Rezensions-Blog 304: Über Patricia Highsmith

Posted Januar 20th, 2021 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es ist manchmal faszinierend, wie man im Laufe der Jahre über Personen, von denen man anfangs denkt, man kenne sie eigent­lich doch recht gut, Neuigkeiten herausfindet, die das Bild der Person völlig umkrempeln. So geschah das bei mir auch im Falle der amerikanischen Krimiautorin Patricia Highsmith.

Ich mochte sie schon vor dem Jahr 2002, als ich das unten be­sprochene Buch über sie erwarb und äußerst wohlwollend re­zensierte. Aber ich ahnte zu dem Zeitpunkt nicht, dass dieses Bild nur ein zu Lebzeiten nach außen reflektiertes Bild, gewis­sermaßen die offizielle Highsmith-Lesart projizierte. Sie hatte, wie wir heute wissen, guten Grund, gewisse Details ihres Le­bens unter den Teppich zu kehren und der Öffentlichkeit, den Journalisten und selbst ihren Autorenkollegen gegenüber konse­quent zu verschweigen.

Als ihre langjährige Freundin und Geliebte Marijane Meaker ihre Erinnerungen an Patricia Highsmith anno 2008 veröffentlichte (ich habe das Buch 2016 rezensiert und diese Rezension ein Jahr später in meinem Rezensions-Blog veröffentlicht1), kam bei­spielsweise Highsmiths lesbische sexuelle Orientierung zutage, die möglicherweise erklärt, warum sie sich dann in ihren Wer­ken zumeist von Frauen-Identifikationspersonen üblicherweise ferngehalten bzw. sie eher schematisch dargestellt hat. Eventu­ell fürchtete sie, unbewusst autobiografisch-enthüllende Ele­mente einfließen zu lassen, die unangenehme Fragen induzie­ren würden.

Vor einigen Monaten wurde zudem bekannt, dass im Nachlass der Highsmith ihre Tagebücher gefunden wurden, die zurzeit ediert und zur Veröffentlichung vorbereitet werden. Die Corona-Krise verzögert das alles zweifellos, aber es steht zu erwarten, dass wir etwa anno 2021 oder 2022 noch etwas genaueren Auf­schluss über die Verbindung von Highsmiths Leben und Werk er­halten werden – womit wir wieder einmal lernen, dass eine Künstlerpersönlichkeit auch dann, wenn sie nicht mehr unter uns weilt, immer noch für Überraschungen gut ist.

Wer mit Patricia Highsmith bzw. ihrem Werk noch keine nähere Bekanntschaft geschlossen haben sollte, dem empfehle ich wärmstens, nun weiterzulesen. Es lohnt sich.

Glaubt ihr nicht? Ihr werdet überrascht sein:

Über Patricia Highsmith

Herausgegeben von Franz Cavigelli und Fritz Senn

Diogenes 20818

240 Seiten, TB

Erschienen im Jahr 1980

ISBN 3-257-20818-9

 

Mich haben immer nur die kriminellen Anlagen und Möglichkei­ten der Normalmenschen in der Gesellschaft beschäftigt, dabei ist mir die Aufklärung eines Mordfalles völlig gleichgültig. Gibt es etwas Langweiligeres und Gekünstelteres als Gerechtigkeit? Weder das Leben noch die Natur scheren sich einen Deut dar­um, ob einem Geschöpf Gerechtigkeit widerfährt. Ich erfinde Geschichten, und mein Ziel ist es nicht, den Leser moralisch aufzurüsten, ich will ihn unterhalten. Leute ohne Moral, wenn sie nicht sture, brutale Charaktere sind, amüsieren mich. Sie haben Phantasie, geistige Beweglichkeit und sind dramatisch nahrhaft.“

Jemand, der so redet, scheint mindestens interessant zu sein, so interessant, dass man sich mit ihm oder ihr beschäftigen soll­te, wenn diese Gedanken allzu provokant daherkommen.

Die Frau, die diese Sätze sagte, hieß Patricia Highsmith, eine Autorin, von der zahlreiche Kollegen gesagt haben, dass sie die „Suspense“-Literatur ungemein bereichert habe und Kriminalro­mane dem Standard hoher Literatur nahe brachte. Sie selbst sah das freilich nicht ganz so, wie ein Interview sagte.

Auf die Frage von Holly-Jane Rahlens (anlässlich einer Highsmith-Lesung am 16. November 1977) „Meinen Sie damit, dass Sie Ihr Werk nicht als ‚Literatur’ betrachten?“ wusste Highsmith lediglich zu antworten: „Nein … na ja … ich denke nie an die Li­teratur. Mit Ediths Tagebuch, ja, da habe ich mir Mühe gege­ben. Es ist ein ernstes Buch. Die Kritiker meinen, dass ich mit diesem Buch eine hohe Ebene erreicht habe, dass ich auf der gleichen Stufe mit bekannten guten Schriftstellern stehe. Leider nannten sie Ernest Hemingway. Ich mag ihn nicht.“

Ich muss ganz subjektiv gestehen, dass ich von diesem Buch die beiden Interviews zuerst gelesen habe. Und spätestens nachdem ich mich dabei vor amüsiertem Gelächter in den Sit­zen der Straßenbahn gewunden habe, sehr zum verblüfften Schauen der anderen Mitreisende, spätestens da habe ich diese verhärmte Frau mit Schuhgröße 40 und den derben Handwer­kerhänden einfach geliebt. Sie hat so eine erfrischende Offen­heit und Direktheit am Leibe gehabt, dass es mir leid tat, von ihrem Tod im Jahre 1995 nachträglich zu erfahren. In vielen De­tails erinnerte sie mich schrecklich stark eine liebenswerte Brieffreundin, deren Namen ich hier aus Vertraulichkeitsgründen weglassen möchte, ganz im Ernst. So, wie sich Patricia manch­mal im Interview … nun, … tapsig anstellt, das ist goldig.

Im gleichen Interview geht es auch um Frauen, ein gefährliches Thema für die Highsmith (Leser ihrer Romane werden diesen Satz verstehen). Die Interviewerin fragt: „Könnten Sie sich vor­stellen, Frauen anders darzustellen, als Sie es bisher getan ha­ben, unabhängige Frauen zum Beispiel?“ Highsmith: „Ja, ich könnte das machen, natürlich. Man würde sie ‚Karriere-Frauen’ nennen, nehme ich an … ich weiß es nicht.“

Noch ein Beispiel dieser Unentschlossenheit gefällig? Auf die Frage, woher sie die Informationen für ihre Bücher herholt, kommt Highsmith auf ihren Roman Die gläserne Zelle zu spre­chen und darauf, dass man ihr verweigerte, ein Gefängnis auf­zusuchen, um die Atmosphäre einzufangen. Dann las sie einen Dokumentar-Bericht über Gefängnisse, der ihr half.

Sie fährt fort: „… Der Autor … wendet sich in dem Buch generell gegen Gefängnisse – persönlich bin ich auch dagegen … na ja, ich weiß aber nicht, wie man das Problem lösen kann. Ich mei­ne, irgendwie muss man die Kriminellen im Auge behalten. Ich weiß nicht …“

Patricia Highsmith, 1921 in den Vereinigten Staaten geboren, hat eine harsche Kindheit hinter sich: die Eltern trennen sich noch vor ihrer Geburt, sie wächst zunächst alleine mit ihrer Mut­ter auf, die sich aber bald danach wieder verheiratet und den Namen Highsmith annimmt. Patricia kann ihren neuen Vater zeitlebens nicht leiden. Streitet sich mit ihrer Mutter, die der Tochter nichtsdestotrotz das Studium finanziert.

Von jungen Jahren an fasziniert und angezogen vom Schreiben, beginnt sie als Comictexterin ihr erstes Geld zu verdienen, zieht in ein eigenes Apartment, schreibt Geschichten und schließlich den ersten erfolgreichen Roman: „Strangers on a train“, fast sofort von Alfred Hitchcock verfilmt (deutsch: Zwei Fremde im Zug (1950)). Ihr wird durch den plötzlichen Ruhm ermöglicht, sich mehr oder weniger voll aufs Schreiben zu konzentrieren.

Sie reist viel und lässt sich an verschiedenen Orten der Welt nie­der, mal in den Vereinigten Staaten, dann in England, in Frank­reich, schließlich im Tessin, wo sie 1995 stirbt. Bis dahin schreibt sie kaum zwei Dutzend Romane und etliche Kurzge­schichten, die in mehreren Storysammlungen erscheinen.

Obgleich Patricia Highsmith sich eines metaphernarmen, nüch­tern-pragmatischen Stils befleißigt und eigentlich keine weltbe­wegenden Dramen erzählt, saugen die Romane die Leser mit beklemmender Intensität in sich ein. Das liegt an den akribi­schen, fast pedantischen Charakterstudien, die sie erarbeitet, an der natur-realistischen Darstellung der Umgebung, die sie oftmals aus ihrem eigenen Wohnumfeld wählt. So spielt der au­tobiographisch angehauchte Roman „Carol“ zum Teil in einem Warenhaus, in dem sie einst einmal zur Aushilfe arbeitete. Fon­tainbleau, wo sie zu Beginn der 80er Jahre wohnt, ist Schauplatz eines guten Teils ihres Romans „Ripley’s Game“.

Und so weiter.

Sie ist Eremitin aus Passion, hat nur einmal kurzzeitig der Nei­gung nachgegeben, heiraten zu wollen, sich aber vor der Hoch­zeit wieder „entlobt“, wie sie es selbst beschreibt. Sie braucht viel Einsamkeit um sich herum, wird unleidlich und ungenieß­bar, wenn man ihr zu eng oder zu lange auf die Pelle rückt. Ihre besten Freunde sind die Schreibmaschine, die Katze, die Ziga­retten und der Alkohol – sowie Freunde auf Distanz.

So eigenwillig wie sie selbst ist auch die Art und Weise, wie sie mit ihren Personen umgeht, wie sie Dialoge gestaltet und damit Drehbuchautoren schier in den Wahnsinn zu treiben imstande ist (z. B. Raymond Chandler). Und ihre Sympathien – man merkt es am einleitenden Zitat – gehören den „Bösewichtern“. Ihre prominenteste Verbrecherfigur Tom Ripley wird jedenfalls nie­mals erwischt. Ein Rezensent schrieb mal, er sei fast sympa­thisch, seltsam nur, „dass irgendwie in seiner Gegenwart immer ein Mord geschieht“.

Ich musste lachen, als ich das las.

Dieses Buch, noch zu Lebzeiten der Highsmith zusammenge­stellt und von ihr abgesegnet, bringt zwei Besuchsreports bei der Autorin (mir drängte sich das Gefühl auf, als würden die Be­sucher sie, so lieb sie es auch meinten, schlicht in die Defensive treiben. „Drei Tage mit Patricia Highsmith“ müssen für die Ärms­te die wahre Folter gewesen sein).

Dann kommt ein analytischer Text der Highsmith selbst, „Der erste Entwurf“, der für jeden angehenden Schriftsteller ohne Frage sehr hilfreich ist. Er ist aber auch – mit dem Rest ihrer kri­tischen Kommentare zum Schreiben, insbesondere am Beispiel ihrer eigenen Romane – in dem Band „Suspense“ enthalten, der ein paar Jahre später bei Diogenes erschien.2

In drei Essays äußert sich Highsmith dann über den „talentier­ten Mr. Poe“, Raymond Chandler und Georges Simenon. Im drit­ten Teil fügen Kollegen ihre Kommentare über Highsmith hinzu. Graham Greene, Raymond Chandler, Alfred Hitchcock, François Truffaut, Julian Symons … eine illustre Runde und jede Menge faszinierender Facetten.

Auch deutsche Autoren kommen auf sie zu sprechen, wobei manche Menschen wirklich bizarre Titel für ihre Beiträge wäh­len. Peter Handke spricht beispielsweise über „die privaten Weltkriege der Patricia Highsmith“. Das macht Sinn, aber erst, wenn man es gelesen hat. Sonst klingt es geradezu monströs.

Kurz vor Schluss finden sich die beiden sehr, sehr lesenswerten Interviews und schlussendlich noch ein Fotoalbum, das Patricia selbst neckisch kommentiert hat. Erster Kommentar gefällig? „Mein ‚englischer’ Großvater Dan’L Coates und meine ‚schotti­sche’ Großmutter Willie Mae Stewart Coates, die ich beide ver­ehrte. Links mein Arm – ich war zehn Jahre alt und lief in je­nem Sommer in Astoria, Long Island, New York, herum.“ (Her­vorhebung von mir)

Es folgen goldige Bilder, eine umfangreiche Bibliografie und so­zusagen eine Checkliste für alle Highsmith-Süchtigen, die sich damit vergewissern können, ob sie auch ja nichts von ihrer Lieb­lingsautorin versäumt haben. Was mich angeht … eine Offenba­rung. Denn die gute Frau schreibt wirklich gut, und es gibt so etwa fünfundzwanzig Bücher, die ich noch nicht von ihr habe. Kein Wunder, dass ich ständig auf welche stoße, die ich antiqua­risch erwerben muss. Demnächst etwa das oben erwähnte Werk „Ediths Tagebuch“.

Wer sich für die Karrieren, Besonderheiten und Exzentrizitäten von Schriftstellern interessiert und nette Leute kennenlernen möchte, der ist hier ganz gewiss an der richtigen Adresse.

Vergesst das Alter, Leute. Wichtig ist der Inhalt! Wenn’s euch packt, kauft es.

© 2002, 2020 by Uwe Lammers

Hat mich die Enthüllung über Highsmiths sexuelle Orientierung von ihr als faszinierender Autorin abgebracht? Nein, natürlich nicht. Ich finde, die sexuelle Orientierung der Menschen und ihre kreativen Fähigkeiten, so sehr sie möglicherweise einander auch bedingen und befruchten mögen, sollte man strikt tren­nen. Und ich betrachte grundsätzlich schwule und lesbische Ori­entierung nicht als Stigma, ebenso wenig wie nationale oder „rassische“ Herkunft (letzteres gibt es ja eigentlich nicht, das ist ein ideologisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Es gibt nur eine „Menschenrasse“, nämlich den homo sapiens sapiens, mit diversen ethnischen und optischen sowie kulturellen und religiö­sen Ausprägungen, genetisch sind wir alle mehr oder minder identisch, und zu großen Teilen gilt das sogar für die genetische Übereinstimmung mit dem Mehlwurm).

Kurzum: Patricia Highsmith bleibt eine tolle Schriftstellerin, und es ist mir grundsätzlich egal, was wir in ihren Tagebüchern noch für unschöne Details finden mögen – sicher ist nur, sobald sie erhältlich sind, werde ich sie mir natürlich besorgen und lesen. Biografien sind stets faszinierend, ganz besonders die von Per­sonen, die ich sowieso schon schätze.

In der kommenden Woche kommen wir zu einem deutlich aktu­elleren Buch und zu einem brennend-aktuellen Thema, nämlich der bedrohten Biodiversität. Das solltet ihr euch wirklich mal zur Lektüre vormerken, Freunde!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu „Meine Jahre mit Pat“, im Rezensions-Blog 106 vom 5. April 2017 veröffent­licht.

2 In Vorbereitung für den Rezensions-Blog.

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