Liebe Freunde des OSM,

es ist an der Zeit, die dritte Stippvisite in der magischen Parallelwelt von Joanne K. Rowling zu machen. Diesmal, ihr werdet es merken, hatte mich diese Welt schon deutlich stärker eingefangen als in den vorherigen Bänden.

Ein Befund, der im Nachhinein vielleicht etwas überrascht, war ich doch weder damals noch heute intensiver Leser von Jugendromanen, in deren „Fach“ diese Werke strukturell einzusortieren sind. Ich genieße es, überschäumende Phanta­sie zu erfahren, und wenn sie dann noch mit einer komplexen Handlung und humorvollen, sympathischen Charakteren einhergeht, ist das eigentlich ein Re­zept, das meine Anerkennung und mein Wohlwollen sichert.

Zugleich merkt man am dritten Harry Potter-Roman, wie Rowling langfristig zu denken beginnt, sich am Entwicklungsstadium ihrer jungen Leser orientiert und Fährten für die Zukunft zu legen beginnt. Es ist hier deutlich zu spüren. Und wieder einmal merkt man im Fall Sirius Black, dass man dem ersten Anschein nicht trauen sollte.

Was das genau heißt? Wer die Bücher nie gelesen hat, sondern sich mit den Fil­men begnügte, wird hier vielleicht die Stirne runzeln. Dann lest einfach mal weiter:

Harry Potter und der Gefangene von Askaban

(Harry Potter and the Prisoner of Azkaban)

von Joanne K. Rowling

Carlsen-Verlag, 1999

448 Seiten, TB

Übersetzt von Klaus Fritz

Harry Potters drittes Jahr an der Zaubererschule Hogwarts wird von einer fins­teren Bedrohung überschattet, die der inzwischen dreizehnjährige Waisenkna­be Harry zunächst gar nicht als problematisch erkennt. Er weiß nicht, in welcher Gefahr er schwebt.

Aus dem berüchtigten Zauberergefängnis Askaban, aus dem die Flucht angeb­lich unmöglich scheint, ist ein Gefangener entkommen, dessen Verschwinden sogar im „Muggel-Fernsehen“, also in den Fernsehnachrichten der Menschen­welt verbreitet wird. Das liegt nicht nur daran, dass der finstere Sirius Black mehr als ein Dutzend Menschen auf dem Gewissen hat. Wahrhaftig nicht nur.

Sirius Black war dreizehn lange Jahre in Askaban gefangen, und angeblich laute­ten seine letzten Bemerkungen vor der Flucht aus dem Gefängnis: „Er ist in Hogwarts… er ist in Hogwarts…“

Harry weiß davon nichts.

Er weiß auch nicht, dass Sirius Black an jenem Tag, an dem seine Eltern durch den dunklen Lord Voldemort einen schrecklichen Tod fanden, vor Ort war. Und dass ihn ein ganz besonderes Band mit Black verbindet, mit jenem Verbrecher, der nach allen Erkenntnissen die rechte Hand von Lord Voldemort war.

Nachdem er wegen eines magischen „Ausrasters“ aus der Wohnung seines On­kels Vernon Dursley und seiner Familie geflüchtet ist, sieht Harry einen riesen­haften Hund, der ihn schier zu Tode erschreckt, doch das ist noch nichts gegen die Ereigniskette, die nun einsetzt: statt als Zaubererwaise elend dahinzuvege­tieren, rettet ihn ein „Rasender Ritter“, und schließlich empfängt ihn sogar der Zaubereiminister Cornelius Fudge persönlich und beschwört ihn, sich in der Gastwirtschaft „Zum Tropfenden Kessel“ einzuquartieren und sich ja nicht aus der magischen Winkelgasse herauszuwagen.

Obgleich er es genießt, dass er nicht in Schimpf und Schande verjagt worden ist – schließlich ist ihm als Lehrling der Magie das Zaubern in der „Muggelwelt“ strengstens untersagt – , ist er doch froh, bald darauf seine Freunde wiederzu­sehen: den impulsiven, rotschopfigen Ron Weasley, dessen Brüder und die klei­ne Schwester Ginny (der Harry im zweiten Roman das Leben rettete), sowie die „Muggelfreundin“ und Zauberschülerin Hermine Granger.

Auf dem Weg nach Hogwarts machen sie dann alle zusammen erschreckende Entdeckungen – Rons Hausratte „Krätze“ geht es schrecklich, sie wird immer apathischer und magerer. Hermine legt sich in der Winkelgasse einen defor­mierten, riesigen Kater namens „Krummbein“ zu, dessen liebstes Vergnügen darin zu bestehen scheint, „Krätze“ zu jagen. Außerdem lernen sie im Hogwarts-Express den neuen Lehrer für die Verteidigung gegen die dunklen Künste kennen, den bald sehr sympathischen Professor Lupin.

Und sie haben eine Begegnung mit einem Dementor.

Die Dementoren, unheimliche, widerwärtige magische Wächter, sind die Hüter der Festung Askaban, und sie suchen Sirius Black, wobei sie sich bis nach Hog­warts wagen und die Eingänge bewachen. Doch sie scheinen sich insbesondere auf Harry zu stürzen und bringen ihn mehrere Male in lebensbedrohliche Situa­tionen. Fast sieht es so aus, als verwechselten sie ihn mit Black und versuchten ihn zu töten.

Schlimmer noch: Harry hört zwar bald darauf, dass Sirius Black es ausgerechnet auf ihn abgesehen hat, aber warum warnt man ihn eindringlich davor, auf eige­ne Faust Sirius Black suchen zu wollen? „Bin ich verrückt, den Mann zu suchen, der mich umbringen möchte?“, fragt er ungläubig, bekommt aber keine klare Antwort. Es scheint doch völlig logisch, dass er sich lieber in Hogwarts verbirgt und die Suche nach Black den Dementoren überlässt, nicht wahr…?

Erst als er durch einen unglaublichen Zufall erfährt, wer Black wirklich ist und was genau seine Rolle beim Tod seiner Eltern war, erst da beginnt er zu verste­hen – und wird unkontrollierbar vor unglaublichem, nie empfundenem Hass auf Black.

Und es gibt noch andere böse und unverständliche Vorzeichen, die zeigen, dass in Hogwarts einiges an Geheimnissen lauert… da ist Hermine selbst, die sich höchst eigenartig verhält und offensichtlich einen Stundenplan zu absolvieren scheint, den man nie im Leben realisieren kann. Da ist die pathologische Feind­schaft des Katers „Krummbein“ zu Rons Ratte „Krätze“. Da gibt es eine seltsame Beziehung zwischen Professor Lupin und Harrys Intimfeind unter den Lehrern, dem widerwärtigen Professor Snape. Ganz zu schweigen von Harrys erbitterts­tem Gegner unter den Schülern, dem Slytherin-Absolventen Draco Malfoy, der mehrere Male versucht, ihn auf boshafte Weise in Misskredit zu bringen und damit eine Katastrophe auslöst.

Ja, und schließlich gelingt es Sirius Black sogar, ungeachtet der tödlichen Gefahr durch die Dementoren, nach Hogwarts einzudringen, bis in Harrys Schlafsaal.

Verzweiflung, Angst, hysterischer Hass und Verstörung breiten sich wie ein Lauf­feuer aus, nicht zuletzt, als die Lehrerin für Wahrsagerei, Professor Trelawney, Harry unverblümt „die kürzesten Lebenslinien“ attestiert, die sie jemals gesehen habe und schließlich den Hund, den Harry wiederholt gesehen hat, als „Grimm“ erkennt – eines der stärksten Vorzeichen eines nahen Todes.

Dies alles führt dazu, dass sich eine – gewollte – Atmosphäre der Trostlosigkeit und Depression ausbreitet. Und wieder einmal obliegt es Harry und seinen engsten Freunden, das Netz aus undurchdringlich scheinenden Schleiern zu zer­reißen, um vielleicht das Schlimmste noch zu verhindern, während es doch of­fenbar schon längst dafür zu spät ist.

Denn Sirius Black und sein Verbrechen sind nur die Oberfläche, das, was die Welt glauben soll. Darunter jedoch…

Einmal mehr demonstriert Joanne K. Rowling in diesem Roman, dass sie es aus­gezeichnet versteht, die Fäden der Handlung wunderbar in der Hand zu halten und einen sich stetig ausweitenden Kosmos aus sympathischen Personen, Handlungsorten und weit verzweigten Verbindungslinien aufzubauen. Dabei be­darf es durchaus nicht immer einer direkten Intervention seines Todfeinds Lord Voldemort. Spannend reißt den Leser die Handlung mit, und viele kleine niedli­che Spielereien am Rande vertreiben jederzeit mögliche Langeweile: magische, lebende Karten, Geheimgänge in Hogwarts, abenteuerliche Störversuche in den Unterrichtsstunden, die ständigen Versuche während des Quidditch-Spieles, Harry und seine Mannschaft zu drangsalieren, lassen wirklich keine Chance zur Müdigkeit.

Mit neu eingeführten Personen wie Peter Pettigrew, Professor Lupin, dem Sei­denschnabel, Sirius Black, Professor Trelawney oder eben auch „Krummbein“ gelingt es mühelos, die Aufmerksamkeit des Lesers an diesem sehr rasant zu le­senden Roman zu fesseln. Dass er um rund 100 Seiten länger ist als sein Vorgän­ger, spielt einfach keine Rolle. In dem Maße, in dem das Buch länger ist als die vorangegangenen, wächst auch die Komplexität der Handlung.

Manches Mal, insbesondere gegen Schluss, dachte ich beinahe, das Werk sei für Dreizehn- oder Vierzehnjährige, für die es offenkundig gedacht ist, zu an­spruchsvoll geschrieben. Aber vielleicht ist das auch gerade der Ansporn – man spürt, Rowling wünscht sich kluge, intelligente, wache Leser, nicht Leute, die einfach etwas nur lesen, weil es „in“ ist. Mit diesem Roman konnte ich selbst nachempfinden, warum man von Harry Potter durchweg begeistert sein kann. Das ist nicht einfach „nur“ leichtes, lustiges Lesefutter, da wird noch weitaus mehr vermittelt, auf durchaus spielerische, humorvolle und manchmal auch sehr nachdenkliche Weise.

Gewiss – an manchen Stellen fand ich das Verhalten der Hauptpersonen schon ziemlich fies, insbesondere das Verhältnis zwischen Harry, Ron und ihrer Freun­din Hermine, die schließlich in Tränen aufgelöst ist, weil die Jungs wirklich manchmal eklig zu ihr waren. Aber auch das entspricht wahrscheinlich den rea­len Verhältnissen in diesem schwierigen Jugendalter. Die Mädchen werden ra­scher erwachsen (ein psychologischer Befund), während Jungen sich länger Narreteien, Späßen und Gedankenlosigkeit hingeben. Junge Leserinnen werden sich in diesem Roman sicherlich schnell mit der armen Hermine identifizieren können. Diese Veränderungen im Verhalten zeigen gut, dass die Figuren sich entwickeln, nicht statisch sind, sondern immer dazu lernen. Wie der Leser auch. So zeigt sich das Buch als Spiegel der schulischen Realität der „Muggel“-Gegen­welt. Vielleicht ist es das, was am meisten Vergnügen bereitet.

Kurzum: auch wenn man einen Tag länger an diesem Buch liest, gilt dafür das altbekannte Diktum, dass gute Bücher einfach immer zu kurz sind. Nur gut, dass der vierte Band der Serie fast DOPPELT so dick ist. Doppelt soviel Lesevergnü­gen. Und gewiss geht es nicht NUR um die Quidditch-Weltmeisterschaft. Man darf gespannt sein, wie viele lose Fäden aus diesem Buch die Autorin wieder aufnimmt und was man noch so alles erfährt…

© 2005 by Uwe Lammers

In der nächsten Woche kommen wir zu einem besonderen Schmankerl bzw. Topos, den ich sehr gern genieße und lese – zu Zeitreisen! Gewiss, es gibt auch eine im obigen Roman… aber das ist nichts zu dem, was euch in der kommen­den Woche erwartet. Das solltet ihr nicht verpassen!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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