Liebe Freunde des OSM,

wie die meisten von euch selbstverständlich wissen, bin ich von Haus aus Histo­riker und lese neben zahlreichen belletristischen Werken, die ich favorisiert im Rezensions-Blog vorstelle, natürlich auch historische Sachbücher. Und mitunter fallen mir da welche in die Hände, die auf bemerkenswerte Weise den eigenen Horizont weiten.

Das vorliegende Buch möchte ich ausdrücklich zu diesen Werken zählen. Erik Durschmied, 1930 in Österreich geboren, aber zwischen 1952 und 1999 in den USA lebend und lehrend, hat sich darin mit Wendepunkten der Weltgeschichte beschäftigt, primär aus nahe liegenden Gründen mit militärischen … mit etwas, das man üblicherweise nicht als wesentlichen Faktor der Weltgeschichte be­trachtet, nämlich etwas, was er als „Hinge-Faktor“ bezeichnete, eine Art Schar­nierfunktion als Wendepunkte des Glücks. Und wie er äußerst lebhaft und beein­druckend zu schildern weiß, können die bisweilen äußerst kuriose Formen an­nehmen.

Welche? Schaut einfach weiter und lasst euch überraschen – ich war es an vielen Stellen dieser bemerkenswerten Lektüre jedenfalls:

Wie Zufall und Dummheit Weltgeschichte schreiben

Der Hinge-Faktor

Von Erik Durschmied

(Sonderausgabe, OT: Hinge Factor)

Komet, o. O., 1998

Aus dem Amerikanischen von Gertraud Broucek und Sabine Bröhl

292 Seiten, geb.

ISBN 3-933366-07-0

Der so genannte „Hinge-Faktor“ ist ein Begriff aus dem Militär-Jargon und war mir vor der Lektüre dieses Buches so auch nicht bekannt. Er bezeichnet einen la­bilen Punkt innerhalb einer militärischen Auseinandersetzung, eine Belastungs­schwelle sozusagen, von der ab das Schlachtenglück umkippen kann und an­fangs positive Schlachtverläufe ins Gegenteil zu verkehren imstande ist. Oftmals hängt nämlich der siegreiche Verlauf von Gefechten durchaus nicht von Mann­stärke oder überlegener Waffenkraft ab. Der Hinge-Faktor hat viel mit Psycholo­gie, mit persönlichen Animositäten, mit Irrationalität, geradezu lebensmüdem Wagemut, mangelnder Voraussicht oder eben auch Wetterkapriolen zu tun. Die Schlacht gewinnt nicht derjenige, der besser dafür gerüstet ist, sondern eher die Seite, die weniger Fehler macht.

Das ist für Militärtaktiker natürlich einigermaßen ernüchternd. Schon der Militärhistoriker John Keegan konstatierte zutreffend, dass mit zunehmender Komplexität der Kämpfe die Übersicht über den Kampfverlauf quasi in dem Moment für die befehlshabenden Offiziere verloren geht, in dem der erste Schuss abgefeuert wird.1 Man kann sich das bei Waterloo oder beispielsweise solchen ausgedehnten Schlachten wie bei Tannenberg im Ersten Weltkrieg gut vorstellen. Aber besonders haarsträubend wird es dann in der modernsten Zeit, wenn die eigentlichen Männer am Drücker Tausende von Kilometern entfernt sitzen und ihre Drohnen, Lenkwaffen und Kampfgeschwader ins Zielgebiet des Konflikts dirigieren.

Der Hinge-Faktor gewinnt also mehr und mehr an Bedeutung, und es ist nicht abzusehen, dass sich das ändert.

Erik Durschmied lotst den Leser in diesem Buch durch gut drei Jahrtausende Konfliktgeschichte. Je nach Faktenlage fallen die Kapitel mal kürzer, mal länger aus. Notwendig sind die frühen darum eher knapp gehalten, etwa „1184 v. Chr., Troja – Ein hölzernes Pferd“ oder auch „25. Oktober 1415, Azincourt“. Gene­rell ist die Struktur der einzelnen Kapitel dergestalt, dass zunächst eine Schilde­rung des Verlaufs gebracht wird, sodann eine kurze Quintessenz, worin der Hin­ge-Faktor des jeweiligen Vorfalles bestand, ergänzt um kontrafaktische Spekula­tionen (was für Phantasten natürlich interessant ist und für Schriftsteller, die nach Ideen suchen, eine schöne Quelle der Inspiration darstellt), um dann noch kurz die Konsequenzen für die Weltgeschichte zu resümieren.

Wir reisen auf diese Weise durch die Jahrhunderte und über die Kontinente. Von Kleinasien des 2. vorchristlichen Jahrtausends zu den Kreuzzügen (1187), von Azincourt in Frankreich zu einem Ort namens Karansebes (1788).2 Wir schreiten über das blutgetränkte Feld von Waterloo, wo eine Handvoll Nägel das Kriegs­glück entscheidet, besuchen Balaklawa (1854), mischen uns in den amerikani­schen Bürgerkrieg bei Antietam (1862) und erfahren hier von den drei Zigarren, die zentral waren (ich stutzte anfangs genauso wie ihr jetzt, vertraut mir!). Von Königgrätz (1866), dem legendären Feldzug zwischen Österreich und Preußen, der die deutsche Reichsgründung vorbereiten half, hatte ich natürlich schon in den Geschichtsbüchern gehört … aber nicht so, wie es hier geschrieben stand.

Auch vom 28. August 1914 und der so genannten Schlacht bei Tannenberg hatte ich schon viel gelesen, naturgemäß, als Historiker, der viel über den Ersten Welt­krieg weiß. Doch auch hier wusste Durschmied Unbekanntes geschickt zu refe­rieren. Vor allen Dingen hätte ich mir nie träumen lassen, dass „ein Schlag ins Gesicht“, und noch dazu Tausende von Kilometern von Ostpreußen entfernt, letztlich solche desaströsen Auswirkungen auf die russische Militärtaktik vor Ort haben könnte.

Inwiefern am 5. November 1914 in Tanga in Afrika „der Stich einer Biene“ schlachtentscheidend war, muss man auch wirklich nachlesen, es ist nachgerade grotesk und blamabel für die britischen Interventionstruppen und die Dummheit des Kommandanten.

Weiter geht die chronologische Reise über Frankreich 1940, dann hinauf auf den kalten Atlantik im Mai 1941 auf der Jagd nach dem monströsen Schlachtschiff BISMARCK (auch diese Geschichte hatte ich schon öfters gelesen, doch auch hier vermochte Durschmied zu überraschen). Ein letztes Kapitel beschäftigt sich dann mit der Spionagegeschichte des Zweiten Weltkriegs und oszilliert zwischen Moskau, Berlin und Tokio.

Ab dem nächsten Kapitel, „31. Januar 1968, Vietnam – Der Tod eines Mannes“ referiert Durschmied dann teilweise aus seinem eigenen Leben, denn er war in Vietnam persönlich dabei. Und das Foto, um das es hier zentral geht, ist selbst mir in erschütternder Erinnerung, wiewohl ich zu dem Zeitpunkt gerade mal knapp anderthalb Jahre alt war.

Ein wenig aus der Rolle fällt der 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer (wo m. E. ein Zitat falsch rückübersetzt worden ist), eben weil es dort ja gerade nicht um einen Schlachtverlauf ging. Das ist hingegen beim „17. Januar 1991 – Der Nullfaktor“ der Fall, der mich frösteln ließ. Besonders der letzte Ab­satz ist es hier wert, bedrückt zitiert zu werden: „Der Hinge-Faktor im Golf­krieg lag in der absoluten technologischen Überlegenheit während der ersten Stunden des Angriffs. Alles, was danach geschah, war kein Krieg mehr, es war nur noch Vernichtung.“

Diese erschütternde Feststellung bestärkt mich leider in meinen über viele Jahre gehegten Annahmen. Auch, dass Norman Schwartzkopf, der Befehlshaber der Streitkräfte, sich anschließend um seinen Sieg betrogen fühlte und in den Ruhe­stand ging, passt sehr dazu, dass am Ende des Golfkriegs die Politiker den Pri­mat der Handlung übernahmen und eben den Feldzug nicht mit der Einnahme von Bagdad und dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein vollendeten. Dies war – politisch – gar nicht der Zweck des Feldzuges gewesen. Stattdessen sollte Saddams Militärmaschinerie zerschlagen werden (was, wie Durschmied nach­drücklich schildert, schnell und glänzend realisiert wurde – mit vermutlich rund 200.000 irakischen Opfern, von den Zivilisten mal ganz zu schweigen). Der Po­tentat selbst blieb an der Macht, und wir wissen ja, dass es erst eines zweiten, durchweg irrationalen Feldzuges eines pathologischen US-Präsidenten Bush jr. bedurfte, um ihn zu entmachten und vor Gericht zu bringen. Frieden hat diese Aktion der Region aber nicht gebracht.

Es ist also ein wenig bedauerlich, dass Durschmieds Buch so alt ist und speziell die Konflikte des frühen 21. Jahrhunderts hierin notwendig nicht enthalten sein können. Ich bin der Überzeugung, der Verfasser wäre heutzutage mehr denn je der Ansicht, dass der „Hinge-Faktor“ an Bedeutung eher noch gewonnen hat. Ich bin zumindest dieser Auffassung, weil moderne Militärstrategen leider auf beklagenswerte Weise dazu neigen, sich auf Hightech-Waffen zu verlassen und dabei den Individualfaktor am Boden sträflich vernachlässigen.

Solche Kontexte wie Familienehre, das Rächen gefallener Geschwister oder El­tern, irrationale Dinge wie das Verletzen von religiösen Geboten oder heiligen Stätten, auch das wären zweifellos Hinge-Faktoren der Gegenwart, die heutzuta­ge stärkere Relevanz haben als in Durschmieds Buch.

Alles in allem aber ist dieses Werk ein Sachbuch, das solide mit Fußnoten kom­mentiert worden ist (manchmal mit überflüssigen, sehr häufig aber mit äußerst nützlichen, die informatorischen Mehrwert bereitstellen), das handlungsdicht ge­schrieben ist und vielfach ungewöhnliche Blickwinkel auf bekannte historische Konfliktherde bietet. Bedauernswert fand ich, dass sich kein Literaturverzeich­nis entdecken lässt – aber dies ist eine preiswerte Nachdruckausgabe, da ist das von vornherein zu erwarten. Sehr erwähnenswert sind auch noch die angefügten Kartenmaterialien im Anhang, die besonders bei den komplexen Schlachtverläu­fen dem Leser helfen, den Überblick zu behalten.

Ich habe selbst als Historiker das Buch mit Gewinn gelesen und kann es als Lek­türe, Informationsquelle und Inspiration für kreative Geister guten Gewissens weiterempfehlen.

© 2016 by Uwe Lammers

Wie ihr sehen könnt – ein Buch, das mich vor rund vier Jahren schwer beeindruckt hat. Inzwischen schätzungsweise längst vergriffen und nur noch antiquarisch zu bekommen. Aber die Suche danach lohnt sich.

Das gilt auch für das Buch, das ich euch kommende Woche vorstellen möchte und das noch ein paar mehr Jahre auf dem Buckel hat. Lasst euch mal überraschen, worum es sich handelt.

Bis dahin, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Vgl. hierzu John Keegan: „Das Antlitz des Krieges“, Frankfurt am Main 1991.

2 Wer diesen Ort nicht kennt und sich fragt, wieso hier „ein Fass Schnaps“ den Ausschlag über das Schlachten­glück gab, sollte sich das nicht entgehen lassen.

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