Rezensions-Blog 390: Das Ziegenproblem

Posted Februar 8th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

dieses Buch fängt schon urkomisch an, und ich kann euch aus Leseerfahrung versichern: Das geht genau so weiter, und je mehr der Kopf raucht, desto witziger wird es. Lasst mich einfach mal kurz den Anfang von Kapitel 1 zitieren, und ihr merkt sofort, was ich meine:

Ins Sommerloch gefallen …“

Das ist vielleicht ein Gefühl, in Hunderten von Briefen als Spin­ner oder Dummkopf beschimpft zu werden! Dabei hatte alles so harmlos angefangen …“

So beginnt Gero von Randow, damals Wissenschafts- und Tech­nikredakteur bei DIE ZEIT, bekennender Skeptiker und messer­scharfer Denker, beschert uns in dem heute vorzustellenden Buch eine abenteuerliche Reise durch die Wissenschaftsland­schaft des Jahres 1991 und die erstaunliche Medienresonanz auf ein Phänomen, das Gero von Randow eigentlich mit einer klei­nen Randnotiz lostrat und das einfach abenteuerlich ausuferte.

Es ging um eine Spielshow, Ziegen und Wahrscheinlichkeiten. Und was herauskam, war, sehr vorsichtig formuliert … mindes­tens abenteuerlich. Aber indem von Randow diese Geschichte nicht auf sich beruhen ließ, sondern sie dann tatsächlich zu ei­nem ganzen Buch ausbaute, dehnte sich das Thema sehr viel weiter aus und geriet in gewisser Weise zu einem faszinieren­den Lehrstück über die Grenzen des menschlichen Verstandes, wenn er sich in das Reich der Wahrscheinlichkeiten verirrt.

Glaubt ihr nicht? Na, dann lest mal weiter. Lesevergnügen und Erkenntnisgewinn sind gewiss:

Das Ziegenproblem

Denken in Wahrscheinlichkeiten

Gero von Randow

rororo-Science-Sachbuch 9337

176 Seiten, TB, Juli 1992

ISBN 3-499-19337-X

Selten machte Denken mehr Spaß als mit diesem Buch, so mein subjektiver Eindruck nach dem Beenden der Lektüre am gestri­gen Tag. Dabei ist es nicht mal ein leichtes Buch, und es wim­melt geradezu von wilden Formeln und viel Mathematik.

Abgeschreckt? Nicht doch. Schauen wir uns die Sache mal ge­nau an.

Die Geschichte beginnt im Jahre 1991 mit einem Auftritt von Marilyn vos Savant, einer amerikanischen Journalistin und an­geblich der Person mit dem höchsten IQ der Welt. In der Zeit­schrift Skeptical Inquirer gab es eine Kolumne mit dem Titel „Fragen Sie Marilyn“, und ein Leser hatte jene scheinbar unver­fängliche Aufgabe gestellt:

Sie nehmen an einer Spielshow im Fernsehen teil, bei der Sie eine von drei verschlossenen Türen auswählen sollen. Hinter ei­ner Tür wartet der Preis, ein Auto, hinter den beiden anderen stehen Ziegen. Sie zeigen auf eine Tür, sagen wir, Nummer 1. Sie bleibt vorerst geschlossen. Der Moderator weiß, hinter wel­cher Tür sich das Auto befindet; mit den Worten „Ich zeige Ih­nen mal was“ öffnet er eine andere Tür, zum Beispiel Nummer 3, und eine meckernde Ziege schaut ins Publikum. Er fragt: „Bleiben Sie bei Nummer eins, oder wählen Sie Nummer zwei?“

Zwei Türen, hinter einer steckt der Gewinn. Ganz simpel, nicht wahr? Also bleibt es sich gleich, welche jetzt gewählt wird, oder?

Falsch, sagt die IQ-Weltmeisterin, Nummer zwei hat bessere Chancen.

Da war es: das Ziegenproblem.

Das hätte nun ein amerikanischer „Sturm im Wasserglas“ blei­ben können, wenn es nicht Gero von Randow gegeben hätte. Der bekennende Skeptiker und ZEIT-Redakteur las die Kolumne, und das Ziegenproblem ließ ihn nicht mehr in Frieden. Was tat er? Einen kleinen Artikel für DIE ZEIT schreiben. Und zwar einen Artikel, in dem er vos Savant Recht gab. Was dann geschah, muss man zitieren:

Am nächsten Tag fuhr ich in Urlaub.

Und so begrüßten mich die Leser-Zuschriften, als ich zurück­kam: Der verehrte Herr von Randow sei ‚wohl ins Sommerloch gestolpert‘, ‚jeder normal begabte Zwölftklässler‘ könne schließlich begreifen, dass Frau Savants Rat ‚typische Laienfeh­ler‘ enthalte, ‚haarsträubender Unsinn“, ‚Quatsch‘ und ‚Non­sens‘, ‚absurd‘ und ‚abstrus‘ sei. Es sei ‚traurig, dass die ZEIT so etwas überhaupt aufgreift‘. Die ganze Angelegenheit sei ‚pein­lich‘, urteilte ein Mathematiker (sic!). Bestenfalls ein ‚April­scherz im Juli‘, schrieb ein Leser mitleidig, eher ein ‚Ärgernis‘, meinte ein anderer.

Die alles dies zu Papier brachten, waren zum großen Teil Akade­miker, einige mit einschlägiger Ausbildung in Statistik: Prof. Dr.-Ing., Dr. sc. math., Dr. med., Dr. jur. usw. usf. Sie schrieben auf Institutsbriefbögen, legten seitenlange Beweise bei, es kam so­gar Post aus den Niederlanden, aus Italien, Togo. Zustimmende Briefe blieben rar …“

Was nun? Hatte sich Gero von Randow geirrt? Hatte sich Frau Savant geirrt? So viele Leute konnten sich doch wohl nicht täu­schen. Betrug die Chance in der geschilderten Ziegenshow nicht vielleicht doch fifty-fifty? Vos Savant und Gero von Randow be­haupteten unisono: nein, die Chance beim Wechseln betrüge 2/3.

Gero von Randow rechnete nach. Er blieb bei seiner Position.

DIE ZEIT verfuhr anders: „Die Leserbrief-Redaktion wählte drei Briefe aus, die mich kritisierten, und ließ sie unter der Über­schrift ‚Verquere Logik‘ drucken. Das mochte ich nicht auf mir sitzen lassen und schrieb einen zweiten Artikel. Wieder nahm ich für Frau Savant Partei – und entfachte den zweiten Sturm. Mittlerweile hatte der SPIEGEL die Geschichte aufgegriffen, gab ebenfalls Frau Savant recht und bescherte sich die entsprechen­de Leserpost.“

Die Lage eskalierte, wie von Randow aus der Erinnerung schil­dert:

Das Ziegenproblem hielt offenbar viele Menschen in Atem. Fe­ten platzten, und Ehepaare stritten sich. Professoren setzten ihre Assistenten an das Ziegenproblem, Mathe-Lehrer verwirr­ten ihre Schüler, Zeitungsredakteure erklärten sich gegenseitig für begriffsstutzig.“

In den USA war noch mehr los. Die NEW YORK TIMES berichtete am 21. Juli 1991 von den Auswirkungen: „Die Antwort, wonach die Mitspielerin die Tür wechseln solle, wurde in den Sitzungssä­len der CIA und den Baracken der Golfkrieg-Piloten debattiert. Sie wurde von Mathematikern am Massachusetts Institute of Technology und von Programmierern am Los Alamos National Laboratory in New Mexico untersucht und in über tausend Schulklassen des Landes analysiert.“

Überwiegender Tenor war jedoch nach wie vor Skepsis, Hohn und Spott, der auch reichlich über Marilyn vos Savant ausgegos­sen wurde. Von Randow zitiert einige der Äußerungen: „‚Unsere mathematische Fakultät hat herzlich über Sie gelacht’, hänselte eine Professorin. ‚Es gibt schon genug mathematische Unwis­senheit in diesem Land’, beschwerte sich ein Akademiker bei der Zeitschrift PARADE, ‚wir brauchen nicht den höchsten IQ der Welt, um diese Unwissenheit zu vertiefen. Schämen Sie sich!’ Ein weiterer Leser vermerkte höhnisch: ‚Vielleicht haben Frauen eine andere Sicht mathematischer Probleme als Männer.’“

So, und nun der Clou der ganzen Geschichte: Alle diese gelehr­ten Leute haben sich getäuscht. Marilyn vos Savant und Gero von Randow haben Recht, und von Randow beweist in diesem hochspannenden Buch, warum und weshalb.

Dabei wäre es natürlich wirklich trivial, wenn es „nur“ um das Ziegenproblem ginge. Das Ziegenproblem ist jedoch ein perfek­ter Fokus, gleichsam ein Brennglas, in dem sich der Geist bün­deln kann, um zu tieferliegenden Ebenen des Verständnisses vorzustoßen. Indem der Leser Gero von Randows Argumentatio­nen nachvollzieht, kann er langsam vom Trivialen zu den wirkli­chen Essentials des menschlichen Denkens vorstoßen. Er er­fährt sehr viel über die Geschichte der Mathematik, über die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Probleme, die sich damit über die Jahrtausende verbanden.

Außerdem, und das ist mitunter sehr vergnüglich, kommen ihm solche Dinge wie Hokuspokus, Außerirdische und Heuschnupfen vor die Augen, er hört eine Menge über Münzwürfe, Urnen mit farbigen Kugeln, russisches Roulette, abstürzende Luftschiffe, Futurologen, technische Sicherheitspannen (wie etwa Schiffskol­lisionen), er hört vom sehr vergnüglichen Geburtstagsparadox (wobei sich übrigens fast alle vertun, der Rezensent selbst auch). Ferner tauchen Tauchziegen auf, Prüfungsgremien und Pistolenschützen.

Und dann geht es in den menschlichen Geist. Es wird dem Leser eine Lektion in Fragen des Irrtums und falschen Schließens zu­gemutet, was gelegentlich einen unangenehmen Beigeschmack hinterlässt. Wir erfahren von Tanzstunden, Ehestreitigkeiten, von der Drake-Formel zur Ermittlung der Wahrscheinlichkeit in­telligenten Lebens im Universum. Es geht weiterhin um Schoko­kekse, Machos und Vorurteile, Müslistatistik und Babys, um schöne Frauen, Fußballtrainer und Jetpiloten, um Lottochancen …

Man sieht, für jeden ist was dabei. Man muss nur die Bereit­schaft besitzen, Gero von Randow auf jenen Pfad des Denkens zu folgen, der dem ersten Anschein nach der krummere von beiden zu sein scheint. Und wer dies tut, der wird mit einer ge­wissen Bestürzung im Laufe der Lektüre begreifen, dass nicht Frau Savants und Gero von Randows Logik und Sicht der Welt schief ist, mithin der Weg nicht krumm, sondern vielmehr, dass das, was wir als menschliche Alltagslogik tagtäglich anwenden, so viele Lücken und falsche Schlüsse birgt, dass dieser Weg recht eigentlich als der falsche bezeichnet werden muss.

Der Leser erkennt schließlich eine Menge darüber, wie er selbst in Wahrscheinlichkeiten denkt bzw. wie viele Probleme sich ihm unbewusst in den Weg stellen und wie sehr der Geist eigentlich „faul“ ist und zu schnellen, scheinbar „richtigen“ Lösungen ten­diert. Man sieht, wie schnell und gut man selbst manipulierbar ist und sich – meist unbewusst – selbst manipuliert, ganz unab­hängig von der eigenen Intelligenz, dem Schulabschluss oder der eigenen beruflichen Profession. Das ist dann doch sehr er­hellend, mitunter auch ernüchternd.

Mathematik ist ein schwieriges Fach für die meisten Schüler, auch für mich, und Logik ist eine knifflige Sache. Doch wenn sie so unterhaltsam dargebracht wird wie bei Gero von Randow in diesem wirklich sehr klugen und informativen Buch, dann zeugt es nicht gerade von Klugheit, wenn man sich dieses Vergnügen entgehen lässt. Wie lautet doch noch einmal der Klappentext, mit dem der Autor die potenziellen Leser ködert?

Zugegeben, Formeln sind die Geheimwaffe einer internationa­len Verschwörung gegen Ihr Selbstbewusstsein. Am besten tun Sie so, als würde Ihnen das nichts ausmachen. Das verwirrt den Gegner.

Wenn Sie die Formeln überspringen, entgehen Ihnen die we­sentlichen Aussagen dieses Buches nicht. Worauf Sie dann al­lerdings verzichten müssen, ist das befriedigende Gefühl, ein Problem formal gelöst zu haben. Dieses Glücksgefühl wird er­zeugt, indem chemische Substanzen im Hirn ausgeschüttet werden; insofern ist dieses Erlebnis mit einem Orgasmus ver­gleichbar. Überlegen Sie sich das mit den Formeln also noch einmal.“

Grinsen ist erlaubt. Und dann sollte man das Buch lesen, stau­nen, oft kichern und begreifen. Denn schließlich ist die ganze Welt eine Ziegenshow … wie, das habt ihr noch nicht gewusst?

Na, dann wird es aber höchste Zeit für die Lektüre!

© 2004 by Uwe Lammers

Ja, das war schon ein wildes Abenteuer, vielleicht etwas unerwartet für euch. Und in der nächsten Woche kommen wir dann zu Abenteuern einer ganz anderen Art, die auch völlig ohne mathematische Formeln auskommen, versprochen!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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