Rezensions-Blog 298: Der Tag der Auferstehung

Posted Dezember 10th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

aktuell hat die Corona-Pandemie in Deutschland knapp 8.000 Todesopfer gefordert, gut 170.000 Menschen sind nachweislich infiziert worden (Stand RKI: 12. Mai 2020). Wie die Lage ist, wenn dieser Rezensions-Blog Anfang Dezember 2020 veröffent­licht wird, kann ich nicht wirklich prognostizieren. Aber wenn ich mir anschaue, wie zum Teil fahrlässig und voreilig die Isolations­restriktionen zurückgenommen werden sollen und eine Rück­kehr zur „Normalität“ stattfindet, während doch noch kein Vak­zin zur Verfügung steht, mit dem die Pandemie wirkungsvoll zu­rückgeschlagen werden kann, dann erfüllt mich das mit Besorg­nis (Nachtrag vom Veröffentlichungstag: Die zweite Welle der Pandemie hat uns inzwischen voll im Griff, und die Zahl der Infizierten geht allein in Deutschland in die Hunderttausende, fast 20.000 Menschen sind bundesweit schon verstorben, und ein Ende ist aktuell nicht abzusehen).

Selbstverständlich begreife ich bestens, dass das Leben weiter­zugehen hat, auf dass die Wirtschaft wieder gesundet, wenn die auf die Pandemie wahrscheinlich zwangsweise folgende Wirt­schaftsdepression nicht ganze Geschäftszweige in die Insolvenz treiben soll. Ich verstehe auch die Sorgen vieler Unternehmer und Arbeitnehmer sehr gut, die Angst um ihre wirtschaftliche Existenz haben. Aber ich rate zur Vorsicht und zu weiterer Ein­haltung der Selbstquarantäne- und Isolationsmaßnahmen, um nicht beispielsweise den fatalen Weg zu nehmen, den die USA, Russland oder Indien derzeit beschreiten und der gesundheitlich in den Abgrund führt.

Schon eine ganze Weile, ehe überhaupt an diese Form des glo­balen Ausnahmezustandes gedacht wurde, gelangte ich im Zuge der Digitalisierung meiner frühen Rezensionen an ein Werk, das ich schon halb vergessen hatte – und dann stellte ich fest, dass es auf geradezu bestürzende Weise aktuell war. Nach­dem die überarbeitete Rezension schon in diversen Fanzines in diesem Jahr veröffentlicht wurde, soll sie auch in diesem Rezen­sions-Blog nicht ausgespart werden.

Schaut euch also mal an, was ein japanischer Phantast sich An­fang der 60er Jahre (!) des 20. Jahrhunderts als finalen Schre­cken ausmalte, der die Menschheit quasi ausrottet: ein Mikroor­ganismus, der scheinbar aus Asien einen weltweiten, unaufhalt­samen Feldzug antritt:

Der Tag der Auferstehung

(OT: Fukkatso no hi)

Von Sakyô Komatsu

Heyne 4443, 1987 (1964)

336 Seiten, TB

Aus dem Japanischen von Michael Morgental und Keiko Miriam Inaba

ISBN 3-453-00961-4

Aktuell sucht uns das Corona-Virus heim und stürzt auf bislang ungeahnte Art und Weise die Welt in mikrobiell erzeugtes Cha­os. Alle relevanten Institutionen in Politik, Wirtschaft und den Medien reden über den winzigen Erreger, der sich von China in alle Winkel der Erde ausbreitet und reihenweise Staaten zum Kollaps nötigt und die Nationen in den Ausnahmezustand beför­dert. Vor wenigen Jahren hätte man dies noch als bizarren Aus­fluss überhitzter Phantasie bezeichnet. Dabei hätte uns allen klar sein müssen, dass in einer globalen Weltwirtschaft mit per­manentem Personentransit in Millionenzahl mittels des interna­tionalen Flug- und Warenverkehrs ein solcher Vorfall nur eine Frage der Zeit sein würde.

Wie sich erwiesen hat, ist die physische Welt gegen ein nicht minder physisches mikrobenbasiertes Verhängnis nicht weniger störanfällig als gegen einen Programmiervirus, der mühelos Na­tionengrenzen überspringt und sich auf allen Kontinenten ein­nistet und Milliardenschäden hervorruft. Doch die Corona-Epide­mie erweist sich medial als sehr viel wirkungsvoller als in der physischen Ausprägung, die in 80 % der Fälle sehr mild verläuft. Horrorszenarien, die von 10-prozentigen Todesraten ausgehen, sind definitiv überzogen.

Eine befreundete Professorin, die davon weiß, dass ich seit lan­gem phantastische Geschichten schreibe, meinte daraufhin, dies sei doch gewissermaßen eine Steilvorlage, darüber könne ich nun „Science Fiction“ schreiben … diese Bemerkung führte für mich zu einem Erinnerungs-Aha-Erlebnis. Zu zweien, genau genommen. Zum einen erinnerte ich mich an Stephen Kings „The Stand“ (Das letzte Gefecht), das ich vor Jahrzehnten las und das das Schreckgespenst einer globalen Supergrippen-Pan­demie an die Wand malt, durch die die Spezies Mensch nahezu vollständig kollabiert. Aber Kings Roman war beileibe nicht der erste, der eine solche Katastrophe imaginierte. 1992 rezensierte ich bereits einen Roman, der noch ein paar Jahrzehnte älter war, aus dem asiatischen Raum stammte und heute vermutlich ver­gessen ist.

Die Rede ist von dem 1987 auf Deutsch erschienenen Werk „Der Tag der Auferstehung“ von Sakyô Komatsu (es ist anzuneh­men, dass King die Geschichte bekannt war). Wenn heutzutage „Die Pest“ von Albert Camus verstärkt nachgefragt wird, sollte man sich auch dieses Buches erinnern, dessen Inhalt ich aus Aktualitätsgründen gern ins Gedächtnis zurückrufe:

An einem Tag gegen Ende der 60er Jahre verübt ein britischer Professor Verrat an seiner Nation. Er übergibt einen aus den USA gestohlenen hochtoxischen Bazillus Unbekannten, die ihn über Mittelsmänner, was er nicht wissen kann, in die USA zu­rückbringen sollen. Doch das Flugzeug stürzt ab, und der Erre­ger wird außerplanmäßig freigesetzt.

Im darauf folgenden Frühjahr setzt auf der Po-Ebene ein Mas­sensterben von Feldmäusen ein. Bald darauf tritt eine Grippe-Epidemie in Erscheinung, die ungewöhnlich heftig zu sein scheint. In Australien findet eine Infektion einer neuen Art von Rinderpest statt. Niemand sieht hier Zusammenhänge, zumal die Ministerien, denen die bakteriologische Kriegsführung ob­liegt, aus nationalen Interessen Geheimnisse über solche Waf­fen unter Verschluss halten.

Binnen weniger Wochen aber verbreitet sich die Krankheit, die jetzt „Tibetanische Grippe“ genannt wird, weil man dort das Ur­sprungsland vermutet, über die ganze Welt. Auch jetzt ist die Öffentlichkeit zwar besorgt, mehr aber noch nicht. Doch die Vi­rologen auf der ganzen Welt erkennen sehr rasch, dass dieser Virus anders ist als die bislang bekannten Arten der Grippe. Ver­harmlosung der Gefahr und der unerschütterliche Glaube an die medizinischen Fortschritte lassen die Menschen die Gefahr ba­gatellisieren. Als der Frühsommer beginnt, sind bereits Millionen Menschen an der „Grippe“ erkrankt. Da das Virus eine Tarnkom­ponente hat, ist es nicht in seiner eigentlichen Form erkennbar. Das Ur-Virus wurde mit einer Raumsonde aus dem Weltraum auf die Erde eingeschleppt, und seine Vermehrungsfähigkeit spottet jeder Beschreibung. Selbst in den Laboren Englands und der USA hatte man, bis das Virus entwendet wurde, noch kein Ge­genmittel gefunden.

Als der Sommer anbricht, sind an der Tibetanischen Grippe al­leine in Japan schon mehr als zehn Millionen Menschen gestor­ben. Es zeigt sich, dass die Impfungen mit herkömmlichen Grip­pe-Vakzinen nur dann helfen, wenn man die dreifache Dosis spritzt. Aber selbst diese Menschen erkranken wieder. Es ist zu wenig Vakzin vorhanden, und wenn so viel Serum gespritzt wird, häuft sich ein weiteres unheimliches Phänomen, der „plötzliche Tod“, das Tausende und bald Millionen von Menschen erfasst, die einfach mitten auf der Straße zusammenbrechen und ster­ben.

Das gesellschaftliche Leben in allen Staaten der Erde bricht mit der Schnelligkeit eines Dominoeffekts in sich zusammen. Ärzte kämpfen auf verlorenem Posten gegen einen Feind, den sie nicht identifizieren können. Die Sterberate erhöht sich bald sprunghaft von 30 auf 80 Prozent, und bis Mitte Juli sind von 100 Millionen Japanern bereits 80 Millionen gestorben und der Rest infiziert. Am Ende des Sommers legt sich grausiges, ulti­mates Schweigen über die verlassenen, leichengefüllten Städte der Menschheit.

Lediglich in der Antarktis haben noch knapp zehntausend Men­schen überlebt, die vor der Katastrophe hier als Bewohner meh­rerer Stationskomplexe verschiedenster Länder angesiedelt wurden. Sie haben durch zwei Atom-U-Boote noch Kontakt zur Außenwelt und müssen hier eine mehrjährige Quarantäne durchmachen, die unter Umständen ewig währen wird, da im­mer noch niemand ein Mittel gegen diese Seuche kennt.

Doch die Gefahren sind auch jetzt nicht gebannt. Ein japani­scher Seismologe erkennt bald, dass sich in Alaska ein gewalti­ges Erdbeben mit der Stärke 9 ereignen wird, was prinzipiell nichts verändern würde, da die Städte auf den Kontinenten oh­nehin schon menschenleer sind. Aber – es gibt in den Vereinig­ten Staaten ein automatisches Verteidigungssystem, das alle Atomraketen abschießen kann, selbst wenn alle Bedienungs­mannschaften ausgeschaltet sind. Und wenn in Alaska die Radarzentralen ausfallen, wird das System in Washington dar­aus schließen, dass sie Opfer eines nuklearen Angriffs wurden – und Atomraketen auf die Sowjetunion abschießen. Die Gefahr für die Antarktiker besteht darin, dass sowohl die USA dieses System haben als auch die UdSSR und vielleicht einige Nuklear­sprengkörper davon auf die Antarktis gerichtet sein könnten …

So entschließen sie sich zu einer selbstmörderischen Aktion, diese beiden Vernichtungssysteme abzuschalten, die den Tag der Auferstehung der Menschheit, der irgendwann kommen könnte, restlos zunichte machen würden …

Dieser Roman, 1964 geschrieben vom Japaner Sakyô Komatsu, allerdings unverständlicherweise erst 23 Jahre später in Deutschland erschienen, greift gleich eine ganze Reihe kriti­scher und beängstigender Thematiken auf, die von bakteriologi­scher Kriegsführung und deren Sinn und Gefahr über die nukleare Bedrohung bis hin zu geophysikalischen Themen reichen. Alleine wer den Prolog liest, der den Titel „März 1973“ trägt (da­mals noch neun Jahre in der Zukunft), merkt, dass er hier ge­nauso gut einen Horror-Schocker in den Händen halten könnte. Die Darstellung eines menschenleeren Japans, dessen Küsten­städte mit Wracks gestrandeter Schiffe und dessen Straßen mit Leichen und Trümmern bedeckt ist, gereicht jedem Horror-Ro­man zur Ehre.

Abgesehen davon sind diese beklemmenden Schreckensvisio­nen keineswegs restlos an den Haaren herbeigezogen. Unfälle in Zentren der bakteriologischen Kriegsführung hat es schon im­mer gegeben, viele authentische Daten verwebt Komatsu mit visionären zu einem ausgesprochen plastischen Schreckensge­mälde, das für Hoffnung kaum mehr Platz lässt.

Wie eingangs erwähnt – gerade in Zeiten einer akuten mikrobi­ellen Krise wie sie zurzeit unsere globalisierte Menschheit heim­sucht, tut man gut daran, sich an derlei Schreckensvisionen zu entsinnen, die begabte Phantasten schon vor langer Zeit publik machten, als das alles noch als realitätsfernes Gruselgarn abge­tan wurde. Wir erleben heute, dass darin deutlich mehr bedroh­liches Potenzial steckt. Die aktuelle Lage sollten wir also bei al­lem Respekt ernst nehmen, ohne indes in hysterische Angstzu­stände zu verfallen. Denn damit helfen wir niemandem, am we­nigsten uns selbst.

Ich finde den Roman unter den aktuellen Umständen äußerst lehrreich, da er auf höchst drastische Weise (wenn auch unter Einbeziehung von Nuklearwaffen) zeigt, wie schlimm es wirklich kommen könnte. Er sollte uns das ruhige Augenmaß zurückge­ben und uns zugleich zur Besonnenheit mahnen.

© 1991/92/2019/2020 by Uwe Lammers

Wahrhaftig, eine schaurige Schreckensvision vom Ende der Welt, wie sie uns heute nicht mehr vollkommen undenkbar er­scheint.

Während ich diese Überarbeitung in die Wege leitete, stieß ich noch auf eine andere literarische Verarbeitung einer Pandemie, und zwar ging es da um die Spanische Grippe von 1918. Ich be­richte davon in der kommenden Woche … unter anderem.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>