Rezensions-Blog 416: London Road: Geheime Leidenschaft

Posted August 9th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

welcome back in den „Edinburgh Love Stories“ von Samantha Young. Vor vier Wochen begann ich mit der Berichterstattung dieses Romanzyklus, der zwar prinzipiell in sich abgeschlossene Romane beinhaltet, aber aufgrund des überlappenden Personal­settings doch besser in der vom Verlag und mir vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden sollte.

Ursprünglich, gebe ich freimütig zu, habe ich den Roman unter dem Einfluss der Vorstellung gelesen, es handele sich im Kern um ein erotisches Werk. Das ist nicht vollkommen falsch, wird aber den darin verborgenen sozialen Aspekten gesellschaftli­cher Natur überhaupt nicht gerecht. Während erotische Romane sich zumeist tunnelblickartig auf „das Eine“ in diversen Variatio­nen verengen, geschieht hier etwas vollkommen anderes.

Hier lernen wir komplexe, reale Menschen mit sehr bodenständi­gen Nöten und inneren Zerrissenheiten kennen und die biswei­len höchst problematischen emotionalen Zwickmühlen, in die sie geraten. Das ist hier besonders bei der weiblichen Hauptper­son Johanna Walker der Fall, die sich in eine gesellschaftliche Ausnahmesituation hineingesteuert hat und nun von ihren Hor­monen völlig in die Gegenrichtung gelenkt wird.

Wie das genau ausschaut? Seht es euch mal näher an:

London Road: Geheime Leidenschaft

(OT: Down London Road)

von Samantha Young

Ullstein 28598

512 Seiten, TB

Juni 2013, 9.99 Euro

Aus dem Englischen von Sibylle Uplegger

ISBN 978-3-548-28598-6

Johanna Walker lässt sich von den Menschen, die sie kennen, üblicherweise nur Jo nennen, und mit diesem Kurznamen trat die hoch gewachsene Blondine auch im ersten Band der „Edinburgh Love Stories“ von Samantha Young bereits als Ne­benperson in Erscheinung. Dort versuchte sie schamlos, den rei­chen Jungunternehmer Braden Carmichael anzugraben, der schließlich aber das Herz ihrer Kollegin Jocelyn Butler, genannt Joss, schließlich nach hartem Kampf eroberte. Während Jo und Joss als Kolleginnen in der Bar „Club 39“ hinter der Theke zu­sammenarbeiten, macht Jo in der Regel aus ihrem Leben ein großes Geheimnis. Sie hat verdammt gute Gründe dafür.

Was sie nach außen zeigt, ist eine reichlich unsympathische Fas­sade – die einer jungen, unablässig flirtenden Frau, die ständig auf der Suche nach einem reichen Mann ist, der ihr Leben finan­ziert. In diesem Fall hat sie sich Malcolm Hendry geangelt, der ganz ihrem „Beuteschema“ zu entsprechen scheint. Aber wäh­rend sie mit ihm schläft, hat sie zugleich Geheimnisse vor ihm.

Zwar weiß er, dass es Jos Mutter schlecht geht, weswegen sie sich um sie kümmern muss. Und er weiß auch von Cole, Johan­nas jüngerem und noch minderjährigen Bruder. Aber Malcolm hat sie nie getroffen. Und das gilt auch für die lange Reihe von Männern, mit denen die 24jährige Johanna bislang zusammen war. Die längste Beziehung dauerte drei Jahre … aber es gibt einfach Dinge, von denen sie überzeugt ist, dass sie sich nie­mals ändern. Und selbst ihre beste Freundin Joss hat lange ge­braucht, bis sie ein paar Details herausfand.

Als Johanna nun mit Malcolm eine Kunstausstellung der Künstle­rin Becca besucht, kommt es gleich auf zweifache Weise zu ei­ner dramatischen Entwicklung, die sich nach und nach immer weiter aufschaukelt: Becca ist Malcolms Ex. Das an sich wäre nicht so schwierig … aber da ist Beccas neuer Freund Cameron McCabe – das exakte Gegenteil eines Mannes, der Jo irgendwie anziehen könnte. Er wirkt mit seinen Tattoos und dem ruppigen Gebaren eher wie ein nicht ganz erwachsen gewordener Halb­starker, und Jo redet sich sofort ein, sie sei doch überhaupt nicht an ihm interessiert, umso weniger, als sich bald erweist, dass er quasi mittelloser Grafikdesigner und auf Jobsuche ist. Abgesehen davon ist Jo doch fest mit Malcolm liiert, nicht wahr? Und es gibt keinerlei Grund, sich anderweitig umzuschauen, si­cherlich nicht bei einem Underdog gleich ihr …

Aber warum herrscht quasi augenblicklich eine unfassbar prickelnde Spannung zwischen Cam und ihr? Das verunsichert Jo zutiefst. Und das wird noch schlimmer, als sie ihm mehr aus Goodwill heraus einen Barkeeper-Job im „Club 39“ an ihrer Seite beschafft, damit er ein Einkommen hat. Dass Cameron und Mal­colm befreundet sind, macht die Lage nicht einfacher … und diese prickelnde Anziehungskraft will und will einfach nicht auf­hören.

Dass Cameron sie als „geldgeiles und untreues Luder“ einstuft, das nur auf Pump leben will, verletzt sie, aber auf der anderen Seite: das ist doch genau das Image, das Johanna nach außen aufgebaut hat, die stählerne Wehr, die jeden auf Abstand hält und besonders von ihrem Zuhause fernhält. Von ihrer kleinen Fluchtwelt, die sie sich mit ihrem Bruder Cole und ihrer abge­wrackten Mutter aufgebaut hat.

Denn sie kann niemandem erzählen, dass ihre Mutter hoff­nungslos dem Alkohol verfallen ist und zwischen moderatem Gleichmut und beleidigender Schroffheit ständig wechselt. Und dass Johanna den 14jährigen Cole in ihrer Obhut zurücklassen muss, um das Geld zum Lebensunterhalt aufzutreiben, ahnt auch so niemand.

Doch schließlich beginnt Cameron zu erkennen, dass sie deut­lich komplexer ist, als es seine Vorurteile gestatten … und als­bald möchte er sie näher kennen lernen. Bloß, wie soll das ge­hen? Er ist in einer Beziehung mit Becca, und sie braucht die Beziehung zu Malcolm dringend, um neben ihren zwei (!) Jobs halbwegs über die Runden zu kommen.

Als sie sich näher kennen lernen, loten sie beide die Abgründe hinter ihren sorgsam verborgenen Biografien aus und nähern sich unvermeidlich immer mehr an. Doch schließlich holen die grässlichen Schatten der Vergangenheit Johanna Walker und ebenso Cameron McCabe ein und drohen, alles zu zerstören, was sie sich aufgebaut haben. Die Zukunft scheint jählings ganz unmöglich zu werden …

Ich mag es, wenn ein Romanzyklus nicht von Band zu Band kür­zer wird, sondern von Band 1 zu Band 2 noch mal deutlich an Umfang zulegt. Dass ich dieses Mal 4 Tage für die Lektüre brauchte, besagt nicht, dass der Band sich schlechter lesen lie­ße – ich war lediglich abgelenkt. Es handelte sich wieder einmal um ein ausgesprochenes Lesevergnügen, aus dem ich nur un­gern wieder auftauchen wollte.

Zwar ist es immer noch gewöhnungsbedürftig, dass die Romane nach Straßen in Edinburgh einigermaßen phantasielos benannt sind (die meiste Zeit dieses Romans spielt etwa überhaupt nicht in der London Road, und um die Straße selbst geht es sowieso nicht), auch passte diesmal der Untertitel „Geheime Leiden­schaft“ wieder mal nur bedingt … aber wer darüber hinweg­sieht, bekommt eine beeindruckende Studie zu lesen, die von problematischen Kindheitsverhältnissen, häuslicher Gewalt und Drogenabhängigkeit sowie psychischer Deformation kündet und was sie aus Menschen machen kann. Danach konnte ich Alkohol noch weniger leiden als ohnehin schon.

Es ist definitiv schon was dran an der sinngemäßen Aussage von Keira Knightley in „Fluch der Karibik 1“, dass Alkohol auch aus den respektabelsten Menschen prinzipienlose Schur­ken mache. Das ist im vorliegenden Fall noch sehr zahm gespro­chen.

Ja, Johanna bekommt die Kurve – es ist immerhin ein ausdrückli­cher Liebesroman, nicht wahr? Aber der Weg dorthin ist biswei­len recht steinig und anstrengend, gesäumt von zahlreichen Trä­nen, Streitigkeiten und auch physischen Verletzungen. Doch auch von diesem zweiten Roman ihres Zyklus, in dem witziger­weise die Hauptpersonen des Vorromans als wichtige Nebenper­sonen in Erscheinung treten, war ich nachhaltig beeindruckt.

Ach ja, und ehe ich das vergesse: die Protagonisten des dritten Romans „Jamaica Lane“ (hier ständig „Jamaica Street“ falsch geschrieben!), Olivia und Nate, geben sich auch schon zu erken­nen. Der sozialbiografische Kosmos in Edinburgh dehnt sich also weiter aus. Ich bin gespannt, was als nächstes folgen wird. Wer den ersten Roman der Reihe verschlungen hat, wird von dem hier auf keinen Fall enttäuscht werden können.

© 2019 by Uwe Lammers

Nächste Woche kommen wir mal wieder in die beliebte Schiene der Sherlock Holmes-Abenteuer. Doch diesmal ist es erneut ein Epigone, der ihn und Dr. Watson nach Österreich entführt.

Nähere Einzelheiten werden nächste Woche verraten.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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