Rezensions-Blog 274: Todesbefehl (2/E)

Posted Juni 24th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

vor zwei Wochen habe ich an dieser Stelle mit „Killermaschine“ den ersten Band dieses faszinierenden Zweiteilers vorgestellt. Es ging darin um die Entwicklung und Emanzipation des KI-ge­lenkten Roboters „Solo“, der die Missionsziele seiner Erbauer hinterfragte und schließlich – nach den Vorstellungen der leiten­den amerikanischen Militärs – „desertierte“ und „unzuverlässig“ wurde.

Was sich in Wahrheit ereignete, war deutlich komplexer und wurde von den Militärführern nicht begriffen. Hier deutet sich m. E. eine Art Fundamentalkonflikt an, den der Autor Mason wäh­rend seiner Vietnamzeit mit den eigenen Vorgesetzten gehabt hat; es scheint darum nicht unplausibel, in „Solo“ eine Form von idealisiertem alter Ego zu sehen, das hier an seiner Statt der Willkür der Militärverwaltung ausgesetzt ist und dagegen oppo­niert.

Aber auch jenseits dieser individualisierten und leider spekulativ bleibenden Vermutung ist der Roman interessant. Am Ende des Romans „Killermaschine“ gilt „Solo“ als vernichtet. Dabei han­delt es sich freilich um ein von der Maschine absichtlich insze­niertes Ende, das zwei Ziele intendiert: Schutz der ihm anbefoh­lenen Indigenen in Nicaragua, denen er sich inzwischen ver­pflichtet fühlt, auf der einen Seite, zum anderen aber auch die Erlangung von Autonomie. „Solo“ denkt da pragmatisch: wer als „tot“ gilt, nach dem wird nicht mehr gefahndet.

Leider ist sein Plan weniger wasserdicht, als er das glaubt. Und damit beginnt dann der Folgeroman:

Todesbefehl1

(OT: Solo)

von Robert Mason

Heyne 8907

320 Seiten, geschrieben 1992, erschienen 1994

Aus dem Englischen von Michael Wingassen

ISBN 3-453-07210-3

Ist es sinnvoll, halb vergessene Science Fiction-Romane zu re­zensieren, die vor mehr als 25 Jahren erschienen sind? Sind sie nicht vollständig veraltet, altbacken und vollständig überholt? Diese Ansicht lässt sich vertreten, und in vielen Fällen ist sie si­cherlich berechtigt. Meines Erachtens trifft das auf dieses Werk nur bedingt zu, ja, die zeitliche Distanz zur Entstehung in Relati­on zum seither erfolgten technologischen Fortschritt macht das Werk dann sogar wieder interessant.

Natürlich ist die dargestellte technologische Entwicklung im Be­reich der Künstlichen Intelligenz für die frühen 90er Jahre eini­germaßen naiv, das ist nicht zu leugnen. Aber es geht dem 1942 geborenen US-amerikanischen Autor Robert Mason, Viet­nam-Veteran und Helikopterpilot (was sich auf vielfältige Weise im Roman abbildet, so dass dieser partiell zu einer Art von Le­bensbewältigungsstrategie geworden ist) auch weniger um eine realistische Form der technologischen Extrapolation, er zielt mehr auf moralische Fragen, die eher die Moralität der Men­schen skeptisch durchleuchten als die von Maschinen. Die vor­malige Kampfmaschine Solo dient Mason dabei als Vehikel jen­seits des tumben „Wir haben Angst vor der Intelligenz von Ma­schinen“ einerseits und der plumpen militärischen Wunsch-Kli­schees von idealen Supersoldaten mechanischen Ursprungs.

Kurz zum Inhalt: Im Romanerstling „Killermaschine“ (OT: Weapon) von 1993 schilderte der Autor die Entwicklung der in­telligenten Kampfmaschine Solo durch den Elektronikkonzern Electron Dynamics des Erfinders Dr. William „Bill“ Thompson. Während Thompson den Roboter noch nicht für einsatzfähig hält, setzt sich das phantasielose Militär darüber hinweg und setzt Solo in Mittelamerika für eine Kampfmission ein, die dum­merweise dem lernenden Verstand Solos jede Menge neuen In­put vermittelt. Das führt dazu, dass die Maschine zunächst sei­ne Direktiven hinterfragt und schließlich desertiert, um vom Mi­litär daraufhin gejagt zu werden. Der Schluss des Romans zeigt offenbar die Vernichtung von Solo, der seine Nemesis, den Agenten Warren, mit sich in den Tod zieht und über dem Meer abstürzt. Nur auf diese Weise meint Solo, könne er seine lieb gewonnenen indigenen Freunde (!) im Dorf Las Cruzas vor Schlimmerem bewahren.

Aber es bleiben Zweifel. Insbesondere Zweifel daran, ob Solo tatsächlich vernichtet worden ist. Das US-Militär, und damit setzt der vorliegende Roman an, lässt Testreihen durchführen, um Genaueres herauszufinden – und die Tests belegen, dass die Kampfmaschine noch am Leben sein muss, wie immer man „Le­ben“ auch definiert.

Solo hat in der Tat seine Vernichtung nur vorgetäuscht und kann sich nun zurück nach Las Cruzas orientieren und kehrt so wieder ins Leben zurück. Er sieht allerdings gleich mehrere Probleme: zum einen lassen seine Batterien stark an Leistung nach. Zum zweiten ist sein Ladegerät beschädigt. Er sieht also voraus, dass er alsbald aus reinem Energiemangel inaktiv werden wird, „ster­ben“. Und mit den Mitteln von Las Cruzas ist es schlechthin un­möglich, daran etwas zu ändern. Das kann er nur in der Hoch­technik-Zivilisation der USA.

Beeinflusst von populären Filmen, die Solo sich über Satelliten­fernsehkanäle ansieht, ist er überzeugt davon, in New York, wo die seltsamsten Leute in den abenteuerlichsten Outfits herum­laufen, am sichersten damit durchzukommen – auch wenn er mit seinem Vollkörperpanzer eher wie „Robocop“ wirkt. Damit beginnt dann der neue Erstkontakt Solos mit der menschlichen Gesellschaft, der allerlei schrullenhafte Züge annimmt.

Allerdings macht sich der Roboter keine Vorstellung davon, wie die Zivilisation auf ihn wirkt. Als er seinen Weg dorthin findet, wird er sehr schnell von dem pulsierenden Leben der Metropole völlig überrumpelt … und er macht noch seltsamere Entdeckun­gen. Da gibt es beispielsweise so etwas wie Bücher. So etwas hat er noch nie in der Hand gehalten, und natürlich machen sie ihn neugierig. Menschen verhalten sich ihm gegenüber höchst eigenartig, etwa ein Ladenbesitzer, der von ihm „Geld“ ver­langt, als er Bücher kaufen möchte … und ihm dann seltsamer­weise zunächst einen Haufen Geld in die Hand drückt und Solo, als er sich dankend wieder zu den Büchern umdreht, kurzerhand mit einer Waffe in den Rücken schießt.

Menschen sind seltsame Wesen, stellt er zunehmend fest, und in New York sind sie womöglich noch eigenartiger als in Las Cruzas, zumal viele sich auf eigenartigste Weise verstellen und anders verhalten, als er es anfangs vermutet. Das menschliche Wesen ist für ihn ein sehr rätselhaftes, komplexes Forschungs­feld. Weitere Begegnungen mit Bewohnern der Metropole fallen noch obskurer aus, und binnen kürzester Zeit ist er in der Groß­stadt ein Gejagter. In dieser Verfassung trifft er auf die schein­bar obdachlose Frau Laura Johnson-Reynolds, die ihm im betrun­kenen Zustand erstaunlich viel über Menschen beibringt und ei­nen Unterschlupf bietet.

Auf der Gegenseite unternehmen die amerikanischen Militärs ih­rerseits Anstrengungen, Solo wieder ausfindig zu machen. Zu­gleich misstrauen sie Solos Erfinder Bill Stewart und lassen ihn ausspähen, am Ende sogar mit einem menschlichen Spion in seiner Firma. Und tatsächlich gelingt es ihnen schlussendlich, Solo in New York aufzustöbern und den Versuch zu machen, ihn auszuschalten – ein Versuch, der katastrophal fehlschlägt, weil sie den Roboter immer noch unterschätzen, der permanent da­zulernt.

So wird entschieden, Solos baugleichen Kollegen Nimrod (be­nannt nach dem mesopotamischen Jäger aus dem Gilgamesch-Epos) als Köder zu verwenden. Auch hier ist Colonel Sawyers überzeugt, dass es sich um eine reine Maschine handelt, und er kontrolliert Nimrod mit Hilfe eines Schmerzschalters und der Drohung eines Exit-Schalters. Dabei wird ihm überhaupt nicht klar, dass er durch sein herablassendes Verhalten zunehmend widersprüchliche Signale an Nimrod aussendet und so seine ei­gene Position unterminiert. Nimrod kommt bald zu der Überzeu­gung, Sawyers sei nur vorgeblich sein Freund und in Wahrheit ein Feind, den es auszuschalten gelte, sobald sich die Gelegen­heit bietet.

Solo hingegen erfährt auf Umwegen von Nimrod – und erliegt dabei einer fast schon menschlich zu nennenden, fatalen Fehl­einschätzung: er hat Mitgefühl mit ihm und möchte seinem me­chanischen „Bruder“ helfen, aus der „Gefangenschaft“ des Mili­tärs zu entkommen.

Diese Melange von Zielvorstellungen führt dann schließlich in die Katastrophe und zum mörderischen Zusammenstoß der bei­den Kampfmaschinen …

Nicht nur das bizarre Intermezzo der Marihuana-Bauern, die es schaffen, mit einer Knarre aus dem Bürgerkrieg Solos Hub­schrauber abzuschießen und ihn in seinen Plänen völlig uner­wartet zu stören, trägt deutliche autobiografische Spuren des Verfassers (Mason hat selbst Marihuana angebaut und ist des­wegen mehrere Jahre im Gefängnis gelandet), auch die Flugsze­nen zeigen dies deutlich.

Faszinierend ist, wie rasch Solo sich mit doch relativ beschei­denen Mitteln umfassende Machtmöglichkeiten eröffnet – er kommuniziert mit Geldautomaten und bringt sie dazu, Geld frei­zugeben; er hört über Satelliten elektronische Wanzen ab und ist so imstande, Pläne der Gegenseite zu erkennen. Er hört den Polizeifunk ab und klinkt sich mittels auditiver Verfahren so in den Funk ein, dass er widersprüchliche Befehle aussendet, die schließlich in den hochdramatischen Szenen gegen Ende des Romans die kommunikative Konfusion vollständig machen. Und das ist nur ein kleiner Teil seiner Fähigkeiten, die er zum Einsatz bringt. Die anderen sind noch deutlich Furcht erregender.

Bei der Zweitlektüre, 25 Jahre nach dem ersten Lesekontakt, lebte ich bereits tief eingebunden in der Internetwelt des 21. Jahrhunderts – etwas, was Mason bei Abfassung seines Romans überhaupt noch nicht sehen konnte. Sein Solo agiert über die Leitungen von Telefongesellschaften und über Spionage- und Kommunikationssatelliten. Wenn man sieht, wie atemberaubend dieser Roboter bereits mit den damals möglichen Mitteln seine Verfolger über Monate hinweg vollständig ausbremst, mag man sich überhaupt nicht vorstellen, zu was ein solcher kyberneti­scher Organismus heute fähig wäre.

Ich nehme inzwischen an, dass Mason, der vor diesem Zweitei­ler nur durch einen autobiografischen Vietnam-Roman („Chi­ckenhawk“, 1983) aufgefallen war und danach nicht mehr als Romanautor in Erscheinung trat, mit diesen Werken wohl einen Kontrapunkt zu den „Terminator“– und „Robocop“-Filmen der frü­hen 80er Jahre setzen wollte. Und in der Tat, beide Roboter re­spektive Cyborgs erscheinen im Vergleich zu Solo als reichliche Waisenknaben, die kaum viel mehr als die brachiale Gewalt ken­nen.

Solo hingegen ist mehr ein Spiegel des menschlichen Verhal­tens, das ihm entgegengebracht wird, ein forschender, manch­mal nachgerade kindhafter Verstand, der unablässig dazulernt und dabei natürlich auch gelegentliche Trugschlüsse trifft. Er entfernt sich so mehr und mehr von seiner ursprünglichen Kampfmaschinenprogrammierung (was indes nicht bedeutet, dass er außerstande ist, sich menschlicher Gegner im Kampf durch Tötung zu entledigen, das stellt er schon unter Beweis), und schließlich entwickelt er sogar eine Möglichkeit, menschli­che Hirnaktivität in Worte zu formen, so dass eine faszinierende Form von maschineller Quasi-Telepathie entsteht.

Von solchen Visionen sind stumpfsinnige Filme und Bücher, die dieses Thema behandeln, bis heute relativ weit entfernt. Gerade die „Terminator“-Filme haben stattdessen ein technophobes Kli­ma geschaffen, das durch solche Verfilmungen wie „I, Robot“ oder jüngst etwa „Ex Machina“ usw. noch verstärkt wurde. Viel­leicht hätte Solo in Japan bessere Chancen gehabt – in den USA scheinen die Bücher nie sonderlich erfolgreich gewesen zu sein. Auch ein 1996 erfolgter Versuch, den ersten Mason-Roman zu verfilmen („Solo“, 1996) wird filmisch als Fehlschlag gewertet und zeigte wohl nur die Eindimensionalität und plumpe Theatra­lik der damaligen Zeit.

Todesbefehl“ ist bis heute ein Roman, der seinesgleichen sucht, insbesondere was die menschlich-maschinelle Empathie angeht und die darin in allen möglichen Passagen sich versteckende Form des Humors. Wer sich von dem Gedankenklischee befreit, es handele sich hier nur um einen Roman, der eine „durchge­drehte Kampfmaschine“ und deren Wiedereinfangen themati­siert und sich stärker auf den menschlichen Sozialaspekt des Werkes konzentriert, wird auch heute noch eine erstaunlich warmherzige Geschichte vorfinden, die ungeachtet ihres Alters nichts an Charme eingebüßt hat. Über die etwas archaische Technologie darin muss man einfach hinwegsehen.

© 2019 by Uwe Lammers

Na, wenn das mal nicht neugierig macht, Freunde, gell? So soll das auch sein. Bedenkt mal, dass das Angebot der Buchhand­lungen nicht das Nonplusultra der phantastischen Romane an sich darstellt, sondern nur die aktuelle Schmalspurauswahl (oft­mals durch zahllose Neuveröffentlichungen von z. T. jahrzehnte­alten Stoffen weiter verwässert – so etwa jüngst durch „2001“, Dan Simmons‘ „Hyperion“-Romane und vieles andere mehr). Der Horizont ist deutlich weiter, wenn man die antiquarischen Romane der zurückliegenden dreißig Jahre mit auf dem Schirm hat, sinnvollerweise sollte man den Scanner noch deutlich wei­ter zurück richten.

So betrachtet muss ich konstatieren: doch, es ist absolut sinn­voll, einen Roman zu empfehlen, der in der Internet-Steinzeit spielt und sich mit einer KI-gesteuerten Maschine befasst, wie sie „Solo“ ist.

In der kommenden Woche werden wir dennoch wieder boden­ständiger, kommen dichter an die Publikationsgegenwart heran und bleiben bei der erotischen Interaktion zwischen Mann und Frau. Auch das ist durchaus nicht unspannend, wie zu zeigen sein wird.

Bleibt neugierig, Freunde.

Bis nächste Woche, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Das Buch wurde von mir nach der Erstlektüre 1994 für das Fanzine NEW WORLDS re­zensiert. Die Rezension erschien damals im Mai 1996.

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