Rezensions-Blog 528: Loge der Lust

Posted Oktober 1st, 2025 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

manchmal habe ich das Gefühl, dass ich selbst schon ziemlich lange in meinem Fundus an (meist) unveröffentlichten Rezensio­nen zu graben habe, um diverse Seitenhinweise in den Werken zuordnen zu können. Hier ist das wieder mal der Fall gewesen. Ich referiere in der unten wiedergegebenen Rezension auf einen älteren Roman der Autorin Sandra Henke, nämlich „Lotosblü­te“, und ich musste graben, um mich zu entsinnen, wann ich euch den hier vorgestellt habe.

Nun, ich schicke die Info vorweg, ehe wir in den eigentlichen Re­zensionstext eintreten: Ich veröffentlichte die Rezension zu „Lo­tosblüte“ im Rezensions-Blog 169, das war am 20. Juni 2018 … wer jetzt sagen möchte, dass das doch schon arg lange zurück­liegt, hat natürlich recht. Aber da alle Blogartikel auf der Web­seite stehen, dürfte es nicht kompliziert werden, unter den we­nigen Artikeln des Monats Juni 2018 die entsprechende Rezensi­on aufzufinden.

Als ich die heutige Rezension vorhin noch mal durchlas und leicht bearbeitete, fiel mir übrigens auf, dass sie strukturell eine gewisse Ähnlichkeit mit der Politsatire „Hot Fuzz“ (allerdings ohne die Metzeleien darin) aufweist. Dort wird freilich ein über­eifriger, supererfolgreicher Polizist in die Provinz verschoben. Hier ist es dann dagegen eher so, dass ein übervorsichtiger Dad seine frischgebackene Polizistentochter „in Sicherheit bringen“ will.

Dass das weder Christeenas Wunsch entspricht noch dem, was sie in dem verschlafenen Örtchen Gardenrye erwartet, das steht auf einem völlig anderen Blatt. Anfangs sieht die neue Adresse für die unglückliche junge Polizistin vollkommen uninteressant und schlichtweg deprimierend aus.

Wie gut, dass dieser erste Eindruck vollkommen täuscht. Tiefe Wasser sind verschwiegen, und die Menschen in Gardenrye ha­ben wirklich aufregende Geheimnisse, denen die junge Protago­nistin auf die Spur kommt.

Wie das konkret aussieht? Schaut einfach mal weiter:

Loge der Lust

Von Sandra Henke

Mira 35011

432 Seiten, TB, Hamburg 2007

ISBN 978-3-89941-391-5

Die junge Christeena McLight („Christeena, mit zwei ‚e’“, wie sie bald geneckt wird, weil sie sich dummerweise so vorstellt) ist eine junge Absolventin der Polizeischule, und sie ist 23 Jahre jung … und das absolute Nesthäkchen, das von ihren wohlha­benden Eltern in London überbehütet wird. Sie fühlt sich dem­entsprechend eingeengt und kann glücklicherweise dem Drän­gen ihres Vaters, sie bei der Londoner Metropolitan Police unter­zubringen, eine Abfuhr erteilen. Stattdessen bemüht er sich er­folgreich um eine andere Anstellung, die seine kleine Teena nicht in Gefahr bringt. Streifendienst etwa soll ja ziemlich ge­fährlich sein, nicht wahr …?

Der Ort, an dem sie dann schließlich ihre erste Anstellung er­hält, heißt Gardenrye, eine kleine Hafenstadt im Norden Eng­lands, in der Nähe von Newcastle upon Tyne. Ein Nest, in dem wirklich Hund und Katze einander gute Nacht sagen, wie es zu­nächst scheint. Die Zeit ist hier offensichtlich in den 90er Jahren stehen geblieben. Internet ist fast ein Fremdwort, Handys scheint es erst seit kurzem zu geben, und was die restliche Technik angeht, davon sollte man gar nicht reden. Vom kulturel­len Angebot, Restaurants oder dergleichen ganz zu schweigen. Schlimmer noch: Teena kommt buchstäblich vom Regen in die Traufe, und alles scheint schief zu gehen. Wirklich, einfach alles.

Ein paar Beispiele, um das zu demonstrieren: sie startet bei schönem Sonnenwetter in London und kommt in einem Wolken­bruch am Ziel an. Ihr Regenschirm liegt daheim in London, und als sie in die Polizeiwache hereinstolpert, ist sie folgerichtig völ­lig durchgeweicht. Die deutlich ältere Empfangsdame Monica begrüßt sie mit herablassender Kühle und Sarkasmus und ver­unsichert Teena vollständig. Ein eigenes Büro hat Christeena noch nicht, von ihrem Dienstantritt scheint niemand zu wissen. Der Dienststellenleiter Matthew („wir kennen uns hier alle so gut, wir reden uns mit Vornamen an“) scheint ihr nichts zuzu­trauen, der Dienstälteste, Lewis Poth, ist ausgesprochen wort­karg und unhöflich … allein der junge Joshua scheint ganz in Ordnung zu sein. Aber wiewohl er ganz nett scheint, ist er offen­sichtlich in festen Händen und zudem kulturell in den 70er Jah­ren gestrandet.

Das ist schon sehr desillusionierend für die junge, tatendurstige Absolventin.

Damit konfrontiert, dass man sie zunächst einmal zum Eingeben von Aktenstapeln in einen altertümlichen PC nötigt und ihr aus­malt, in naher Zukunft solle sie in der Grundschule Kinder beim Verkehrsunterricht unterweisen, reißt sie ebenfalls nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin. Das Schlimmste in Gardenrye scheint tatsächlich der Diebstahl einer Ladung Fisch zu sein, der Rest besteht aus stupider, monotoner Routinearbeit in einem Ort, in dem nichts Ungewöhnliches vorfällt.

Ach, ihr Vater könnte stolz auf sich sein, dieses Revier gefunden zu haben – hier kann Teena wirklich nichts passieren, sie könnte allenfalls vor Langeweile eingehen wie eine nicht gegossene Topfpflanze …

Aber dieser Anschein täuscht.

Das Kontrastprogramm wird sichtbar, als Teena ihre Wohnungs­nachbarin kennen lernt – eine phantastische, erotisch aufregen­de Frau, die wie eine heißblütige Spanierin aussieht, mit wallen­dem, schwarzem Haar und schwellenden Formen – Rosalin Sawkenshaw, kurz Roz genannt. Sie ist ihres Zeichens Inhaberin des einzigen Dessous-Geschäfts des Ortes und eine Frau voller Geheimnisse. Und sie ist von Anfang an ganz verschossen in Teena, die selbst mit einigen Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen hat, was ihr Aussehen angeht. Ihr ist anfangs über­haupt nicht klar, dass ihre sommersprossige, milchweiße Haut und das feuerrote Haar auf manche Leute enorm stimulierend wirken. Bei Roz wird das allerdings sehr schnell deutlich – die leidenschaftliche Frau verführt Teena völlig ungeniert und lockt ein paar verwegene erotische Wunschträume aus ihr heraus, die Christeena nie in die Wirklichkeit umzusetzen wagte.

Aber das ist erst der Anfang.

Auf dem Revier macht sie kurz darauf die Bekanntschaft mit dem verunsichernden Earl of Cunninghall, der eine Diebstahlan­zeige der pikanten Sorte zur Sprache bringt und die Christeena mit stenographieren muss: Er war Gast auf einer ausschweifen­den Party, auf der auch eine geladene Prostituierte mit violetter Perücke als nackte Tischdekoration diente. Mit ihr hat er an­schließend Sex gehabt und wurde kurzerhand bestohlen.

Aber alle Fährten, die die Polizisten verfolgen, laufen vollkom­men ins Leere. Mehr noch: Teenas Chef Matthew verhält sich au­ßerordentlich rätselhaft, als wolle er diese Geschichte eigentlich gar nicht weiter verfolgen. Da Teena, hin und her gerissen zwi­schen Roz´ häufigen erotischen Attacken, die sie unglaublich genießt, und der von Störungen ständig kriselnden Stimmung auf dem Revier, die sie sehr unglücklich macht, wünscht sich die junge Polizistin nichts sehnlicher, als sich endlich irgendwie beweisen zu können.

Als Teena dann zufällig kurze Zeit später bei einem Spaziergang in der Stadt tatsächlich eine Frau mit violetter Perücke sieht, kann sie nicht widerstehen und verfolgt sie bis in einen dunklen Keller. Doch hier wird sie durch einen maskierten Fremden über­wältigt, der sie selbst offensichtlich für die „Lady in Pink“ hält (was hat Christeena auch geritten, sich kurzerhand die gefunde­ne Perücke aufzusetzen??)… und ehe Christeena McLight be­greift, was eigentlich vor sich geht, ist sie tief involviert in ein gut gehütetes Geheimnis der kleinen Hafenstadt, wie sie es hier niemals erwartet hätte. Und besonders kritisch wird die Lage, als die junge Polizistin auf eigene Faust jenseits ihrer Kollegen im Fall „Lady in Pink“ zu ermitteln beginnt.

Sie hat nicht den Hauch einer Ahnung, worauf sie hier gestoßen ist – auf einen elitären Geheimbund, die „Loge der Lust“. Und sie selbst ist deren neues Zielobjekt …

Der zweite Roman, den ich mir von dieser Autorin zu Gemüte führte, kommt sehr gemächlich in die Gänge … aber das passt ausgezeichnet zu der Tatsache, dass hier die Entwicklungsge­schichte einer sehr jungen Frau beschrieben wird, die sich ers­tens wie das hässliche Entlein fühlt (völlig zu Unrecht, wie sich erweist) und zweitens als rechter Tollpatsch „in jedes Fettnäpf­chen“ tritt, das es nach Teenas subjektiver Einschätzung in Gar­denrye überhaupt gibt. Gleichzeitig macht die Autorin schon sehr früh deutlich, dass Christeena sehr gern wagemutiger wäre und über ihren Schatten springen würde … aber wie mehrmals ausgedrückt wird: sie muss dazu immer erst gezwungen wer­den.

Da ist es dann auf eine gewisse Weise gut, dass es die deutlich lockerere Roz gibt, die ihre neue Freundin auch mal ungeniert mit Handschellen ans eigene Bett kettet und Sekt aus ihrer Va­gina schlürft. Aber dann gibt es da eben auch noch den „Alpha­wolf“, den geheimnisvollen Anführer der „Loge der Lust“, in dessen Fokus Christeena ebenfalls gerät. Und dessen Ambitio­nen sind dann doch deutlich heftiger.

Der Roman, den ich ungeachtet seiner Länge in nur drei Tagen wegschmökerte – was immer ein gutes Zeichen ist – , weist in seiner Struktur starke Ähnlichkeit mit dem vorher gelesenen Band „Lotosblüte“ auf. Das heißt: man sollte sich als Leser nicht auf dem Ende eines Kapitels ausruhen, weil es stets einen verlangenden Schluss besitzt, der nach dem nächsten Abschnitt greift. Wie schon im vorigen Band ist das ein raffiniertes wie wir­kungsvolles Rezept, das zum steten Weiterlesen animiert.

Zugleich weist er deutlich mehr amüsante Passagen und weni­ger Tempo auf als der Japan-Roman. In gewisser Weise kann man sagen, er sei „softer“, was vielleicht auch eine Begründung dafür ist, dass er nicht zuvor in der „Plaisir d’Amour“-Reihe er­scheinen konnte, sondern gleich bei Mira publiziert worden ist.

Selbst wenn man sich vergleichsweise rasch vorstellen kann, worauf die Geschichte im Kern hinausläuft, gibt es doch durch die unübersichtliche Psychodynamik zwischen den Protagonis­ten genügend Rätselpotenzial, das die Spannung aufrecht er­hält. Ob die deutliche Fixierung aufs Anale zwingend erforder­lich gewesen wäre, lasse ich mal dahin gestellt, das war mein Ding so sehr nicht … aber der Rest der Geschichte wusste schon zu gefallen, ungeachtet der Tatsache, dass der vollmundige Titel deutlich mehr verspricht, als er schließlich zu halten imstande ist (fast könnte man meinen, die Autorin habe hier auf eine Fort­setzung spekuliert – da ich noch keine weiteren Werke von ihr kenne, ist das aktuell nicht auszuschließen). Mich hat die Lektü­re jedenfalls dazu animiert, nach weiteren Romanen dieser Au­torin Ausschau zu halten.

Mal sehen, ob das Level gehalten oder sogar noch gesteigert werden kann …

© 2017 by Uwe Lammers

Doch, das war ein äußerst unterhaltsamer Roman, an den ich auch heute noch gern zurückdenke. Und vielleicht teilt ihr nach der Lektüre meine Einstellung.

Im Beitrag der kommenden Woche begeben wir uns mit Clive Cussler an einen ziemlich frostigen Ort, nämlich in die Antarktis … da ist Spannung wieder garantiert.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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