Rezensions-Blog 253: Radikal – Abenteuer mit Extremisten

Posted Januar 29th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

was sind „Extremisten“? Darauf kann man verschiedene Antworten geben. Klammern wir die der Mikrobiologen hier mal aus, die darunter Mikroorganis­men verstehen, wie sie etwa entlang der heißen Quellen am Grund des Ozeans existieren oder beispielsweise im Yellowstone-Nationalpark in siedendem Was­ser gedeihen.

Nein, wir reden hier von Menschen mit zum Teil abenteuerlichen Ansichten, die sie zumeist auch mit energischem Nachdruck vertreten: Antisemiten, Terroris­ten, Islamisten, Verschwörungstheoretiker unterschiedlichsten Couleurs. Sie gelten üblicherweise als abseitig und beunruhigen die Bürger im Alltag, wenn ihre Ansichten zutage gefördert werden. Ich fürchte, in jüngerer Vergangenheit kann man zu dieser Gruppe von Menschen auch so genannte „Reichsbürger“ oder jene Personen rechnen, die „Fake News“ verbreiten.

Der amerikanische Journalist Jon Ronson, der Erfahrung im Sondieren abson­derlicher Zeitgenossen und Denkwelten besaß (man erinnere sich nur beispiels­weise an sein Buch „Männer, die auf Ziegen starren“, das ich schon vor Jahren im Rezensions-Blog vorstellte), wollte eigentlich eine Reihe von Profilen von Ex­tremistenführern machen … aber das lief dann, wie er erzählt, etwas aus dem Ruder, als er auf eine umfassender Verschwörungsphantasie stieß. Eine, die in­teressanterweise nicht völlig aus der Luft gegriffen war.

So fing das Abenteuer für ihn tatsächlich an, und in diesem Buch berichtet er, wie diese Reise auf die Extremistenseite der menschlichen Gesellschaft im De­tail aussah. Eine äußerst unterhaltsame Reise voller Überraschungen. Wer neu­gierig ist und nicht gar zu leichtgläubig, der sollte an diesem Werk definitiv nicht vorbeigehen.

Warum? Na, schaut es euch mal näher an:

Radikal – Abenteuer mit Extremisten

(OT: Them – Adventures with Extremists)

von Jon Ronson

Salis-Verlag, Zürich 2007

292 Seiten, geb.

978-3-905801-01-9

Aus dem Englischen von Martin Jaeggi

Also, sagen wir es mal ganz offen: ich bin vermutlich ein heillos naiver Mensch, und da kann ich durchaus Jon Ronson anno 2000 die Hand schütteln (das Buch wurde kurz vor dem 11. September 2001 fertig gestellt, was einen guten Teil des Themas und der Behandlung desselben erklärt). Zwar bilde ich mir ein, über ein recht solides Allgemeinwissen zu verfügen, aber als mich kürzlich mein Brieffreund Helge so im Vorbeigehen auf eine so genannte „Bilderberg­gruppe“ aufmerksam machte, zog ich die Augenbrauen hoch und dachte mir: Was will er mir damit sagen?

Die Eingeweihten mögen nun nach Luft schnappen und sagen: Wie, du KENNST Bilderberg nicht? Tja, solche Menschen soll es geben. Ich zählte bis zum März 2011 dazu, und auch Jon Ronson gehörte dazu, bevor er dieses Buch zu schrei­ben begann, und er hätte, ehrlich gesagt, nie damit gerechnet, auf diese Leute zu stoßen.

Worum genau geht es in dem Buch, das nicht nur einen extremen Titel trägt, sondern auch einen ebenso extremen (und an vielen Stellen einen zugleich ex­trem absurden und abenteuerlichen) Inhalt besitzt? Ronson schreibt dazu Fol­gendes zur ursprünglichen Ausrichtung: Radikal begann als eine Reihe von Profilen von Extremistenführern, aber entwickelte sich schnell zu etwas viel Selt­samerem. Mein ursprünglicher Plan war, mit Leuten Zeit zu verbringen, die als politische und religiöse Ungeheuer der westlichen Welt gelten: Islamisten, Neo­nazis etc. Ich wollte sie in ihrem Alltagsleben begleiten. Ich dachte, es wäre in­teressant, einen Blick auf unsere Welt zu werfen, indem man in ihre Welt geht und neben ihnen steht, während sie uns anstarren.“

So weit, so gut. Das klingt dann schon abenteuerlich genug. Aber dann ging das Experiment des – übrigens jüdischen – Autors Jon Ronson (was im Kontext noch durchaus wichtig wird, ansonsten wäre mir der Glauben oder die Abstammung eines Verfassers reichlich gleichgültig, weil mich sonst lediglich interessiert, ob er/sie interessante Bücher zu schreiben versteht und Standpunkte vertritt, die ich auch vertreten kann) etwas gründlich schief. Er entdeckte nämlich etwas, was er eigentlich nicht erwartet hatte.

Er berichtet weiter: „Dies [einen Blick auf unsere Welt werfen, aus der Warte der Extremisten] haben wir eine Weile lang getan. Und dann stellte ich fest, sie alle teilen einen Glauben: dass eine kleine Elite die Welt aus einem geheimen Raum regiert. Diese beginne die Kriege, sagte man mir; sie suchten sich unsere Staatsoberhäupter aus, kontrollierten Hollywood sowie die Märkte und Kapitalf­lüsse, unterhielten einen Harem aus minderjährigen, entführten Sexsklaven, verwandelten sich, wenn niemand zusehe, in drei Meter lange Echsen und zer­störten die Glaubwürdigkeit all jener, die bei ihren Untersuchungen der Wahr­heit zu nahe kämen.“

Da dachte ich mir, an Ronsons später geschriebenes und absolut beeindrucken­des Buch „Männer, die auf Ziegen starren“ denkend: das ist was für mich. Nicht zuletzt, weil es so total abgedreht klang. Und so kaufte ich das Buch und ver­schlang es. Zunächst einmal – ich lag vollkommen richtig mit meiner Einschät­zung. Und das ist noch sehr zahm ausgedrückt.

Du meine Güte, kann ich im Nachhinein nur sagen, ich glaube, das Buch ist eine Melange zwischen einem Horrorschocker, einer verschärften Satiresendung und einer Gehirnwäsche, so verrückt sich das jetzt auch anhören mag. Die Idee oder auch die Chuzpe, sich als Autor jüdischen Glaubens in das Abenteuer zu stür­zen, das Ronson hinter sich hat, ist schlichtweg haarsträubend. Die meisten Leu­te, mit denen er zusammen war, würde ich nicht mal kennen lernen WOLLEN, erst recht nicht, wenn ich wüsste, dass diese Leute das Judentum HASSEN. Und ein paar Male gerät er deshalb auch in knifflige Situationen. Ich meine, wie wür­de es euch denn in seiner Lage ergehen? Ihr befindet euch in einem Islamisten-Trainingslager und werdet gefragt, ob ihr Jude seid?! Oder im Lager der ameri­kanischen Neonazis der Aryan Nation? Witzig ist etwas anderes …

Aber Ronson war neugierig geworden, und während er sein Projekt der Por­traits von Extremistenführern fortführte, wollte er natürlich auch die Weltsicht dieser Leute verstehen. Und zu dieser Weltsicht gehörten nun einmal auch die­se tief greifenden Verschwörungsvorstellungen.

Ronson weiter: „Ich fragte sie nach den Einzelheiten. Wussten sie, wo sich der geheime Raum befand? Aber ihre Auskünfte waren vage. Manchmal, sagten sie, treffe sich die Elite in Hotels und regiere die Welt von dort aus. Jeden Som­mer, fügten sie hinzu, besuchten sie zusammen mit Präsidenten und Premiermi­nistern ein luziferisches Sommerlager, wo sie sich in Roben kleideten und am Fuße einer gigantischen steinernen Eule Opfer verbrennen.

Ich entschied mich, die Sache selbst zu klären. Wenn es wirklich diesen gehei­men Raum gab, dann musste er sich irgendwo befinden. Und wenn er sich ir­gendwo befand, dann konnte man ihn finden. Und so begab ich mich auf die Su­che. Es war eine gefährliche Reise. Ich wurde von Männern mit Sonnenbrillen verfolgt, die mich hinter Bäumen versteckt beobachteten, und sah zu – so un­wahrscheinlich dies nun klingen mag – , wie internationale Wirtschaftsführer an einem bizarren heidnischen Eulenverbrennungsritual in den Wäldern von Nord­kalifornien teilnahmen, an einem Ort namens Bohemian Grove …“

Darunter, das sollte man vielleicht noch hinzufügen, so prominente Leute wie Bill Clinton, George Bush jr., Henry Kissinger und John Major, von vielen ande­ren, die Ronson in diesem Zusammenhang dingfest macht, ganz zu schweigen. Während sich vieles in Ronsons Buch wirklich abstrus liest und z. T. durch die Art der Darstellung vielfach ironische oder quasi-ironische Züge trägt, sind man­che Fakten definitiv unbestreitbar.

In einigen Dingen haben die Verschwörungstheoretiker nämlich leider durchaus Recht – mögen sie nun islamische Fundamentalisten sein, amerikanische Neo­nazis der Aryan Nation, fanatische Waffennarren, die der Ansicht sind, dass die UN und die amerikanische Regierung sich anschicken, eine subversive Weltre­gierung zu errichten und die Menschheit zu versklaven, Leute, die glauben, dass Gestalt wandelnde Riesenechsen die irdische Gesellschaft unterwandert haben oder solche, die denken, alle internationale Politik werde von einem kleinen, elitären Zirkel ferngesteuert (ganz gleich, ob man dahinter dann Juden, Interna­tionalisten, Kommunisten, Illuminaten oder die Bilderberger vermutet):

Ja, es gibt einen elitären Kreis von hochrangigen Wirtschaftsfunktionären und Politikern, die man den „Bilderberg-Kreis“ oder die „Bilderberggruppe“ nennt (nach einem Hotel, in dem sie sich 1954 das erste Mal getroffen haben).

Ja, es gibt definitiv einen Ort namens Bohemian Grove, an dem das oben er­wähnte Sommerlager stattfindet (an dem letztlich dann auch der Verfasser es schaffte, sich einzuschmuggeln, so dass er aus erster Hand von diesem abstru­sen Ritual berichten konnte).

Und ja, die Verschwörungstheoretiker sind felsenfest davon überzeugt, dass die Welt auf ganz andere Weise funktioniert, als es uns die Meinungsmacher in den Medien üblicherweise erzählen.

Das heißt nun indes nicht, dass alles stimmt, was die Verschwörungstheoretiker glauben. Oder dass man Extremisten uneingeschränkt Glauben schenken (schaut euch mal die Sache mit den Echsen an und fragt euch, ob sie da wirklich von Echsen reden oder vielleicht eher von Juden oder sonst irgendetwas) und von allen eigenen Vorstellungen Abschied nehmen muss. Das wäre freilich weit überzogen. Aber wenn man dieses Buch unter der Prämisse liest, dass man ein wenig skeptischer über das nachdenken will, was gemeinhin in den Medien als internationale oder nationale Politik verkauft wird, dann findet man hier genü­gend lose Enden und Hinweise, um selbsttätig weiterforschen zu können. Das ist der eine Mehrwert des Werkes und ein guter Grund, es zu lesen. Es fördert die kritische Mündigkeit des Lesers, solange er nicht naiv wortgläubig jeden Buchstaben darin glaubt.

Zum zweiten, und das entschärft den ersten, kritischen Punkt vielleicht ein we­nig, trägt Ronsons ironischer Stil, der schön konturiert die Absurditäten des Themas herausarbeitet, dazu bei, Entdämonisierung zu betreiben. Das wird vielleicht an keinem Punkt besser deutlich als bei dem Islamisten Omar Bakri (Kapitel 1: „Ein Reihenhaus-Aytollah“) oder bei dem bizarren Ritual in Bohemian Grove (Kapitel 13: „Die Lichtung im Wald“). Ich denke, man kann nicht gut der Ansicht sein, Ronson sei „von Bilderberg gekauft“, um die Bedeutung der Bilder­berg-Gruppe herabzuspielen, obwohl es bestimmt in der Szene Leute geben wird, die derlei Vermutungen aufbringen … Verschwörungstheoretiker neigen zu den seltsamsten Annahmen, und selbst wenn ihre Vermutungen NICHT zutref­fen, neigen sie oft genug dazu, zu denken, genau DAS sei doch ein Zeichen da­für, dass sie RECHT haben … Fanatiker, leider, wie man seufzend sagen muss. Sie schalten beim Denken das Gehirn ab und behaupten selbstverständlich immer das Gegenteil.

Wie gesagt, solche Leute gibt es immer, aber wir Leser zählen hoffentlich zu den klügeren, aufgeschlosseneren und intelligenteren Zeitgenossen, die auch die oben erwähnten Vorteile dieses sehr unterhaltsamen Buches zu würdigen wis­sen. Denn Ronsons Stil macht selbst die kuriosesten Zumutungen ausgespro­chen lesenswert.

Der dritte Vorzug, den ich ausgemacht habe, besteht in einem bemerkenswer­ten Blick auf die Islamistenszene vor dem 11. September 2001. Selbst nachdem inzwischen der Tod von Osama bin Laden vermeldet worden ist, bin ich leider der Ansicht, dass der so genannte „Krieg gegen den Terror“, der seit Ende 2001 die Weltgeschichte vergiftet und schon so viele zehntausend Menschen (man­che sagen, es seien viele hunderttausend, aber die Zahlen schwanken natürlich sehr stark, und die Dunkelziffer ist bestimmt noch viel höher) das Leben gekos­tet hat, letzten Endes ein vergeblicher Kampf ist.

Das alles stand eigentlich von Anfang an fest. „Der Terror“ ist nun einmal kein klar konturierter Gegner, sondern ein ideologisches Phantom, dem jeder die Kontur geben kann, die ihm passt. Ein ideales Totschlagargument wie beispiels­weise auch „Antisemitismus“ (auch hierzu hat das vorliegende Buch eine Men­ge Interessantes zu sagen, dem ich teilweise zustimme) oder „Kommunismus“ und so weiter. Und ich habe nun mal eine Abneigung gegen derlei Ideologien, es wird einfach viel zu viel Schindluder damit getrieben und Unheil angerichtet. Man kann es nicht oft genug betonen.

Das Ausschalten eines vorgeblichen oder realen Anführers einer solchen radika­len Bewegung scheint mir absolut nutzlos, jedenfalls auf lange Sicht betrachtet. Schließlich wachsen ständig neue Führungspersönlichkeiten nach. Sie alle nach­einander wegzupusten, das kann man kaum mehr demokratisch nennen (das ist aber durchaus „Sitte“ etwa in Israel, einem vorgeblich demokratischen Staat, dessen demokratisches Gebaren ich an dieser Stelle mal aus diesem Grund in Frage stellen möchte). Es ist vielleicht auch eine klassische, amerikanische Sicht­weise, die auf die Konfrontationspolitik im Wilden Westen zurückging und in Western immer wieder zu bestaunen ist: der Böse kommt in die Stadt, der She­riff fordert ihn zum Duell auf der Main Street heraus, erschießt ihn, und die Ordnung ist wieder hergestellt.

Sorry, aber so funktioniert Politik nicht. Es steht zu befürchten, dass uns „der Terror“ noch sehr lange beschäftigen wird. Aber dieses Buch zeigt uns, wie wir­kungslos zumindest radikale Islamisten vor „9/11“ waren. Heute kann man sich solche beinahe rührende Szenen, wie Ronson sie mit Omar Bakri mitmacht, kaum mehr vorstellen.

Vom Rest des wirklich sehr lesenswerten und an manchen Stellen ziemlich übel ekelhaften Buches sage ich dann lieber nichts weiter. Ich betone nur noch ein­mal: mit den meisten Leuten, mit denen sich Jon Ronson auf zum Teil sehr haar­sträubende Weise trifft und mit denen er Umgang pflegt, um dieses Werk zu schreiben, würde ich lieber keinen Umgang haben wollen, und das liegt nicht nur an ihren kruden Verschwörungstheorien. Die Extremisten lauern wirklich fast überall, und dies ist ein leichter Einstieg in diese verschrobene Welt, die manchmal nur durch Zimmerwände von unserer Normalität getrennt ist. Wer das Abenteuer eines Besuchs wagen möchte, lese dieses Buch. Ich denke, er wird es nicht bereuen.

© 2011 by Uwe Lammers

Wirklich, das ist eine Abenteuerkur, die man vermutlich mehrmals im Leben wiederholen kann – denn natürlich weitet sich der Denkhorizont eines jeden Lesers, der meine ebenfalls, im Laufe der Jahre aus. Und ich glaube zuversicht­lich, weitere Andeutungen, die ich bei der Erstlektüre nicht verstanden oder re­gistriert habe, in kommenden Jahren begreifen zu können. Allein diese Einsicht macht das Buch schon zu einer wichtigen Informationsquelle – und zu einem Lesevergnügen sowieso.

In der nächsten Woche wird es dann auf Science Fiction-Art phantastisch: es geht wieder um die „Time Wars“, von denen nur fünf Bände auf Deutsch über­setzt sind. Im angelsächsischen Sprachraum ist die Serie sehr viel umfangrei­cher, wie ich heute weiß (danke für die Info, Joe!).

Bis demnächst also, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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