Rezensions-Blog 404: Sherlock Holmes in Rio

Posted Mai 16th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

in der vergangenen Woche unterhielten wir uns recht tiefschür­fend über das Thema Tod und seine Variationen im Bereich der phantastischen Literatur. Und so, wie ich es schrieb, kommen natürlich auch ganz diesseitige Romane nicht ohne dieses uni­versale Thema vor.

Was wäre ein Sherlock Holmes-Roman ohne Tote, nicht wahr? In der Regel Mordopfer. Alles beginnt zwar mit einer eher schlicht zu nennenden Diebstahlgeschichte, aber bekennende Holmsia­ner wissen natürlich, dass so etwas lediglich die Camouflage ist und im Hintergrund das Verhängnis größerer Gefahren lauert. So ist es auch hier.

Und noch ein Gast ist in diesem Roman daheim, auf den man gefasst sein sollte, umso mehr, als man ihn bei den gewöhnli­chen Holmes-Geschichten eher nicht antrifft: Der Humor.

Wie jetzt, der Humor? Was soll das bedeuten?

Das bedeutet, dass ihr euch beim Folgenden ein wenig auf sati­rische Seitenhiebe und schrullige Darstellungen unserer Helden gefasst machen müsst. Jo Soares ist nun einmal Humorist, und so, wie wir das hierzulande von Comedians kennen, nehmen sie einfach ALLES aufs Korn. Hier haben wir also einen Humoristen, der sich des Themas Sherlock Holmes annimmt.

Erleidet er damit Schiffbruch? Das ist schwer zu sagen. Ich schlage vor, ihr schaut einfach mal weiter:

Sherlock Holmes in Rio

(OT: O Xangô de Baker Street)

von Jo Soares

Insel Verlag, 1997

324 Seiten, geb.

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner

ISBN 3-458-16840-0

Man schreibt das Jahr 1886, Brasilien ist noch strahlendes Kai­serreich unter Dom Pedro II., und im Mai dieses Jahres ist die ge­feierte, strahlende französische Schauspielerin Sarah Bernhardt nach Südamerika gekommen, um mit ihrem Ensemble die „Ka­meliendame“ zu geben, das Stück, das sie weltberühmt ge­macht hat. Durch einen Zufall ergibt es sich, dass der Regent, ein großer Bewunderer ihrer Kunst, mit Bernhardt auf ein Thema zu sprechen kommt, das ihn umtreibt und verlegen macht: Kürz­lich hat ein Unbekannter eine kostbare Stradivari, die er seiner einstmaligen Geliebten, der Baronin de Avaré geschenkt hat, entwendet. Er fürchtet nun, dies könne Stadtgespräch werden, was insbesondere die kaiserliche Gattin erzürnen würde.

Nun, Sarah Bernhardt weiß Rat. Sie meint, er könne doch einen ihrer guten Freunde zu Hilfe rufen, einen brillanten englischen Detektiv, Sherlock Holmes. Dieser Mann könne den Fall fraglos im Handumdrehen lösen. Sie hat keine Ahnung davon, dass ge­nau das Gegenteil der Fall sein wird.

Während Sherlock Holmes und sein Kompagnon Dr. John Watson der Einladung des brasilianischen Kaisers Folge leisten, ent­puppt sich der unbekannte Geigenräuber zudem auch noch als blutrünstiger Mörder, der die grässliche Angewohnheit hat, den Opfern – allesamt schöne, junge Frauen, aber unterschiedlichs­ten Lebenswandels, die keine Gemeinsamkeiten bis auf ihr Ge­schlecht besitzen – die Ohren abzuschneiden und sie in zuneh­mendem Maße zu verstümmeln. Außerdem hinterlässt er am Tatort immer eine Geigensaite.

Holmes beginnt, zusammen mit dem Kommissar Mello Pimento zu recherchieren, wer wohl der „serial killer“ (ein Begriff, der angeblich Holmes auch einfach so kommt …) ist, und er stößt hierbei schnell an die Grenzen seiner deduktiven Fähigkeiten. Wohl benebelt durch die Fremdartigkeit der südlichen Welthemi­sphäre und irritiert davon, dass seine Intuition ihn beharrlich in die Irre führt, verliert der Detektiv mehr und mehr die Conte­nance … und schließlich lernt er hier die bezaubernde, grünäu­gige Mulattin Anna Candelaria kennen, ganz zu schweigen vom Marihuana. Danach versinken die Ermittlungen völlig in Wirrnis. Aber das blutrünstige Phantom hat von seinen Plänen natürlich nicht abgelassen …

Der brasilianische Schriftsteller, Komödiant und Humorist Jo Soares, 1938 in Rio de Janeiro geboren, legt mit diesem „spritzi­gen Krimi“ eine etwas gewöhnungsbedürftige und bizarre Er­gänzung zum Kanon der Sherlock-Holmes-Geschichten hinzu, die man an vielen Stellen wirklich nicht bierernst lesen darf.

Ob es darum geht, dass Holmes im Marihuana-Rausch abenteu­erliche Farben in den Tapeten seines Hotelzimmers entdeckt, seiner angebeteten Anna die Architektur von Parkanlagen nebst historischer Herleitung als eine Form von Liebesgedicht verehrt bzw. John Watson als Erfinder des Caipirinha (wohlgemerkt: Aus rein medizinischen Gründen!) in die Geschichte eingeht, ob es um eine weibliche Mumie geht, in deren direkter Nähe alle Frau­en vorzeitige Menstruationsblutungen erleiden …

Es gibt hier so manches, worüber man stolpert, und wäre ich des Französischen und Portugiesischen mehr mächtig oder ver­fügte ich über ähnlich fundierte Kenntnisse in Theater und ho­her Literatur wie der Autor, so würden sicher noch mehr ver­steckte, freche Anspielungen und Abwandlungen erkennbar werden. Die Art und Weise, wie Soares seine dramatis personae einführt, deutet jedenfalls stark darauf hin, dass er sich mit Theaterstücken ausgezeichnet auskennt.

Das Erstlingswerk entpuppt sich also als eine Art Komödie mit blutrünstigen Zutaten, wenngleich die einzelnen Handlungen manchmal doch sehr gestellt und bisweilen gezwungen wirken. Besonders unangenehm fällt auf, wie ausgesprochen deppen­haft Dr. Watson dargestellt wird, eher als eine Art von Stan Lau­rel, was ihm überhaupt nicht gerecht wird, wenn man das Origi­nal kennt. Auch Holmes dient Jo Soares mehr als Vehikel für mit­unter schrullige Scherze, und ganz der tapsige ausländische Tourist (der amüsanterweise für einen Portugiesen gehalten wird, fragt mich nicht nach dem Grund!), und das kann dem wahren Holmesianer doch das Magengrimmen bescheren.

Wer hingegen die Sache nicht gar so ernst nimmt und einiges über das kaiserzeitliche Brasilien und die Struktur der Haupt­stadt lernen möchte, der ist hier am rechten Fleck. Amüsement und äußerst kurzweilige Unterhaltung ist in diesem Fall garan­tiert.

© 2006 by Uwe Lammers

So, genug gekichert oder euch empört (je nachdem, wie ernst ihr die Holmes-Geschichten eben nehmt). Die Vorstellung ist vorbei, der Vorhang ist gefallen, und ich entschwinde bis zur nächsten Woche, wo wir in die ruhigeren Gewässer erotischer Literatur zurückkehren.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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