Rezensions-Blog 153: Mathilde – eine große Liebe

Posted Februar 28th, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wer länger meinem Blog folgt oder mich persönlich kennt, weiß um meine Lei­denschaft für eines der dramatischsten Kapitel des frühen 20. Jahrhunderts – den Ersten Weltkrieg. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass er, wiewohl das Er­eignis in diesen Jahren aufgrund des „100jährigen Jubiläums“ wieder im Fokus der Geschichtsschreibung und der journalistischen Berichterstattung steht, im Wesentlichen noch weiße Flecken aufweist. Namentlich gilt das für den Punkt, der im unten stehenden Buch exemplarisch literarisch aufgearbeitet wird: das Einzelschicksal „vergessener“ Soldaten, wie sie in diesem Konflikt zu Hundert­tausenden auf schreckliche Weise von der Knochenmühle des Krieges zermah­len wurden.

Andere, darunter auch der unten thematisierte naive Manech, gerieten dann allerdings in eine mörderische Maschinerie, die mit der des Krieges und der di­rekten Vernichtung wie ein Zahnrad in ein anderes fasste: in die Verwaltungs­mühlen, die sich nicht um Emotionen, Ängste oder existenzielle Lebenserhal­tung kümmerte, sondern die Soldaten zu kleinen Rädern eines gewaltigen, menschenverachtenden Automatismus´ machte.

Wie in jeder Verwaltung, wie in jedem riesigen Apparat, kommen Fehler vor. Manchmal sind diese Fehler dramatischer, ja tödlicher Natur. Und dann wieder gibt es so etwas wie unbegreifliche, magische Wunder inmitten dieser Erbar­mungslosigkeit. Menschen, die aus dem Blickfeld verschwinden, deren Namen ausgelöscht sind, wie es scheint. Und andere Menschen mit blutenden Herzen, die nicht aufgeben wollen, die die Hoffnung nicht in den Wind schreiben, sich nach Wahrheit, nach der vollen Wahrheit sehnen. Selbst dann, wenn sie verbo­ten ist und gefährlich.

Solch eine Leidenschaft einer jungen, sehnsüchtig verliebten Frau schildert das unten stehende, sehr empfehlenswerte Buch. Wer weder Verfilmung noch Buch kennt (oder nur die Verfilmung), der lese bitte weiter. Es lohnt sich:

Mathilde – Eine große Liebe

(OT: Un long dimanche de fiançailles)

von Sébastien Japrisot

Aufbau Taschenbuch Verlag, 2005

320 Seiten, TB

Aus dem Französischen von Christiane Landgrebe

ISBN 3-7466-2117-8

Man schreibt den 6. Januar des Jahres 1917.

An der französischen Front gegen die deutschen Invasionsheere wird eine Kolonne von fünf Soldaten in Richtung Front getrieben. Es handelt sich um französische Soldaten, ihre Hände sind auf dem Rücken zusammengebunden, jeder von ihnen hat eine verbundene Hand. Sie sind verurteilt worden wegen Desertion – denn sie haben sich in der Hoffnung, dadurch aus dem Schlachtgemetzel des Gra­benkrieges entkommen zu können, selbst verstümmelt. Dafür sind sie, dem Kriegsrecht entspre­chend, als Verräter zum Tode verurteilt worden… doch anstatt Kugeln an sie zu verschwenden, wer­den sie zu einem der vorderen Grabenabschnitte getrieben, dicht an die deutschen Linien, um dann ins Niemandsland gestoßen und ihrem Schicksal überlassen zu werden. Von diesem Moment an ver­schwinden sie aus der Geschichte, allesamt.

Dieser Grabenabschnitt wird „Bingo Crepuscule“ genannt (etwa: Glücksspiel in der Dämmerung)1, und hier beginnen die Geheimnisse, die Lügen und die Rätsel: Die fünf Verurteilten sind von sehr unter­schiedlichem Naturell, sie haben sich vorher nicht gekannt, und nachher sind sie aus der Weltge­schichte ausradiert, offensichtlich alle im Niemandsland umgekommen. Der jüngste von ihnen, Jean Etchevery, genannt Manech, ist gerade 17 Jahre jung. Er hat eine ein Jahr jüngere Verlobte namens Mathilde, die nahe der Küste lebt und durch eine Krankheit in der frühen Kindheit gezwungen ist, dauerhaft in einem Rollstuhl zu fahren. Das ist für die beiden unwesentlich, seit Jahren lieben sie sich und sind sich selbst genug… gewesen.

Der Krieg zerstört alles, wie es immer so ist.

Aber in diesem Fall ist es schlimmer. Und doch anders.

Als Mathilde Donnay Monate nach dem Geschehen an der Front die grässlich nichtssagende Nach­richt von Manechs Tod erhält, mit der sie – wie es immer so ist – niemals gerechnet hat, da ist sie am Boden zerstört. Aber anstatt zu resignieren, wie man es erwarten könnte und wie es Millionen Wit­wen und Geliebten am Ende des Krieges widerfährt, beginnt diese kleine, zähe und versehrte Frau, einen Traum zu träumen. Den Traum einer jeden Frau, die ihren Geliebten im Krieg verloren hat: ich will wissen, was wirklich passiert ist. Ich will wissen, ob er tatsächlich nicht mehr am Leben ist, ich will Gewissheit!

Mathildes Vorteil ist es, dass ihre Eltern als Anwaltsfamilie vergleichsweise vermögend sind. Auf diese Weise kann sich das behinderte, intelligente Mädchen voll und ganz auf seine Suche konzentrieren – wenn es nicht Gemälde malt, mit denen Mathilde einigen Erfolg hat. Mit Hilfe von Zeitungsannoncen beginnt Mathilde, zu ermitteln. Die erste Fährte, die sie erhält, stammt aus einem Kloster, in dem ein sterbender Offizier namens Daniel Esperanza liegt. Er erzählt ihr die Geschichte von Manechs letzten Stunden, wie er sie erlebt hat, von dem Marsch durch den Schützengraben, nennt ihr die Namen der anderen Verurteilten. Erzählt, dass sie alle bei einem Feuergefecht im Niemandsland umgekommen sind. Niemand habe überlebt.

Mathilde weint.

Und sie sucht weiter, gegen alle Vernunft. Irgendetwas sagt ihrem Herzen, dass das nicht alles sein kann.

Und sie behält Recht, es ist nicht alles.

Weitere Zeitzeugen wissen Dinge, die Esperanza nicht wusste. Sie erzählen andere Geschichten. Dass es viele von den Verurteilten erwischte, aber nicht alle. Dass irgendwer davonkam. Dass Manech, geis­tig völlig verstört, einen Schneemann im Niemandsland baute. Dass einer der Verurteilten sich seiner Fesseln entledigte und eine Heldentat beging.

Mathilde forscht nach weiteren Angehörigen, Verwandten, und während sie das tut, verstreicht ein Monat nach dem nächsten, ein Jahr nach dem nächsten. Sie entdeckt zu ihrer nicht geringen Bestür­zung, dass die Geschehnisse im „Bingo“ von der Armeeführung vertuscht worden sind. Weil ein juris­tisches Unrecht geschehen ist: die Verurteilten waren bereits begnadigt, als sie auf ihren Marsch gin­gen. Die Begnadigung wurde aus niederen Motiven zurückgehalten.

Ansehen steht auf dem Spiel. Pensionen sind bedroht, wenn das herauskommt.

Neben ihrem brennenden Herzen beginnt Mathilde Donnay auch Wut zu empfinden, unendliche Wut und Rachsucht, will die Schuldigen finden, die dafür verantwortlich sind, dass ihr Geliebter sterben musste, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Wenigstens das will sie, wenn denn schon Manech tat­sächlich nicht mehr leben sollte.

Aber davon ist sie längst nicht mehr überzeugt.

Es ist eine wilde, verwegene Hoffnung, und Mathilde hat eigentlich keine Chance, das Rätsel zu klä­ren, wenn er noch leben sollte. Dennoch klammert sie sich daran, an den Brief eines Mitgefangenen, den man Cet Homme nannte und den er an demselben letzten Abend schrieb, ehe man ihn mit Manech ins Niemandsland trieb, an jenem 6. Januar 1917.

Er ist verschlüsselt, das erkennt man an der Wortwahl, und das ist natürlich ein unbegreifliches Rät­sel: warum sollte jemand, der dem Tode geweiht ist, noch einen verschlüsselten Brief schreiben? Das ergibt keinen Sinn… es sei denn, er kennt einen Weg hinaus aus der Falle, in der er steckt. Wenn er sicher ist, dass er das überlebt.

Doch Mathilde kann den Code nicht knacken, viele Jahre lang nicht.

Das gelingt ihr erst im Jahre 1924, nach zahllosen Reisen und Besuchen und Wegen in Sackgassen. In­zwischen hat sie mit dem wagemutigen Célestin Poux und dem Privatdetektiv Germain Pire, der ihre Hartnäckigkeit und ihre Bilder bewundert, Mitstreiter gefunden, die nach Möglichkeit auf ihrer scheinbar aussichtslosen Odyssee zur Seite stehen.

Und schließlich, am Ende des Weges, findet sie die Lösung…

Ich gestehe, ich hatte die Bilder der Verfilmung von 2005 im Kopf, als ich das Buch las, aber wiewohl sie in wesentlichen Teilen von dem Roman abwichen, insbesondere natürlich, was den Schluss an­geht, erwies sich das als weithin bedeutungslos. Im Zuge der Verfilmung wurde das Werk von Sébasti­en Japrisot (1931-2003) natürlich verändert, aber ich würde behaupten, der Kern blieb erhalten, und es ist eine wunderschöne Verfilmung geworden. Das Buch ist, wie das nahezu immer so ist, natürlich besser. Niemanden, der Literaturverfilmungen kennt, kann das wundern.

Wer „Action“ erwartet, weil ja schließlich wesentliche Teile des Romans im Ersten Weltkrieg spielen, wird notwendig enttäuscht werden. Die Rahmenhandlung, die in den Jahren 1919-1924 spielt (mit Ausflügen ins Jahr 1910, die einfach himmlisch süß geschrieben sind! Man lese sich nur mal die erste Begegnung zwischen Manech und Mathilde durch!), besticht durch einen atemberaubenden Detail­reichtum und eine bis in kleinste Einzelheiten hinein gehende Nachbildung der damaligen Zeit. Das betrifft insbesondere die Briefe und die beschriebenen Räumlichkeiten, aber auch die ganz unter­schiedlichen, auftretenden Charaktere erhalten ein lebendiges Feuer, das sie mal mehr, mal weniger liebenswert macht.

Das, was im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg gern vergessen wird, weil die Zahl der gefalle­nen und versehrten Soldaten, die Zahl der trauernden Hinterbliebenen und der Vertriebenen, ob­dachlos Gewordenen und zerstörten Leben so unbegreiflich groß ist, ist hier exemplarisch in einem Fokus dargestellt worden: jeder einzelne dieser Soldaten, jedes einzelne Skelett in einem der Massen­gräber ist ein Individuum, ein jedes hat eine Biografie gehabt, war Sohn einer Familie, aus der er durch die grausame Macht des Krieges für immer vor der Zeit gerissen worden ist. Und mit ihm wur­den alle Hoffnungen, alle Sehnsüchte, alle biografischen Bindungen, die ihn an das Leben banden, zerfetzt und zerstört, ein für allemal. Und für die meisten von diesen Soldaten lautete das Schicksal fortan auf: Namenlosigkeit, Vergessenheit. Degradierung zu einer reinen Zahl oder zu einem banalen Namen auf einer Gedenktafel (wenn man Glück hat).

Japrisot hat darüber hinaus ein hochpolitisches Kapitel der Vergangenheit aufgearbeitet, mit dem sich auch die deutsche Militärjustiz bis heute schwer tut: die Frage nämlich, wie man als Militärführung mit Menschen umgeht, die ihr unterstellt sind und die aus diesem Wahnsinn namens Krieg entfliehen wollen, weil ihr existenzieller Lebenserhaltungstrieb sie dazu drängt (übrigens ein völlig verständli­cher Reflex, wenn man mich fragt). In der plumpen Militärpsychologie, die im Übrigen auch noch bis Ende des Zweiten Weltkriegs – und vielleicht in vielen Armeen heute noch – vorherrschend ist, wer­den solche Personen einfach kriminalisiert. Meist bedroht man sie nur mit Haftstrafen, man bringt sie nicht gleich um.

Der Autor des Buches fragte sich: was wird sein, wenn einer dieser zum Tode Verurteilten und dann sogar noch vor dieser Tat Begnadigten dieses Schicksal übersteht?2 Er findet einen höchst intelligen­ten Ausweg aus dem moralischen und auch juristischen Dilemma, der sehr lesenswert ist (und nicht der Lösung im Film entspricht!). Jenseits der äußerst lesenswerten Liebesgeschichte, die der Franzose hier also erzählt, hat das Buch auch einen sehr spannenden und immer aktuellen politisch-histori­schen Bezug, den man nicht übersehen sollte. In jeder Hinsicht ist dies also ein Buch, das nicht nur Historikern, aber selbstverständlich auch ihnen, als gute Lektüre zugänglich gemacht werden sollte. Ihr werdet es genießen, Brief und Siegel darauf!

© 2009 by Uwe Lammers

Ja, mag sein, dass ich mit diesem „WK-I-Buch“ etwas spät dran bin, wenn ich diese Rezension heutzutage im Februar 2018 veröffentliche. Aber sei’s drum, ich stehe zu den obigen Worten, und das Desiderat der Forschung ist, soweit ich das aktuell sehen kann, nach wie vor nur partiell behoben worden.

In der kommenden Woche bleiben wir in der Zeitgeschichte, wechseln aber das Genre und das Jahrzehnt sowie den regionalen Fokus. Dann landen wir in den 50er Jahren in der Sowjetunion.

Neugierig geworden? Dann schaut wieder herein, Freunde!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Das ist nicht der richtige Name, aber das Rätselspiel um den wahren Namen, der im Buch aufgelöst wird, mag ich an dieser Stelle nicht aufdröseln, es macht zu viel Spaß, es als Leser selbst zu versuchen.

2 Es mag übrigens gut sein, dass Japrisot einen Präzedenzfall vor Augen hatte, der mir nicht bekannt ist und ihn romanhaft exzellent aufarbeitete.

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