht. Denn Joe macht keinen Hehl daraus, dass er sie in seinem Bett haben will.

Und nun muss sie Joe Winston aufsuchen und ihn um Hilfe bit­ten (der Klappentext, auf dem steht, dass ER ihr seine Hilfe an­bietet, stellt darum die Fakten auf den Kopf). Ihre Cousine Chloe Calder ist bereits vor einigen Monaten bei einem Autounfall ge­storben, und nun hat der Children’s Protective Service sie als die einzige brauchbare Verwandte ausgemacht und bittet Luna darum, dass sie sich um die beiden minderjährigen Kinder von Chloe kümmern soll, die in Chloes Haus in North Carolina zu­rückgeblieben sind und dort derzeit von einer Tante betreut werden. Angeblich kommt sie mit ihnen aber nicht klar.

Luna ist unwohl bei der Sache, sie hat als Einzelkind noch nie mit anderen Kindern viel Umgang gehabt. Aber sie stellt sich vor, dass Joe ihr da helfen könne, zumal deshalb, weil die Kinder angeblich Schwierigkeiten haben und Joe nun einmal jemand ist, der gut mit Schwierigkeiten umgehen kann.

Doch als sie zu Joe vordringt, ist er zum einen von zwei auf­dringlichen Frauen umlagert, derweil er bäuchlings auf seinem Bett liegt und zu schlafen scheint, zum anderen erweist es sich, als Luna die aufdringlichen „Schlampen“ vertrieben hat, dass je­mand Joe übel zusammengeschlagen hat. Das weckt unver­meidlich ihren Bemutterungsinstinkt. Joe hasst es, von einer Frau bemuttert zu werden … aber es gefällt ihm, dass es ausge­rechnet Luna ist, die sich nun um ihn kümmert.

Dummerweise hat Joe auch einen Verdacht, wer ihm ans Leder wollte – ein Ganove namens Bruno Caldwell, den er hinter Gitter gebracht hat. Bruno will ihm nicht nur einen Denkzettel verpas­sen, sondern ihm das Lebenslicht ausblasen, davon ist Joe fest überzeugt, und ein nächtlicher Einbruch in Lunas Gegenwart überzeugt die beiden davon, dass es besser ist, sich auf Lunas Ansinnen einzulassen und nach North Carolina zu fahren.

Zu dumm, dass sie verfolgt werden.

Zu dumm erst recht, dass sie vom Regen in die Traufe kommen.

Denn in North Carolina erwartet sie ein regelrechter Sumpf aus verwirrenden Fakten und Problemen: Chloe Calder wohnte in ei­nem großen Haus an einem See, zu dem ein Privatbad gehörte, das inzwischen aber geschlossen ist. Ein weitläufiges Stück Land rings um den See gehört ebenfalls, aber das Haus erweist sich als recht heruntergekommen… und dort streiten sich drei Frauen, als die beiden eintreffen.

Eine davon ist Dinah Belle, die Haushälterin, die sofort anfängt, Joe anzuflirten (sehr zu Lunas Unwillen!). Die zweite stellt Patri­cia Abbot dar, die Tante der beiden Kinder, eine herrische Per­son, die die Rolle der Mutter einnehmen soll. Und die dritte im Bunde ist Julie Rose, eine Aushilfslehrerin, die sich um den Un­terricht der beiden Kinder kümmern soll. Willow Calder, das 14 Jahre alte Mädchen sei recht intelligent und besonders musika­lisch begabt. Der neunjährige Austin Calder hingegen wird be­sonders von Dinah und Patricia als nichtsnutziger Taugenichts bezeichnet, der nur ungehorsam ist, Fensterscheiben einwerfe, sich mit anderen Kindern raufe und völlig verwahrlost sei.

Wo die Kinder denn jetzt seien, werden sie daraufhin notwendig gefragt. „Draußen irgendwo“, erfahren die beiden Angekomme­nen zu ihrer Fassungslosigkeit. Ein allgemeines Klima von Lieb­losigkeit und Verwahrlosung regiert, und Patricia macht keinen Hehl daraus, dass sie am liebsten mit den Kindern von hier fort­ziehen würde, weil sie im Ort doch nur angefeindet würden und man sie ablehne. Das habe wohl damit zu tun, dass sie uneheli­che Kinder seien und der unbekannte Vater sich einst abgesetzt habe, ohne bekannt zu sein.

Nun, der Nachmittag endet damit, dass Dinah Belle kurzerhand von Luna gefeuert wird und sie sich alsbald mit den beiden ein­getroffenen Kindern zaghaft anzufreunden beginnen. Dabei er­weist sich schnell, dass die Dinge noch deutlich schlimmer ste­hen: nicht nur sind Joe und Luna nach North Carolina verfolgt worden und müssen befürchten, dass Bruno Caldwell ihnen nun Probleme machen und damit auch die Kinder in Gefahr bringen wird. Willow wird zudem von dem Halbstarken Clay Owen beläs­tigt und als Hure beschimpft. Dummerweise ist er der Sohn des mächtigen Bürgermeisters Quincy Owen, dem zahlreiche Ge­schäfte in der Stadt gehören und der alsbald telefonisch selbst ankündigt, dass die Kinder doch besser die Stadt verlassen soll­ten, weil sie hier nicht wohlgelitten seien.

Aber das alles ist natürlich erst der Anfang des Dramas, und wie zu erwarten ist, liegen die Wurzeln für all die Probleme noch deutlich tiefer. Und leider werden Joe und Luna, während sich ihre zunehmend prickelnde Anziehungskraft zueinander ver­stärkt und dann wieder abschwächt, von Unbekannten obser­viert, abgehört und schließlich auch attackiert …

Die eigentliche Spannung des Romans, das mag jetzt vielleicht unerwartet kommen, resultiert durchaus nicht aus den Mysteri­en der Chloe Calder. Was mit ihr und den Kindern los ist, tritt lei­der schon sehr bald recht deutlich zutage, was eine klar defi­nierbare Ursache hat: die personale Basis des Romans ist zu schmal. Wenn alle Männer, die in der Geschichte auftauchen, entweder heimtückische Schurken von weit her sind oder aber total sympathische und zunehmend vertrauenswürdige Perso­nen, so dass nur noch ein indifferenter Charakter übrig bleibt, dann ist recht klar, woher der Wind weht.

Es ist daher anzunehmen, dass wesentliche Teile der Bruno Caldwell-Geschichte nachträglich eingefügt worden sind, um den arg durchsichtigen Plot zumindest noch ein wenig drama­turgisch aufzupolieren (es gelingt allerdings nur bedingt, wie ich fand). Witzigerweise spielt das gar nicht die wichtige Rolle. Sehr viel interessanter fand ich die komplizierte und durchaus an vie­len Stellen urkomische Psychodynamik zwischen den zentralen Protagonisten, also zwischen Joe und Luna einerseits und ihnen und den Kindern andererseits.

Schön herausgearbeitet wurden die kindliche Skepsis und Re­serve, die schwelende Verlustangst, das notwendige Misstrauen sowie anschließend das Zusammenwachsen zu einer Art von Patchwork-Familie, bei dem immer wieder überschießende (aber durchaus nicht völlig unrealistische) Handlungen den Leser überrumpeln. Es äußert sich in vielen kleinen Details, die die Geschichte einfach liebenswert machen. Da ist beispielsweise Austin, der eine Neigung zum unflätigen Mundwerk hat, was ihm Joe auf charmante Weise abgewöhnt. Da ist Willow, die eher nebenbei verlauten lässt, dass ihre Tante Patricia sie nicht zum Klavierunterricht in die Stadt fahren lässt, weswegen sie den Weg zu Fuß nehmen muss und daraufhin den Drangsalen gleichaltriger Jungen unter Clay Owen ausgeliefert ist. Da sind die Momente, wo Joe und Luna sich so nahe kommen, dass sie sich küssen … und dann bei dem lauten Ruf „Das ist ja eklig!“ auseinander fahren – natürlich hat der hereingeschlichene Aus­tin von Liebe noch keine Ahnung, aber der Leser lacht, weil es völlig plausibel ist, dass Kinder stets zu dem Zeitpunkt herein­platzen, wo es die Erwachsenen am wenigsten gebrauchen kön­nen.

Für romantische Seelen ist das zweifellos ein sehr nettes Buch. Alle Leute, die hingegen eher etwas wirklich Dramatisches oder raffinierter Gestricktes lesen möchten, sollten vielleicht besser auf andere Werke ausweichen. Wenn man nach der Hälfte des Romans schon ahnt, wer der Schurke ist und was geschehen wird, könnte man sonst enttäuscht sein. Der Schurke hat über­dies absolut kein Format, und unglaubwürdig handelt er zudem noch.

Einerlei, eine nette Oberflächenlektüre für maximal vier Leseta­ge. Es gibt aber einwandfrei sehr viel weniger unterhaltsame Bücher.

© 2019 by Uwe Lammers

Und mit dem Sachbuch-Werk der kommenden Woche tauchen wir buchstäblich ab, nämlich auf den Grund der Ostsee. Und was es da Tolles zu sehen gibt, erzähle ich euch in sieben Tagen. Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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